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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Psychische und psychosomatische Erkrankungen von Beschäftigten – zur Qualität der Zusammenarbeit an den Schnittstellen der Versorgung

Meeting Abstract

  • Martina Michaelis - FFAS - Freiburger Forschungsstelle Arbeits- und Sozialmedizin und Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen / Freiburg, Deutschland
  • Florian Junne - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland
  • Eva Rothermund - Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • Harald Gündel - Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • Stephan Zipfel - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland
  • Rahna Shahriari - Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Deutschland
  • Monika A. Rieger - Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV13

doi: 10.3205/15dkvf030, urn:nbn:de:0183-15dkvf0304

Published: September 22, 2015

© 2015 Michaelis et al.
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Text

Hintergrund: Die Prävention psychischer und psychosomatischer Erkrankungen (PPE) in der Arbeitswelt wird zunehmend bedeutsamer. Arbeitsplatzbezogene Präventions-, Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen sind Beispiele für überlappende Arbeitsgebiete von Betriebsärzten (BÄ) und Hausärzten (HÄ). Auch für die Arbeit von Psychotherapeuten (PT) sind Kenntnisse über die Arbeitsbedingungen ihrer Klienten bedeutsam. Allerdings existiert hierzulande erfahrungsgemäß eine Kooperation dieser Berufsgruppen an den „Schnittstellen“ lediglich in Ansätzen.

Um die Erfahrung der Zusammenarbeit mit der jeweils anderen Berufsgruppe zu quantifizieren, wurden drei entsprechende Stichproben im Juli 2014 im Rahmen unserer Studie „PHOEBE“ in Baden-Württemberg befragt.

Fragestellung: Wie häufig hatten die Befragten in den letzten zwei Jahren wegen der PPE eines Patienten bzw. Beschäftigten Kontakt mit Angehörigen der jeweils anderen Berufsgruppe? Welche Gründe dominieren bei nicht zustande gekommenen Kontakten? Wie wird die Zusammenarbeit insgesamt bewertet? Wird eine Zusammenarbeit gewünscht?

Methode: Der selbst konstruierte standardisierte Fragebogen wurde postalisch 450 BÄ (VDBW; Vollerhebung), 1.000 HÄ und 700 PT (jeweils Zufallsstichprobe, KV-Datenbank) überreicht. Neben der Frage nach einem jemals erfolgten Kontakt im Zusammenhang mit einer PPE wurde die Anzahl der entsprechenden Patienten/Beschäftigten und die insgesamt bzw. selbst initiierten Kontakte in den letzten zwei Jahren erfasst. Für nicht erfolgreiche Eigeninitiativen wurden standardisiert mögliche Barrieren ermittelt.

Die Auswertung erfolgte deskriptiv und explorativ gruppenvergleichend (CHI2- bzw. Mann-Whitney U-Tests nach „Kontaktpaaren“ (z.B. BÄ->HÄ und umgekehrt; jeweilige Effektstärke: Korrelationskoeffizient „phi“ bzw. „w“= n/wurzel(Fallzahl); <0.3 geringe, 0.3-0.49 moderate, ≥0.5 hohe Effektstärke).

Ergebnisse: Der Fragebogenrücklauf betrug bei BÄ 30% (n=133), bei HÄ 14% (n=136) und bei PT 27% (n=186). Mindestens 75% der BÄ hatte wegen der PPE eines Patienten bzw. Beschäftigten schon einmal Kontakt mit einem Hausarzt oder einen Psychotherapeuten. Umgekehrt galt dies für rund 1/3 der HÄ und der PT. Kontakterfahrungen mit einem Hausarzt berichteten 3/4 der PT (umgekehrt rund 50%). Bezogen auf die letzten zwei Jahre waren dies im Median maximal 4 Patienten/Beschäftigte.

Mehrheitlich wurden Kontaktversuche beschrieben, die von den Befragten selbst ausgingen. Bei fast allen HÄ und PT waren sie bei Betriebsärzten auch erfolgreich; umgekehrt konnten die BÄ die niedergelassenen HÄ und PT nur in drei Viertel der Fälle erreichen.

Die standardisiert vorgegebenen Gründe der Nichterreichbarkeit bzw. eines zu hohen Zeitaufwands bei nicht erfolgreichen Kontaktversuchen wurden jeweils nur zu geringen Anteilen angegeben (maximal 15%; Ausnahme: 33% HÄ-PT). Auch das Nichteinverständnis von Beschäftigten für einen Austausch zwischen BÄ und HÄ bzw. PT spielte nur eine geringe Rolle (13 bzw. 17%).

Insgesamt wurde die Zusammenarbeit mit HÄ in den letzten zwei Jahren von 38% der BÄ mit Kontaktversuchen mit den Schulnoten 1 oder 2 beurteilt (umgekehrt 69%; p=0,029, w=0,17), die Zusammenarbeit mit PT entsprechend von 63% (umgekehrt 53%, nicht signifikant). 53% der HÄ beurteilte die Zusammenarbeit mit PT positiv (umgekehrt 75%, nicht signifikant). Nahezu alle Akteure hielten eine bessere bilaterale Zusammenarbeit für „eher“ oder „sehr wichtig“.

Diskussion: Initiative Hausarztkontakte wegen der PPE eines Beschäftigten gehören für Betriebsärzte mehrheitlich zum Tätigkeitsbereich; problematisch scheint die Erreichbarkeit der Hausärzte – und insbesondere auch der Psychotherapeuten – im Bedarfsfall. Entsprechend wenig positiv sehen BÄ die jeweiligen Beziehungen. Niedergelassene Akteure der Versorgung suchen den Kontakt zu einem Betriebsarzt deutlich seltener, erreichen ihn dann aber auch deutlich besser. Angesichts des mehrfach höheren Anteils von HÄ im Vergleich zu BÄ in der Grundgesamtheit ist eine Kontakterfahrung von 1/3 der HÄ und 3/4 der BÄ plausibel. Aufgrund des geringen Rücklaufs in der HÄ-Stichprobe besteht allerdings auch die Gefahr der Prävalenzüberschätzung.

Ebenfalls kritisch zu diskutieren ist neben dem bekannten Zeitmangel im beruflichen Alltag von Niedergelassenen die Frage unterschiedlicher Einstellungen („Wie bedeutsam wird eine Zusammenarbeit generell gehalten?“) und Antworten im Sinne einer sozialen Erwünschtheit angesichts von Deckeneffekten beim Wunsch nach besserer Zusammenarbeit in allen Berufsgruppen.

Praktische Implikationen: Angesichts der häufig hohen Interaktion zwischen beruflichen Kontexten und der Entstehung bzw. Aufrechterhaltung einer PPE ist eine unzureichende Zusammenarbeit der untersuchten Akteure ein ernstzunehmendes Problem in der Versorgungskette. Zu diskutieren wären Sensibilisierungs- und Aufklärungsstrategien für Niedergelassene zur Relevanz der Arbeitswelt bei PPE, aber u.U. auch organisatorische Verbesserungen hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit.