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28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
2. Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie; Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie

09.09. - 11.09.2011, Zürich, Schweiz

Biographisch-narrative Gesprächsführung bei Aphasie – Auswirkungen auf Kommunikation und Teilhabe

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  • corresponding author presenting/speaker Sabine Corsten - Fachbereich Gesundheit & Pflege, Katholische Fachhochschule Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Friedericke Hardering - RWTH Aachen, Aachen, Deutschland
  • author Annerose Keilmann - Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), 2. Dreiländertagung D-A-CH. Zürich, 09.-11.09.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11dgppP02

doi: 10.3205/11dgpp07, urn:nbn:de:0183-11dgpp073

Published: August 18, 2011

© 2011 Corsten et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die Aphasie tritt insbesondere im höheren Lebensalter auf. Gerade das Zusammenwirken von zunehmendem Alter und sprachlicher Beeinträchtigung führt verstärkt zu Einbußen im sozial-kommunikativen Bereich, was mit einem veränderten Identitätsgefühl einhergeht [1]. Von elementarer Bedeutung für eine gelingende Identitätsbildung mit verbesserter sozialer Teilhabe ist die Fähigkeit zur kommunikativ-interaktiven Strukturierung der eigenen Lebensgeschichte mittels narrativer Kompetenzen, die jedoch bei einer Aphasie eingeschränkt sind [6].

Material und Methoden: Angelehnt an die Methode des narrativen Interviews wird eine spezifisch angepasste Form der biographisch-narrativen Gesprächsführung für Menschen mit Aphasie entwickelt [8]. Insbesondere werden spezifische Hilfen in den Gesprächsablauf integriert. Basierend auf dem entwickelten Gesprächsschema wurden erste biographisch-narrative Gespräche mit älteren Betroffenen geführt.

Ergebnisse: Auch Betroffene mit mittelgradiger aphasischer Störung sind zur biographischen Selbstthematisierung fähig. Komplikationen in der Gesprächsführung und entsprechende Modifikationen werden aufgezeigt. Weiterhin zeigen erste qualitative Analysen, dass die Teilnehmerinnen bereits im Laufe der Erzählung eigene Ressourcen benannten, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatten. Hier zeigen sich erste Ansätze zu einem neuen Erleben der eigenen Identität.

Diskussion: Menschen mit Aphasie können offenbar von strukturierten biographisch-narrativen Gesprächen profitieren. Eine systematische Evaluation bei einer höheren Fallzahl erfolgt innerhalb eines großangelegten Projekts zur Biographiearbeit bei älteren Menschen mit Aphasie. Hier soll auch geklärt werden, wie die Biographiearbeit nachhaltig in die praktische Arbeit mit Betroffenen integriert werden kann.


Text

Hintergrund

Aphasien, erworbene neurologische Sprachstörungen, erscheinen zu 80% als Folge zerebraler Insulte, die wiederum vornehmlich im höheren Lebensalter auftreten [5]. Somit kann die Aphasie als „Alterskrankheit“ begriffen werden (vgl. [2]). Die sprachliche Beeinträchtigung im Alter führt zu massiven Einbußen in der Lebensqualität, insbesondere zu einem veränderten Identitätsgefühl einhergehend mit eingeschränkter sozial-kommunikativer Teilhabe [1]. Eine Möglichkeit zur Förderung einer gelingenden Identitätsarbeit und somit zur Verbesserung der Lebensqualität besteht in der Aktivierung narrativer Kompetenzen. Diese bezeichnen die Fähigkeit zur erzählenden Selbstthematisierung im intersubjektiven Austausch (z.B. [6]). Autobiographische Erzählungen können erfolgreiche krankheitsbezogene Bewältigungsprozesse befördern, indem sie eine Integration des Identitätsbruchs, den eine Erkrankung wie die Aphasie bedeutet, in die Lebenserzählung ermöglichen (vgl. [8]). Darüber hinaus kann sich eine ressourcenorientierte Sichtweise einstellen. Gerade die von Aphasie Betroffenen sind jedoch eines elementaren Mittels zur Behauptung der Identität, der Sprache, beraubt. Shadden [9] spricht hier von „identity theft“, dem Gefühl des Identitätsverlustes.

Zur Förderung narrativer Kompetenzen bzw. der Identitätsarbeit und damit auch der Partizipation sollen in dem vorgestellten Projekt (gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 17112020) Methoden der Biographiearbeit, besonders das biographisch-narrative Gespräch, für die Arbeit mit Menschen mit Aphasie modifiziert werden. Dabei wird eine biographisch-narrative Gesprächsform angelehnt an das „narrative Interview“ gewählt, in der die Befragten ihr Leben in Form einer Geschichte darstellen sollen (vgl. [7]). Bislang werden biographisch-narrative Methoden bei Aphasie lediglich zur Analyse der Lebenssituation oder vermischt mit funktionsorientierten Übungen in Kommunikationsgruppen eingesetzt (z.B. [4]). Hierbei zeichnet sich ab, dass diese Interventionen auch mit Betroffenen mit schweren expressiven Einschränkungen durchgeführt werden können und mit einem therapeutischen Effekt einhergehen. Ausgearbeitete fundierte Konzepte für Biographiearbeit bei Aphasie, unterfüttert mit logopädischer Expertise, fehlen jedoch bislang. Hier schließt das Projekt an.

Material und Methoden

Das biographisch-narrative Gespräch, das im Projekt in einem achtwöchigen Aktivierungstraining neben biographisch ausgerichteter Gruppenarbeit erprobt werden soll, gliedert sich in zwei Phasen (vgl. [7]). Die erste Phase, eingeleitet mit der Aufforderung, die Lebensgeschichte zu erzählen, beinhaltet die autonome Haupterzählung, die möglichst nicht unterbrochen werden soll. In der zweiten Phase besteht die Möglichkeit zu Nachfragen, die sich unmittelbar auf das Erzählte beziehen, aber auch darüber hinaus gehen können. Insbesondere für die erste Erzählphase sind spezifisch logopädische Hilfen erforderlich, die jedoch den Inhalt möglichst wenig beeinflussen sollen.

Basierend auf dem entwickelten Gesprächsschema wurden in Pilotversuchen erste biographisch-narrative Gespräche mit älteren Betroffenen geführt. Diese Gespräche werden einerseits bezüglich des erfolgreichen Hilfeneinsatzes und andererseits mittels einer ersten qualitativen Inhaltsanalyse hinsichtlich der Aussagen zur Identitätskonstruktion und Lebensqualität untersucht.

Ergebnisse

Aus einem Gespräch werden hier Beispiele für Komplikationen in der Gesprächsführung und mögliche Lösungsstrategien sowie identitätskonstruierende Aussagen dargestellt. Bei E.K., die zum Zeitpunkt der Untersuchung 73 Jahre alt war, besteht nach einem zehn Jahre zurückliegenden Insult noch eine Restaphasie mit vorwiegend Auffälligkeiten in der Wortfindung. Im Gespräch zeigten sich insbesondere Schwierigkeiten in der sequentiellen Organisation, im stringenten Verfolgen des Themas, die sich in Äußerungen wie „ähm…ähm was wollte ich jetzt sagen?“ zeigten. Hier gelang eine Rückführung meist mittels Wiederholung des zuvor gesagten durch die Interviewerin. Wortfindungsproblemen, z.B. „Am Tag hat sie ge- äh ge.schluckt.“ konnte mittels Reparaturinitiierungen in Form nachfragender Verstehenssicherung seitens der Interviewerin begegnet werden.

Ein Perspektivwechsel von einem „Defizit-Blickwinkel“ [3] hin zu einem ressourcenorientierten Fokus zeigte sich im thematischen Übergang von der Darstellung der Einschränkungen hin zu aktuellen Freizeitaktivitäten und kann an Äußerungen wie „Ist schon schlimmer, wenn Du gar nicht laufen kannst. Ich hab’s nur ein bisschen im Kopf.“ festgemacht werden.

Diskussion

Menschen mit Aphasie können offenbar mit entsprechender Unterstützung autobiographische Erzählungen leisten. Zudem scheint es möglich, dass sie bereits von einem einmaligen strukturierten biographisch-narrativen Gespräch profitieren können. Eine systematische Evaluation bei einer höheren Fallzahl erfolgt innerhalb des angesprochenen Projekts zur Biographiearbeit bei älteren Menschen mit Aphasie. Hier soll auch geklärt werden, wie Biographiearbeit nachhaltig in die praktische Arbeit mit Betroffenen integriert werden kann.


Literatur

1.
Davidson B, Howe T, Worrall L, Hickson L, Togher L. Social participation for older people with aphasia: the impact of communication disability on friendships. Top Stroke Rehabil. 2008;15(4):325-40. DOI: 10.1310/tsr1504-325 External link
2.
Engelter ST, Gostynski M, Papa S, Frei M, Born C, Ajdacic-Gross V, Gutzwiller F, Lyrer PA. Epidemiology of aphasia attributable to first ischemic stroke: incidence, severity, fluency, etiology, and thrombolysis. Stroke. 2006;37(6):1379-84. DOI: 10.1161/01.STR.0000221815.64093.8c External link
3.
Herriger N. Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer; 2002.
4.
Holland AL. Living Successfully with Aphasia: Three Variations on the Theme. Top Stroke Rehabil. 2006;13(1):44-51. DOI: 10.1310/13D7-R31R-8A0D-Y74G External link
5.
Kolominsky-Rabas PL, Heuschmann PU. Inzidenz, Ätiologie und Langzeitprognose des Schlaganfalls. Fortschr Neurol Psychatr. 2002;70(12): 657-62. DOI: 10.1055/s-2002-35857 External link
6.
Lucius-Hoene G. Konstruktion und Rekonstruktion narrativer Identität. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research [Internet]. 2000;1(2). Available from: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1087 External link
7.
Rosenthal G. Biographisch-narrative Gesprächsführung: Zu den Bedingungen heilsamen Erzählens im Forschungs- und Beratungskontext. Psychotherapie und Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung. 2002:204-27.
8.
Rosenthal G. Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt: Campus; 1995.
9.
Shadden BB. Aphasia as identify theft: Theory and practice. Aphasiology. 2005;19(3-5):211-23. DOI: 10.1080/02687930444000697 External link