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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Persistieren einer verbalen Entwicklungsdyspraxie bis in das Erwachsenenalter – ein Fallbericht

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Erik Wessolleck - Phoniatrie und Pädaudilogie der HNO-Klinik des Universitätsklinikums Essen, Essen, Deutschland
  • author Gaby Hindrichs - Phoniatrie und Pädaudilogie der HNO-Klinik des Universitätsklinikums Essen, Essen, Deutschland
  • author Stephan Lang - HNO-Klinik des Universitätsklinikums Essen, Essen, Deutschland
  • author Sonja Dockter - Phoniatrie und Pädaudilogie der HNO-Klinik des Universitätsklinikums Essen, Essen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP12

doi: 10.3205/16dgpp21, urn:nbn:de:0183-16dgpp217

Published: September 8, 2016

© 2016 Wessolleck et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die verbale Entwicklungsdyspraxie (VED) ist eine Störung, die mit Problemen auf der Ebene der Planung und Programmierung von Sprechbewegungen einhergeht. Dabei kommt es typischerweise zu inkonstanten und inkonsequenten Lautbildungsfehlern, Störungen der Prosodie und ungerichteten Suchbewegungen. Durch reguläre sprachtherapeutische Übungen ist eine Verbesserung der VED meist nicht zu erzielen. Dagegen werden durch intensives artikulatorisches Üben eine sichere und präzise Realisierung von Sprachlauten und ihre Festigung in der Spontansprache erreicht.

Material und Methoden: Vorgestellt wird der Fall einer 1981 geborenen Patientin, die aufgrund einer mittelgradigen mentalen Retardierung und familiärer Vernachlässigung seit dem siebten Lebensjahr in einem heilpädagogischen Wohnheim betreut wird. Im Kindesalter wurden auswärts eine Sprachentwicklungsstörung sowie eine orofaziale Dysfunktion festgestellt. Unter intensiver, kontinuierlicher logopädischer Therapie bis in das Erwachsenenalter erreichte die Patientin keine wesentlichen sprachlichen Fortschritte. Anamnestisch besteht ein Z.n. Ohr-Operation im Jugendalter auf der linken Seite.

Ergebnisse: Bei der Erstvorstellung in unserer phoniatrischen Sprechstunde zeigten sich eine hochtonbetonte kombinierte Schwerhörigkeit links und eine Normakusis rechts. Die Sprachuntersuchung ergab deutliche Hinweise auf das Vorliegen einer VED mit sprechmotorischen Vereinfachungen, insbesondere Längeneffekten, verlangsamten und alternierenden orofazialen Bewegungen sowie Suchbewegungen bei der Artikulation. Wir leiteten ein multimodales Therapiekonzept ein. Es erfolgte eine Versorgung mit Hörgeräten zum Ausgleich der kombinierten Schwerhörigkeit links und zur Steigerung der Hörwahrnehmung. Es wurde eine gezielte, auf die Verbesserung der dyspraktischen Störung der Lautbildung eingehende, logopädische Therapie veranlasst. Hierunter konnten wir eine deutliche Besserung der artikulatorischen Fähigkeiten verzeichnen.

Diskussion: Bei der vorgestellten Patientin persistierten Symptome einer verbalen Entwicklungsdyspraxie trotz jahrelanger intensiver logopädischer Förderung. Nach Änderung des Therapieansatzes war auch zu diesem späten Zeitpunkt und trotz der mentalen Einschränkungen eine deutliche Besserung der Artikulation zu verzeichnen.

Fazit: Verbesserungen einer VED sind auch im Erwachsenenalter und auch bei zusätzlich bestehenden mentalen Einschränkungen durch eine gezielte Therapie erreichbar.


Text

Hintergrund

Als orale Dyspraxie („dys“ = griech.: schlecht; „praxis“ = griech.: handeln) wird nach Eisenson (1972) die Unfähigkeit bezeichnet willkürliche Bewegungen des Larynx, des Pharynx, der Zunge, der Lippen, des Gaumens und der Wangen durchzuführen [1].

Die verbale Entwicklungsdyspraxie (VED) ist eine (kindliche) Entwicklungsstörung willkürlicher sprechmotorischer Fähigkeiten. Den Betroffenen fällt die Planung, Koordination und Ausführung von Sprechbewegungen schwer. Die Aussprache ist zumeist sehr undeutlich und unverständlich.

Häufige Symptome sind ein inkonstantes und inkonsequentes Phonembildungsprofil und Phonembildungsfehler, die sich typischerweise mit Zunahme der Silbenanzahl bzw. der Äußerungslänge verstärken. Mitunter sind Suchbewegungen der Artikulationsorgane zu beobachten. Darüber hinaus können ein reduzierter expressiver Wortschatz, frühkindliche Schluckstörungen und Störungen der Prosodie beobachtet werden. Gelegentlich kann bei Einschränkung der Velumfunktion eine Hypernasalität auftreten [2].

Die VED ist kein seltenes Krankheitsbild des Kindesalters. Die Prävalenz der VED unter Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen wird auf bis zu 15 Prozent geschätzt [3]. Die Störung trifft bevorzugt das männliche Geschlecht: sie tritt bei Jungen ca. drei Mal häufiger auf als bei Mädchen [4], [5].

Häufig ist eine ausgeprägte Therapieresistenz zu beobachten, da durch reguläre sprachtherapeutische Übungen eine Verbesserung der VED meist nicht zu erzielen ist. Ein erfolgversprechendes Therapiekonzept ist z.B. die Therapie nach KoArt nach Becker-Reding. Bei dieser Therapie soll durch ein „treppenförmig“ strukturiertes Einüben isolierter sprechmotorischer Bewegungseinheiten die Bewegungsausführung so weit automatisiert werden, dass sie in die Spontansprache übernommen wird. Dabei sollen die zuvor ziellosen Artikulationsbewegungen quasi „gelöscht“ werden.

Materialien und Methoden

Vorgestellt wird der Fall einer 35 Jahre alten Patientin, die aufgrund von allgemeiner Entwicklungsverzögerung, mittelschwerer mentaler Retardierung und familiärer Vernachlässigung seit dem siebten Lebensjahr in einem heilpädagogischen Wohnheim betreut wurde. Es bestand eine stark eingeschränkte Wortschatzentwicklung im rezeptiven und insbesondere im expressiven Bereich sowie eine eingeschränkte Mundmotorik. Eine Schwerhörigkeit wurde im Kindesalter ausgeschlossen. Die Patientin erhielt seit dem Kindesalter bis in das Erwachsenenalter hinein (zuletzt im Jahr 2014) kontinuierlich logopädische Therapie. Trotz der beständig durchgeführten Therapie und Förderung in heilpädagogischen Einrichtungen waren keine wesentlichen sprachlichen Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Die Aussprache blieb undeutlich und für viele Außenstehende unverständlich. Aufgrund des vorhandenen Störungsbewusstseins war die Patientin im sozialen Kontakt gehemmt.

Ergebnisse

Bei der Erstvorstellung in unserer Abteilung waren in der Sprachuntersuchung deutliche Hinweise auf das Vorliegen einer VED vorhanden. So zeigten sich u.a. sprechmotorische Vereinfachungen und suchende Artikulationsbewegungen. Darüber hinaus fielen verlangsamte alternierende orofaziale Bewegungen auf.

Nebenbefundlich bestanden bei der Patientin auf der linken Seite ein Z.n. Ohr-Operation im Jugendalter und eine konsekutiv aufgetretene, hochtonbetonte kombinierte Schwerhörigkeit. Auf der rechten Seite zeigte sich eine Normakusis.

Aufgrund der o.g. Befundlage erfolgte in einem multimodalen Therapiekonzept zunächst die Hörgeräteversorgung und es wurde eine logopädische Therapie nach KoArt eingeleitet. Unter dieser Therapie war schon bei der Kontrolluntersuchung nach einem halben Jahr eine Besserung der artikulatorischen Fähigkeiten und eine deutlich verständlichere Aussprache zu verzeichnen gewesen (längere Wörter konnten besser artikuliert werden).

Diskussion

Das Phänomen von bis in das Erwachsenenalter persistierenden Beschwerden einer verbalen Entwicklungsdyspraxie und deren Auswirkungen auf die Lebensqualität erfährt in den letzten Jahren eine zunehmende wissenschaftliche Aufmerksamkeit [6]. Im vorliegenden Fall persistierten die Symptome einer verbalen Entwicklungsdyspraxie trotz intensiver logopädischer Förderung bis in das Erwachsenenalter hinein. Nach Einleitung einer geeigneten Therapie war auch zu diesem späten Zeitpunkt eine deutliche Besserung der Symptomatik zu verzeichnen.

Fazit/Schlussfolgerungen

Auch bis in das Erwachsenenalter persistierende Symptome einer verbalen Entwicklungsdyspraxie sind durch eine geeignete Therapie behandelbar.


Literatur

1.
Eisenson, J. Aphasia and language disorders in children. New York: Harper & Row; 1972.
2.
Meyer S, Kühn D, Ptok M. Wenn Kinder völlig unverständlich sprechen. Verbale Entwicklungsdyspraxie. [Incomprehensible speech in children. Childhood apraxia of speech]. HNO. 2012 May;60(5):410-5. DOI: 10.1007/s00106-011-2446-1 External link
3.
Stahn C. KoArt – Ein Ansatz zur Therapie der Verbalen Entwicklungsdyspraxie und sprechmotorisch begründeter Aussprachestörungen. Eine Zusammenfassung des Vortrages von Ulrike Becker-Redding (Bochum). Potsdam: Universitätsverlag; 2010. S. 45-58. (Spektrum Patholinguistik; 3)
4.
Shriberg LD, Aram DM, Kwiatkowski J. Developmental apraxia of speech: I. Descriptive and theoretical perspectives. J Speech Lang Hear Res. 1997 Apr;40(2):273-85.
5.
Hall P, Jordan L, Robin D. Developmental apraxia of speech. Theory and clinical practice. Austin, TX: pro-ed; 1993.
6.
Cousins M, Smyth MM. Developmental coordination impairments in adulthood. Hum Mov Sci. 2003;22(4-5):433-59. DOI: 10.1016/j.humov.2003.09.003 External link