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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Sprache ohne Laut: Strukturelle Besonderheiten im Sprachnetzwerk von prälingual ertaubten Erwachsenen

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Theresa Finkl - Sächsisches Cochlear Implant Centrum, Universitätsklinikum Dresden, Abteilung für HNO, Dresden, Deutschland
  • author Alfred Anwander - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Deutschland
  • author Angela D. Friederici - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Deutschland
  • author Johannes Gerber - Universitätsklinikum Dresden, Abteilung Neuroradiologie, Dresden, Deutschland
  • author Dirk Mürbe - Sächsisches Cochlear Implant Centrum, Universitätsklinikum Dresden, Abteilung für HNO, Dresden, Deutschland
  • author Alexander Mainka - Sächsisches Cochlear Implant Centrum, Universitätsklinikum Dresden, Abteilung für HNO, Dresden, Deutschland
  • author Anja Hahne - Sächsisches Cochlear Implant Centrum, Universitätsklinikum Dresden, Abteilung für HNO, Dresden, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP11

doi: 10.3205/16dgpp20, urn:nbn:de:0183-16dgpp204

Published: September 8, 2016

© 2016 Finkl et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Sprechen ist ein komplexer Vorgang, der auf der Interaktion von Sprachnetzwerk, Hörsystem, Motorkortex sowie den Artikulatoren basiert. Aufgrund fehlenden auditiven Feedbacks erwerben prälingual ertaubte Menschen nur mittels speziellen Trainings eine gewisse, häufig deutlich eingeschränkte Lautsprachkompetenz. Die Kommunikation erfolgt primär über Gebärdensprache. Die Unterschiede zwischen Laut- und Gebärdensprache sollten sich jedoch lediglich auf die initiale Dekodierung des Sprachsignals, nicht jedoch auf dessen sprachstrukturelle Verarbeitung auswirken. Ziel der Studie war es, diese Trennung im Aufbau des kortikalen Sprachnetzwerkes nachweisen zu können.

Material und Methoden: Bei 10 prälingual ertaubten Erwachsenen wurde eine probabilistische Traktographie aus je sechs Regionen des dorsalen Sprachnetzwerks in jeder Hemisphäre durchgeführt. Diese waren BA44, BA6, posterior-superiorer und posterior-mittlerer temporaler Gyrus, Heschl Gyrus sowie inferior-parietaler Lobulus. Die Ergebnisse wurden mit denen einer hörenden Kontrollgruppe verglichen und statistisch ausgewertet.

Ergebnisse: Die zentralen Faserbündel des Sprachnetzwerks zwischen Frontal- und Temporallappen unterschieden sich nicht zwischen den Gruppen. Trakte, die für die Produktion oder die Dekodierung von Lautsprache verantwortlich sind, waren jedoch in der gehörlosen Gruppe signifikant schwächer ausgeprägt. Dies betraf insbesondere transkallosale Verbindungen aus den primären Hörrinden sowie den linken motorischen Schaltkreis zwischen BA44, supplementär-motorischem Areal und Thalamus.

Diskussion: Unsere Ergebnisse unterstützen die These, dass das zentrale Sprachnetzwerk modalitätsunabhängig ist, also gesprochene und gebärdete Sprache prinzipiell über dieselben Schaltkreise verarbeitet werden. Diese Faserbündel scheinen vom Hörverlust unbeeinträchtigt zu bleiben, da sie die zugrundeliegende semantisch-syntaktische Struktur jeder Form von Sprache prozessieren, unabhängig davon, ob diese über den auditiv-motorischen (Lautsprache) oder den visuell-motorischen (Gebärde) Weg verarbeitet wird. Wie unsere Studie weiter zeigt, gibt es hingegen große Konnektivitätsunterschiede in Trakten, die zur Artikulation und Dekodierung von gesprochener Sprache wichtig sind. Aufgrund der Hördeprivation und des daraus resultierenden Lautsprachdefizits sind sowohl die für die Artikulation benötigten motorischen Faserbündel zwischen Broca Areal, Motorkortex und Thalamus als auch die interhemisphärische Verbindung zwischen den auditorischen Kortizes verringert.


Text

Hintergrund

Sprechen ist ein komplexer Vorgang, der auf der Interaktion von Sprachnetzwerk, Hörsystem, Motorkortex sowie den Artikulatoren basiert. Aufgrund fehlenden auditiven Inputs bzw. Feedbacks erwerben prälingual ertaubte Menschen nur mittels speziellen Trainings eine gewisse, häufig deutlich eingeschränkte Lautsprachkompetenz und kommunizieren primär über Gebärdensprache. Da die grundlegenden Aspekte von Sprache wie Syntax und Semantik jedoch modalitätsunabhängig verarbeitet werden [1], [2], sollten sich Konnektivitäts-unterschiede im Sprachnetzwerk zwischen Laut- und Gebärdensprache lediglich auf die initiale Dekodierung des Sprachsignals sowie die motorischen Verbindungen zur Sprachproduktion auswirken, nicht hingegen auf die Schaltkreise für die sprachstrukturelle Verarbeitung. Ziel der Studie war es, diese Trennung auf Ebene der Faserverbindungen im kortikalen Sprachnetzwerk nachzuweisen.

Material und Methoden

Um die Konnektivität des Sprachnetzwerks abzubilden, wurde bei 10 prälingual ertaubten Erwachsenen (Altersdurchschnitt 31 J., 3 Männer) in beiden Hemisphären eine probabilistische Traktographie mit PROBTRACKX durchgeführt [3]. Hierfür wurden je sechs Regionen des dorsalen Sprachnetzwerks definiert, aus denen das Tracking unidirektional gestartet wurde. Diese waren BA44, BA6, posterior-superiorer und (pSTG) posterior-mittlerer temporaler Gyrus (pMTG), Heschl Gyrus (HG) sowie inferior-parietaler Lobulus (IPL). Die resultierenden Warscheinlichkeitskarten der einzelnen Trakte wurden mit denen einer nach Alter und Geschlecht angepassten hörenden Kontrollgruppe (Altersdurchschnitt 31 J., 3 Männer) verglichen und statistisch ausgewertet.

Ergebnisse

Die zentralen Faserbündel des fronto-parieto-temporalen Sprachnetzwerks unterschieden sich nicht zwischen den Gruppen. Trakte, die für die Produktion oder die Dekodierung von Lautsprache verantwortlich sind, waren jedoch in der gehörlosen Gruppe signifikant schwächer ausgeprägt. Dies betraf insbesondere transkallosale Verbindungen aus den primären Hörrinden, welche hochsignifikante Unterschiede aufwiesen, sowie den linken motorischen Schaltkreis zwischen BA44, supplementär-motorischem Areal und Thalamus. Zudem fanden sich in den Gehörlosen geringere Konnektivitätswerte zwischen linkem HG/pSTG und Precuneus sowie marginal signifikant verringerte Werte zwischen linkem IPL und Prämotorkortex.

Diskussion

Unsere Ergebnisse unterstützen die These, dass das zentrale Sprachnetzwerk modalitätsunabhängig ist, also gesprochene und gebärdete Sprache prinzipiell über dieselben Schaltkreise verarbeitet werden. Diese Faserbündel scheinen vom Hörverlust unbeeinträchtigt zu bleiben, da sie die zugrundeliegende semantisch-syntaktische Struktur jeder Form von Sprache prozessieren, unabhängig davon, ob diese über den auditiv-motorischen (Lautsprache) oder den visuell-motorischen (Gebärde) Weg verarbeitet wird. Wie unsere Studie weiter zeigt, gibt es hingegen große Konnektivitätsunterschiede in Trakten, die zur Artikulation und Dekodierung von gesprochener Sprache wichtig sind. Aufgrund der Hördeprivation sind die transkallosalen Verbindungen zwischen den auditorischen Kortizes verringert, welche essentiell für eine schnelle interhemisphärische Integration des Sprachsignals sind [4]. Da ein prälingualer Hörverlust zu Lautsprachdefiziten führt, sind auch die für die Artikulation benötigten motorischen Faserbündel zwischen Broca Areal und supplementärmotorischen Arealen und Thalamus schwächer ausgebildet. Diese spielen auch eine Rolle bei der phonologischen Verarbeitung gesprochener Sprache, welche bei prälingual ertaubten Menschen entsprechend reduziert ist [5]. Aufgrund des Hörverlusts kann außerdem keine multisensorische Integration von akustischen und visuellen Signalen erfolgen, was sich in einer verringerten Konnektivität zwischen linkem HG/pSTG und Precuneus sowie in der frontoparietalen Verbindung zwischen linkem IPL und Prämotorkortex widerspiegelt [6].

Fazit

Unsere Studie unterstreicht die Modalitätsunabhängigkeit des Sprachnetzwerks in Bezug auf semantische und syntaktische Verarbeitung. Gleichzeitig deuten die Ergebnisse an, dass fehlender auditiver Input im frühen Kindesalter zu einer Schwächung der Konnektivität von Faserbündeln führt, die für Produktion und Dekodierung von Lautsprache sowie für audiovisuelle Sprachverarbeitung zuständig sind.


Literatur

1.
Leonard MK, Ferjan Ramirez N, Torres C, Travis KE, Hatrak M, Mayberry RI, Halgren E. Signed words in the congenitally deaf evoke typical late lexicosemantic responses with no early visual responses in left superior temporal cortex. J Neurosci. 2012 Jul;32(28):9700-5. DOI: 10.1523/JNEUROSCI.1002-12.2012 External link
2.
Friederici AD, Gierhan SM. The language network. Curr Opin Neurobiol. 2013 Apr;23(2):250-4. DOI: 10.1016/j.conb.2012.10.002 External link
3.
Behrens TE, Berg HJ, Jbabdi S, Rushworth MF, Woolrich MW. Probabilistic diffusion tractography with multiple fibre orientations: What can we gain? Neuroimage. 2007 Jan;34(1):144-55. DOI: 10.1016/j.neuroimage.2006.09.018 External link
4.
Hickok G, Poeppel D. The cortical organization of speech processing. Nat Rev Neurosci. 2007 May;8(5):393-402. DOI: 10.1038/nrn2113 External link
5.
Emmorey K, Weisberg J, McCullough S, Petrich JA. Mapping the reading circuitry for skilled deaf readers: an fMRI study of semantic and phonological processing. Brain Lang. 2013 Aug;126(2):169-80. DOI: 10.1016/j.bandl.2013.05.001 External link
6.
Dick AS, Solodkin A, Small SL. Neural development of networks for audiovisual speech comprehension. Brain Lang. 2010 Aug;114(2):101-14. DOI: 10.1016/j.bandl.2009.08.005 External link