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Nachbefragung junger Erwachsener, die im Kindesalter wegen schwerer Sprachentwicklungsstörung behandelt worden waren, zur sozialen und beruflichen Integration sowie zur aktuellen sprachlichen Symptomatik
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Published: | September 14, 2018 |
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Zusammenfassung
Hintergrund: Kinder mit spezifischen/umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen (SSES/USES), die über die Einschulung hinaus bestehen, erleben in der Schule trotz zumindest normaler nonverbaler Intelligenz aufgrund der hohen verbalen Anforderungen oft Probleme. Aktuell besteht wenig Wissen über die sprachliche, soziale und berufliche Entwicklung dieser Kinder. Der Schwerpunkt (SP) Kommunikationsstörungen der HNO-Universitätsmedizin Mainz bietet seit mehr als 40 Jahren eine stationäre Sprachintensivtherapie für Kinder mit SES an. Wir befragten junge Erwachsene, die als Kind wegen SSES im SP Kommunikationsstörungen therapiert wurden, zur weiteren Entwicklung.
Material und Methoden: Die Daten von 388 Kindern, welche in den Jahren 1998 bis 2005 wegen einer SSES stationär im SP Kommunikationsstörungen therapiert worden waren, wurden erfasst. Die heute zwischen 18 und 25 Jahre alten jungen Erwachsenen wurden telefonisch kontaktiert und mittels eines strukturierten Interviews zur sozialen und beruflichen Integration sowie Aspekten der sprachlichen Entwicklung befragt.
Ergebnisse: Bei 90 der 388 Patienten (Mittelwert 19,58 Jahre, 63 männlich, 27 weiblich) konnte eine vollständige Befragung mittels strukturierter Interviews erfolgen. 60% der Probanden hatten 3 Jahre oder länger logopädische Therapie. Nur 1 ehemaliger Patient (1%) hat keinen Schulabschluss (34% Abitur/Fachabitur, 33% Realschulabschluss, 29% Hauptschulabschluss). 80% gaben an, dass Sprachprobleme kein Hindernis für eine berufliche Anstellung waren, 67% empfanden aktuell keine sprachliche Beeinträchtigung mehr.
Diskussion: Die wenigen bisher vorliegenden Studien kamen zu dem Schluss, dass Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen in Schulabschlussprüfungen im nationalen Vergleich schlechter abschnitten. Unterschiede in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität konnten bei (finnischen) Kindern nicht gefunden werden.
Insbesondere die in unserer Untersuchung hohe Anzahl an Probanden mit abgeschlossener Schulausbildung, welche im Vergleich zur gleichaltrigen „Normalbevölkerung“ (Nationaler Bildungsbericht 2016) in der Verteilung nur bezüglich des höheren Anteils an Hauptschulabsolventen (29 vs. 18%) differiert, erscheint positiv.
Fazit: Durch eine frühe Erkennung und gezielte intensive Therapie von Sprachentwicklungsstörungen im Kindesalter lässt sich die spätere soziale und schulische Entwicklung der Kinder positiv beeinflussen.
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Hintergrund
Kinder mit spezifischen/umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen (SSES/USES), die über die Einschulung hinaus bestehen, erleben in der Schule trotz zumindest normaler nonverbaler Intelligenz aufgrund der hohen verbalen Anforderungen oft Probleme [1], [2]. Aktuell besteht wenig Wissen über die sprachliche, soziale und berufliche Entwicklung dieser Kinder. Der Schwerpunkt (SP) Kommunikationsstörungen der HNO-Universitätsmedizin Mainz bietet seit mehr als 40 Jahren eine stationäre Sprachintensivtherapie für Kinder mit SES an. Kinder ab dem 5. Lebensjahr können, verteilt über 2 Jahre, bis zu 11 Wochen von einem Team aus Logopäden, Wahrnehmungstherapeuten, Audiologen und Psychologen stationär behandelt werden. Hierzu zählen auch die eingehende Information und Einbindung der Eltern in das Therapiekonzept sowie eine Hilfestellung im Finden einer geeigneten Schulform und der bestmöglichen ambulanten Fördermöglichkeiten.
Wir befragten junge Erwachsene, die als Kind wegen SSES im SP Kommunikationsstörungen therapiert wurden hinsichtlich ihrer weiteren Entwicklung.
Material und Methoden
Die Daten von 388 Kindern, welche in den Jahren 1998 bis 2005 wegen einer SSES stationär im SP Kommunikationsstörungen therapiert worden waren, wurden erfasst. Die heute zwischen 18 und 25 Jahre alten jungen Erwachsenen wurden telefonisch kontaktiert und mittels eines strukturierten Interviews zur sozialen und beruflichen Integration sowie Aspekten der sprachlichen Entwicklung befragt. Kinder mit einer Lernbehinderung/geistigen Behinderung wurden aus der Studie ausgeschlossen. Kinder mit einer durch Hörhilfen versorgten Schwerhörigkeit wurden in die Studie eingeschlossen.
Ergebnisse
Bei 90 der 388 Patienten (Mittelwert 19,58 Jahre, 63 männlich, 27 weiblich) konnte eine vollständige Befragung mittels strukturierter Interviews erfolgen. Hiervon wiesen 20 Probanden (22,2%) eine mit Hörhilfen versorgte Schwerhörigkeit auf. Über 60% der Probanden hatten 3 Jahre oder länger logopädische Therapie erhalten (keine Logopädie: 1%; < 1;00 Jahr: 5,6%; 1;01-3;00 Jahre: 31,1%; 3;01-5;00 Jahre: 22,3%; > 5;01 Jahre 40%). Die logopädische Therapie begann im Mittel mit 4;03 Jahren (Standardabweichung 1;07Jahre). 52% der Befragten wurden mit 6 Jahren und 47% mit 7 Jahren (1% mit 5 Jahren) eingeschult. 34,4% der Befragten haben eine Klasse wiederholt (2,2% zweimal, 1,1 % dreimal, 62,2% nicht wiederholt). 45,6% der Befragten besuchten durchgehend die Regelgrundschule (30% Sprachheilschule/Regelgrundschule, 13,4% Förderschule Kommunikation-Sprache/Regelgrundschule, 5,4% Schwerhörigenschule, 2,2% Förderschule geistige Entwicklung, 3,3% andere Schulen). Nur 1 ehemaliger Patient (1,1 %) hat keinen Schulabschluss (31,5% Abitur/Fachabitur, 33,7% Realschulabschluss, 29,2% Hauptschulabschluss, 4,5% sonderpädagogischer Abschluss). 79,6% (n=43) der Befragten gaben an, dass Sprachprobleme kein Hindernis für eine berufliche Anstellung waren, wobei diese Frage von nur 54 Probanden beantwortet wurde, da sich der überwiegende Anteil der Probanden noch in Ausbildung befindet. 66,7% der Befragten (n=90) gaben an, in ihrem sozialen Umfeld nicht auf Sprachprobleme angesprochen zu werden. Ebenso viele Probanden (66,7%) empfinden subjektiv keine sprachliche Beeinträchtigung mehr. 85,6% der Befragten beantworteten die Frage, ob sie sich aktuell noch sprachlich benachteiligt fühlen, mit „nein“.
Diskussion
In den wenigen bisher vorliegenden Studien konnte gezeigt werden, dass Kinder mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung mehr Schulprobleme haben, als gleichaltrige Kinder ohne Sprachentwicklungsstörung [1], [2], [3]. In einer englischen Studie von Conti-Ramsden et al. [4] schnitten Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen in Schulabschlussprüfungen im nationalen Vergleich schlechter ab als Kinder ohne Sprachentwicklungsstörung. Fast ein Viertel der Kinder mit Sprachentwicklungsstörung wurden hier nicht zur Abschlussprüfung zugelassen. Die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen hingegen ein deutlich positiveres Bild. Nur 1% (1 Proband) der jetzt jungen Erwachsenen gab an, keinen Schulabschluss zu haben. Die überwiegende Mehrheit der Befragten empfand weder im beruflichen noch im sozialen Umfeld Benachteiligungen durch sprachliche Einschränkungen. Dies steht im Einklang mit einer Studie von Arkkila et al., die keine Unterschiede in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Kindern mit und ohne Sprachentwicklungsstörung nachweisen konnten [5].
Insbesondere die in unserer Untersuchung hohe Anzahl an Probanden mit abgeschlossener Schulausbildung (99%), welche sogar im Vergleich zur gleichaltrigen „Normalbevölkerung“ erheblich geringer ist (Nationaler Bildungsbericht 2018: Schulabgänger ohne Abschluss 6,1%, mit Hauptschulabschluss 16,9%, mit mittlerem Abschluss 45%, mit Abitur 34,7%) erscheint positiv [6], auch wenn wir nur solche Patienten befragten, bei denen eine mindestens normale Intelligenz vorlag.
Fazit/Schlussfolgerung
Durch eine frühe Erkennung und gezielte individuelle und intensive Therapie von Sprachentwicklungsstörungen im Kindesalter lässt sich die spätere soziale und schulische Entwicklung der Kinder positiv beeinflussen.
Literatur
- 1.
- Durkin K, Simkin Z, Knox E, Conti-Ramsden G. Specific language impairment and school outcomes. II: Educational context, student satisfaction, and post-compulsory progress. Int J Lang Commun Disord. 2009 Jan-Feb;44(1):36-55. DOI: 10.1080/13682820801921510
- 2.
- Beitchman JH, Wilson B, Brownlie EB, Walters H, Lancee W. Longterm consistency in speech/language profiles: I. Developmental and academic outcomes. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 1996 Jun;35(6):804-14. DOI: 10.1097/00004583-199606000-00021
- 3.
- Conti-Ramsden G, Durkin K, Toseeb U, Botting N, Pickles A. Education and employment outcomes of young adults with a history of developmental language disorder. Int J Lang Commun Disord. 2018 Mar;53(2):237-255. DOI: 10.1111/1460-6984.12338
- 4.
- Conti-Ramsden G, Durkin K, Simkin Z, Knox E. Specific language impairment and school outcomes. I: identifying and explaining variability at the end of compulsory education. Int J Lang Commun Disord. 2009 Jan-Feb;44(1):15-35. DOI: 10.1080/13682820801921601
- 5.
- Arkkila E, Räsänen P, Roine RP, Sintonen H, Saar V, Vilkman E. Health-related quality of life of adolescents with childhood diagnosis of specific language impairment. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2009 Sep;73(9):1288-96. DOI: 10.1016/j.ijporl.2009.05.023
- 6.
- Autorengruppe Bildungsberichterstattung, editors. Bildung in Deutschland 2018. 2018. Online verfügbar unter: https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2018/pdf-bildungsbericht-2018/bildungsbericht-2018.pdf