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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Vom Befund zum Programm – Zielgruppenspezifische Prävention im kommunalen Setting am Beispiel Alleinerziehender

Meeting Abstract

  • Matthias Franz - Universitätsklinikum Düsseldorf, Klinisches Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Geb. 15.16, Düsseldorf, Deutschland
  • Dirk Rampoldt - Walter Blüchert Stiftung, wir2 Bindungstraining, Düsseldorf, Deutschland
  • Daniel Hagen - Walter Blüchert Stiftung, wir2 Bindungstraining, Düsseldorf, Deutschland
  • Ralf Schäfer - Universitätsklinikum Düsseldorf, Klinisches Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Geb. 15.16, Düsseldorf, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV12

doi: 10.3205/15dkvf029, urn:nbn:de:0183-15dkvf0299

Published: September 22, 2015

© 2015 Franz et al.
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Hintergrund: Etwa 20% aller Familien in Deutschland sind Einelternfamilien, 90% der 1,6 Mio. Alleinerziehenden mit Kindern unter 18 Jahren sind Mütter. Zahlreiche Studien belegen nicht nur ein größeres Armutsrisiko, sondern auch höhere Risiken für gesundheitliche und psychische Beeinträchtigungen bei alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern. Dies gilt besonders für depressionstypische Beschwerden, die bei alleinerziehenden Müttern um das 2- bis 3-fache erhöht sind und sich auch auf die kindliche Gesundheit und Entwicklung nachteilig auswirken können. Relevante Risikofaktoren sind hier Armut, beeinträchtigte Elternkompetenzen, familiäre Gewalt und Hochstrittigkeit mit dem ehemaligen Partner. Zur präventiven Minderung dieser langfristig wirksamen Risiken wurde das Elterntraining wir2 (http://www.wir2-bindungstraining.de/) für alleinerziehende Mütter mit Kindern im Vor- und Grundschulalter entwickelt und in einem komplexen Prozess in der kommunalen Routineversorgung etabliert.

Fragestellung: Ist es möglich und welches sind die Erfolgsfaktoren dafür, ein bedarfsorientiertes, wissenschaftlich evaluiertes Interventionsprojekt für die hochbelastete Zielgruppe der Alleinerziehenden in ein präventives Unterstützungsprogramm der Routineversorgung innerhalb des kommunalen Settings zu transformieren.

Methode: Bei wir2 handelt sich um ein bindungstheoretisch fundiertes, emotionszentriertes manualisiertes Gruppenprogramm, das mit 10 bis 15 alleinerziehenden Müttern über 20 wöchentliche Sitzungen hinweg von speziell geschulten Gruppenleitern/innen im kommunalen Setting durchgeführt wird. Es gliedert sich in vier aufeinander aufbauende themenzentrierte Module (Mutter, Kind, Elternschaft, Alltag). Die Untersuchung der Wirksamkeit des Programms erfolgte in einer randomisierten, kontrollierten Interventionsstudie mittels eines varianzanalytischen Modells und der Messinstrumente SCL-90-R, SF-12, BSS, SEE, SDQ und FbMKB. Die Umsetzung des drittmittelgeförderten Projekts in ein bundesweit verfügbares Programm der kommunalen Routineversorgung erfolgte mit Hilfe aufwändiger Qualitätskontrollen und gestufter Kooperationsmodelle.

Ergebnisse: Im Vergleich zur Wartekontrollgruppe zeigte sich bei den Müttern der Interventionsgruppe eine signifikante Verbesserung der Depressivität, der Somatisierung und der generellen psychischen Belastung. Zudem zeigten sich eine Verbesserung des subjektiv wahrgenommenen Gesundheitszustands sowie verbesserte emotionale Kompetenzen. Auch das kindliche Problemverhalten reduzierte sich. Die Effekte blieben über den Zeitraum von 12 Monaten nach der Intervention stabil.

Diskussion: Die Ergebnisse der Evaluationsstudie belegen, dass wir2 ein effektives und nachhaltiges Präventionsprogramm zur Reduktion von Depressivität und psychischer Belastung sowie zur Steigerung des Wohlbefindens alleinerziehender Mütter darstellt. Wichtige Erfolgsfaktoren der Programmverbreitung waren eine klare Zielgruppenorientierung, diesbezüglich quantitativ beschreibbare psychosozialen Belastungen und Bedarfslagen, ein theoretisch fundiertes Interventionskonzept, dessen Manualisierung, die wissenschaftliche Evaluation der Interventionseffekte, die Entwicklung eines strukturierten Schulungscurriculums für das Training von Multiplikatoren zur Absicherung der Methodenadhärenz, die Kooperation mit kommunalen und institutionellen Partnern zur Überwindung der erheblichen Systembarrieren.

Praktische Implikationen: Aufbauend auf den bisher geleisteten Schritten wird das Elterntraining wir2 derzeit mithilfe der gemeinnützigen Walter Blüchert Stiftung zu einem praxistauglichen Präventionsprogramm weiterentwickelt und gemeinsam mit kommunalen und institutionellen Kooperationspartnern bundesweit realisiert. Da der stetig anwachsende Bevölkerungsanteil der alleinerziehenden Mütter zu den für Städte und Kommunen kostenintensivsten Gruppen der frühen Familienhilfen gehört, bietet wir2 nicht nur die Möglichkeit die psychischen Beeinträchtigungen alleinerziehender Mütter und ihrer Kinder zu vermindern, sondern auch die damit verbundenen finanziellen Belastungen von Städten und Kommunen (ambulante/stationäre Behandlungen, Arbeitsausfälle, mögliche spätere Fremd- und Heimunterbringung und Folgeerkrankungen bei den Kindern usw.) präventiv zu reduzieren. Eine Umsetzung einer kostenreduzierenden Versorgungskette präventiver Maßnahmen, in welche wir2 integriert wurde, erfolgt beispielsweise in Dormagen im Rahmen des „Dormagener Modells“, wo in der praktischen Umsetzung auch die positiven Auswirkungen auf kommunale Folgekosten bestätigt werden konnten.