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Die Auswirkung musikpädagogischer Förderung auf den frühen Zweitspracherwerb bei Kindern mit Migrationshintergrund
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Published: | September 5, 2013 |
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Zusammenfassung
Hintergrund: Der positive Einfluss von Musikförderung auf die Sprachentwicklung wurde häufig beschrieben. Daher nehmen wir seine Existenz auch für den frühen Zweitspracherwerb Deutsch an.
Material und Methoden: In einer explorativen Längsschnittstudie mit bisher 2 Messzeitpunkten (Prä-Post-Design; mittl. Abstand: 10 Monate) wurden 41 musikpädagogisch geförderte Migrantenkinder (Mu) im Alter von 3–6 Jahren mit 19 Migrantenkindern ohne Förderung (Kontrollgruppe) hinsichtlich deutscher Sprachleistungen verglichen. Zur Beurteilung wurden eingesetzt: Subtest Verstehen Sätze u. phonologisches Arbeitsgedächtnis Nichtwörter (SETK 3–5); Subtest Erkennen grammatischer und semantischer Inkonsistenzen (ISEM, IGR) inkl. Gesamtscore (KISTE); Subtest Wörter Erklären u. Puppenspiel (WET); Subtest Zahlen Nachsprechen (K-ABC). Die Intelligenzhöhe wurde mit der K-ABC erhoben.
Ergebnisse: Sprachtestrohwerte waren zu T2 in beiden Gruppen größer, überwiegend signifikant. Aber in keiner Sprachleistung wurde ein signifikanter Unterschied in der Ergebnisdifferenz zwischen beiden Gruppen gefunden - bei vergleichbarer Intelligenzhöhe (SIFMu 99,03, SD 12,09; SIFKo 102,11, SD 11,68) und vergleichbarem sozio-ökonomischen Status (operationalisiert durch die aktuelle berufliche Tätigkeit des Vaters; ISEI-Index). Im WET-Puppenspiel zeigten Kontrollkinder sogar einen signifikant größeren Gewinn (MKo=4,03 vs. MMu=1,90; p=.008; ηp 2=.122) wie auch in den KISTE-Subtests und im Gesamtscore (ISEM: MKo=4,20 vs. MMu=1,66; IGR: MKo= 3,67 vs. MMu=–,59; Gesamt: MKo=9,24 vs. MMu=–,30; alle ps <.005; alle ηp 2s>.14). Für eine eindeutige Aussage ist der letzte Messzeitpunkt abzuwarten.
Diskussion: Migrantenkinder steigerten ihre Sprachleistungen nach musikpädagogischer Förderung; die Zugewinne blieben aber unter denen der Kontrollmigranten. Der positive Einfluss von professioneller Musikförderung in der Gruppe auf den frühen Zweitspracherwerb Deutsch konnte vorerst nicht gezeigt werden.
Text
Seit einigen Jahren gibt es große Anstrengungen, Kinder in Kindertageseinrichtungen (Kita) mittels bestimmter Bildungsangebote oder Programme schulvorbereitend zu fördern. Das trifft insbesondere auf Kinder mit Migrationshintergrund zu, die deutlich häufiger als deutsche Kinder von der Einschulung zurückgestellt werden (z.B. [1]). Das ist vor allem auf mangelhafte Kompetenz und Performanz in der deutschen Sprache zurückzuführen (z.B. [2], [3]), mit der diese Kinder meist erst mit dem Eintritt in eine deutsche Kita systematisch konfrontiert werden. Die Beherrschung der deutschen Sprache ist aber Voraussetzung für Bildungserfolg und soziale Integration (z.B. [4]).
Der positive Einfluss von Musikförderung auf die primäre Sprachentwicklung bzw. ihre phonologischen Vorläufer ist in der Literatur beschrieben (z.B. [5], [6] , [7], [8], [9]). Daher nehmen wir seine Existenz auch für den frühen sequentiellen Zweitspracherwerb Deutsch an. In einem Kooperationsprojekt (gefördert von: v. Metzler-Stiftung; Hertie-Stiftung; nifbe) untersuchten wir die Wirkung professioneller musikpädagogischer Förderung auf einzelne Sprachentwicklungsleistungen im Kontrollgruppenvergleich an normalgesunden Kita-Kindern mit Migrationshintergrund im Alter von 3 bis 6 Jahren, die keine professionelle Förderung außerhalb der Kita (jedwelcher Art) und keine logopädische Therapie erhielten.
Methode und Studienkollektiv
In einer exploratorischen Längsschnittstudie mit zwei Messzeitpunkten (T1 und T2) wurden 41 musikpädagogisch geförderte Kinder (21 Jungen; 20 Mädchen) mit 19 Kontrollkindern (9 Jungen; 10 Mädchen) aus drei Kitas im mittleren Lebensalter von 4,55 (SD 0,75) Jahren (Musikkinder: M=4,50, SD 0,78; Kontrollkinder: M=4,66, SD 0,69) hinsichtlich bestimmter deutscher Sprachleistungen in einem Prä-Post-Design im mittleren Abstand von 10 Monaten verglichen (Förderkinder stammten alle aus einer Kita, Kontrollkinder aus zwei Kitas).
95% der Kontrollkinder und 92% der Musikkinder waren in Deutschland geboren. Der sozio-ökonomische Status der Familien aller Kinder (Musik- sowie Kontrollgruppe) war vergleichbar: Die aktuelle berufliche Tätigkeit des Vaters auf Basis des ISEI-Indexes zur Operationalisierung des sozio-ökonomischen Status [10], [11] unterschied beide Gruppen nicht signifikant (MKo=40,39 vs. MMu=33,28; p>.2).
Alle Kinder erhielten in ihrer Kita durch Elementarmusikpädagoginnen der Musikschule Frankfurt/Main über mehrere Monate eine gesonderte Förderung. Diese fand 2× wöchentlich in der Kleingruppe von 8 bis 10 Kindern jeweils 45 Minuten statt und bestand aus folgenden Elementen: Singen und Sprechen; Bewegung, Tanz und Raumerfahrung; auditive Aufmerksamkeit; elementares Instrumentalspiel; sensorische Sensibilisierung. Der Abstand zwischen zwei Sitzungen betrug ca. 3 bis 4 Tage. Musikkinder erhielten im Durchschnitt 36,6 (SD 13,1) elementarmusikpädagogische Fördereinheiten zwischen T1 und T2, Kontrollkinder nahmen nur am pädagogischen Alltag in der deutschen Kita teil.
Da Musik die Zuhörfähigkeit anregt, welche phonologische Bewusstheit und Sprachwahrnehmung einschließt, war die Auswahl der Untersuchungsinstrumente von dem Gedanken geleitet, dass in der Entwicklung das Sprachverstehen der Sprachproduktion vorausgeht, dass ein hinreichend großes phonologisches Arbeitsgedächtnis Voraussetzung für die lexikalische Entwicklung ist und der Gebrauch von Wörtern wiederum Ausgangspunkt für die Syntaxentwicklung. Folgende standardisierte Instrumente wurden durchgeführt:
- Subtests „Verstehen von Sätzen“ (VS) und „Phonologisches Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter“ (PGN) aus dem Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3–5; Grimm, 2001);
- Subtests „Erkennen Semantischer Inkonsistenzen“ (ISEM) und „Erkennen Grammatischer Inkonsistenzen“ (IGR) aus dem Kindersprachtest für das Vorschulalter (KISTE; Häuser, Kasielke, & Scheidereiter, 1994) inkl. Bildung eines Gesamtscores;
- Subtests „Wörter Erklären“ (WE; erhebt Wortschatz) und „Puppenspiel“ (erfasst Sprachverständnis und verbales Interaktionsverstehen) aus dem Wiener Entwicklungstest (WET; Kastner-Koller & Deimann, 2002);
- Subtest „Zahlen Nachsprechen“ aus der Kaufmann Assessment Battery for Children (K-ABC ZN; dt. Bearb. v. Melchers & Preuß, 2009).
Die Intelligenzhöhe wurde mit der K-ABC erhoben.
In einer ANOVA wurde als abhängige Variable die Rohwertdifferenz zwischen T1 und T2 für den jeweiligen Subtest gewählt. Unabhängige Variablen waren Gruppe (Musik/Kontrolle) sowie Geschlecht; Kovariate war das mittlere Alter zu beiden Testzeitpunkten.
Ergebnisse
Die Subtestergebnisse stiegen von T1 zu T2 in beiden Gruppen an. Die Rohwertdifferenzen in jeder Gruppe waren signifikant, mit Ausnahme in den KISTE-Subtests der Musikgruppe. Intergruppen-Betrachtung KISTE: Kontrollkinder wiesen in beiden Subtests und im Gesamtscore signifikant höhere Entwicklungszuwächse auf als Musikkinder (ISEM: MKo=4,20 vs. MMu=1,66; IGR: MKo=3,67 vs. MMu=–,59; Gesamt: MKo=9,24 vs. MMu=–,30; alle ps <.005; alle ηp 2s>.14). Auch im WET-Puppenspiel zeigten die Kontrollkinder einen signifikant größeren Sprachentwicklungsgewinn als Musikkinder (MKo=4,03 vs. MMu=1,90; p=.008; ηp 2=.122). Weder in den SETK-Subtests (VS: MKo=3,41 vs. MMu=1,97; PGN: MKo=3,11 vs. MMu=2,82; ps >.18) noch im WET-Subtest WE (MKo=1,90 vs. MMu=3,41; p>.14), noch im K-ABC-Subtest ZN (MKo=1,86 vs. MMu=1,33; p>.4) konnte ein statistisch bedeutsamer Unterschied zwischen den Gruppen belegt werden.
Diskussion
Die individuellen Lernvoraussetzungen für den Zweitspracherwerb lagen bei allen Studienteilnehmern vor, da die Kinder nicht hörbehindert und hinreichend intelligent waren. Auch war der sozio-ökonomische Status der Familien aller Kinder (Musik- sowie Kontrollgruppe) vergleichbar. Strukturmerkmale, z.B. der Betreuungsschlüssel in den drei Kitas, wichen augenscheinlich nicht voneinander ab. Wenngleich die Sprachleistungen zu T2 bei allen Kindern die zu T1 signifikant übertrafen, konnten nach musikpädagogischer Förderung keine signifikant besseren Sprachleistungen im Gruppenvergleich nachgewiesen werden. Für das Ausbleiben statistisch bedeutsamer Effekte werden Vermutungen angestellt. Möglicherweise:
- wirkt sich musikpädagogische Förderung nur bei bestimmten Kindern positiv aus (musiksensitive bzw. -interessierte Kinder);
- braucht es längere Zeit, bis der Fördereinfluss im Zweitspracherwerb messbar wird;
- ist Gruppenförderung nicht ausreichend;
- war die spezifische Förderung zu allgemein/zu breit;
- waren die Bedingungen des Lebensumfelds bei den Kontrollkindern anders (evtl. erhielten sie mehr musikalische Impulse, z.B. durch Radio- o. CD-Musik in der Familie);
- lassen sich Veränderungen nur multikausal erklären; oder
- sind die der Beziehung zwischen musikalischer Förderung und linguistischen Fähigkeiten zugrundeliegenden Mechanismen auch zu komplex.
Für eine eindeutige Aussage ist der letzte Messzeitpunkt abzuwarten.
Vorläufiges Fazit
Es ist zu überlegen, ob die Studie i.S. eines experimentellen Designs repliziert werden sollte (zufällige Stichprobenziehung; zufällige Verteilung der Kinder auf die experimentellen Bedingungen; Einbezug anderer/weiterer Sprachvariablen), mit nicht breiter, sondern eher enger musikpädagogischer Förderung, ggf. auch Förderung in kleineren Gruppen.
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