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26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

11.09. - 13.09.2009, Leipzig

Vorhersagekraft der Notched-Noise-BERA für das frequenzspezifische Hörvermögen

Vortrag

  • author presenting/speaker Anna Sagemann - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • Dirk Deuster - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • Arne Knief - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • Antoinette Am Zehnhoff-Dinnesen - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • corresponding author Claus-Michael Schmidt - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 11.-13.09.2009. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2009. Doc09dgppV04

doi: 10.3205/09dgpp09, urn:nbn:de:0183-09dgpp097

Published: September 7, 2009

© 2009 Sagemann et al.
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Zusammenfassung

Nach früher hirnstammaudiometrischer Diagnostik von Hörstörungen zeigen sich bei Verlaufskontrollen sowohl reifungsbedingte Schwellenverbesserungen als auch Progredienzen. Anhand retrospektiv erhobener Daten von 159 Kindern (92 m, 67w, Altersmedian bei Erstvorstellung 2,8 Jahre) wurden Zusammenhänge zwischen Notched-Noise-BERA-Schwellen (0,5, 1, 2, 4 kHz; Evoselect BERA, FA. Pilot; BERA zwischen 2001 und 2006) und späteren tonaudiometrischen Schwellen untersucht. Die Korrelationen (Pearson) zwischen NN und TA in der Gesamtgruppe liegen zwischen r=0,72 (0,5 kHz) und r=0,85 (2 kHz). Bei Kindern <1 und >1,75 Jahren waren die mittleren NN-Schwellen in allen Frequenzen schlechter, als die späteren Tonschwellen. Die Mittelwertsunterschiede waren für alle gepaarten Stichproben signifikant (T-Test). Geringere Hörverluste (Click<50 dB) zeigten schlechte Korrelationen zwischen NN und TA. Click, NN1000 und NN2000 korrelieren besser mit dem TA bei 500 Hz als die NN500-Messung. Insgesamt fanden wir bei jüngeren Kindern nicht die erwarteten Reifungseffekte mit Schwellenverbesserung, in unserer Gruppe spielten Progredienzen offenbar eine größere Rolle. Bei geringgradigen Hörverlusten ist die frequenzspezifische BERA unbefriedigend. „Gute“ Korrelationen schließen erhebliche Abweichungen im Einzelfall nicht aus. Sinnvoll sind engmaschige Kontrollen und eine wenig statische Interpretation der BERA-Ergebnisse, häufig auch eine Wiederholung der Hirnstammaudiometrie im Säuglings- oder Kleinkindalter.


Text

Einleitung

Ziel des Neugeborenenhörscreenings ist der Abschluss der Hördiagnostik bis zum Ende des 3. Lebensmonates. Die Durchführung einer objektiven frequenzspezifischen Hördiagnostik mittels Hirnstammaudiometrie ist internationaler Konsens. In der Literatur sind gute Korrelationen zwischen der frequenzsspezifischen Hirnstammaudiometrie und den später ermittelten Tonaudiogrammen beschrieben, mit schlechteren Korrelationen im Tieftonbereich. Für die Mittelwertsunterschiede zwischen den BERA- und Tonaudiogrammschwellen bei mittleren bis hohen Frequenzen werden Abweichungen von weniger als 10dB beschrieben. In der klinischen Praxis bestehen im Einzelfall deutliche Abweichungen, auch sind bei sehr jungen Kindern, bei denen die Hirnstammaudiometrie im Follow-up des Hörscreenings durchgeführt wurde, nicht selten Differenzen zwischen der BERA und späteren verhaltens- und tonaudiometrischen Messungen zu beobachten, die z. T. als Hörbahnreifung interpretiert werden. In der vorliegenden retrospektiven Studie sollen unter Berücksichtigung möglicher Effekte des Untersuchungsalters und des Grades der Schwerhörigkeit Erkenntnisse über die Vorhersagekraft der frequenzspezifischen Hirnstammaudiometrie für die spätere Hörschwelle und Konsequenzen für das Follow-up schwerhöriger Kinder gewonnen werden.

Patienten und Methoden

Von 373 Kindern, die zwischen 2001 und 2006 eine Notched-Noise (NN)-BERA erhalten haben, wurde bei159 Kindern im weiteren Verlauf ein Tonaudiogramm (TA) ermittelt. Die retrospektiv erhobenen Daten dieser 159 Kinder (92 m, 67w, mittleres Alter bei Erstvorstellung 3,9 Jahre, Altersmedian bei Erstvorstellung 2,83 Jahre) wurden ausgewertet. Zusammenhänge zwischen den NN-BERA-Schwellen (0,5, 1, 2, 4 kHz; Evoselect BERA, Fa. Pilot), Kopfhörermessung (Beyerdynamics DT 48) und den später ermittelten tonaudiometrischen Schwellen (TA) wurden untersucht. Der Altersmedian bei der ersten NN-BERA-Messung betrug 3,48 Jahre, der Altersmedian für das erste Tonaudiogramm 5,24 Jahre. Die NN-BERA wurde bei 175 Kindern in Narkose, bei 129 Kindern im Melatonin-induzierten Schlaf, bei 49 Kindern im Spontanschlaf und bei 9 Kindern im wachen, aber ruhigen Zustand gemessen. Es wurden folgende Korrekturen festgelegt: 1. Falls zwei TA vorlagen, wurde das jeweils bessere verwendet, 2. im TA ermittelte Hörverluste über 100 dB wurden als 100 dB bewertet, um eine statistische Vergleichbarkeit mit der maximalen NN-BERA-Messung von 100 dB zu gewährleisten.

Ergebnisse

Für einen Altersgruppenvergleich wurde die Gesamtgruppe in vier fallzahlmäßig etwa gleich große Gruppen unterteilt. Somit ergaben sich folgende Altersgrenzen: <1,75, 1,75–3,5, 3,5–6, >6 Jahre. Desweiteren wurde die Altersgruppe <1,75 Jahre in zwei etwa gleich große Untergruppen (<1, 1–1,75) unterteilt.

1. Hörverlust in NN-BERA und Tonaudiogramm

In der Gesamtgruppe, wie auch in der Altersgruppe <1Jahre, sind die mittleren NN-BERA-Schwellen in allen Frequenzen schlechter als die späteren Tonschwellen. Für die Altersgruppe 1–1,75 Jahre hingegen sind die Tonschwellen schlechter als die zuvor ermittelten NN-BERA-Schwellen (Abbildung 1 a-c [Abb. 1]). Die Mittelwertunterschiede waren für das Konfidenzintervall >0,95 für alle gepaarten Stichproben signifikant (T-Test).

2. Pearson-Korrelation zwischen NN-BERA und Tonaudiogramm

Alle Korrelationen der Altersgruppen, sowie der Gesamtgruppe, außer der Korrelation bei 0,5kHz für die Gruppe 1–1,75 Jahre (0,05 (2-seitig) signifikant), sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. In der Altersgruppe von 1,75 bis 3,5 Jahre sowie von 3,5 bis 6 Jahre zeigen sich die besten Korrelationen (Tabelle 1 [Tab. 1]).

In der Gruppe mit höheren Hörverlusten (Click≥50) sind die Korrelationen auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. In der Gruppe mit geringeren Hörverlusten (Click<50 dB) hingegen besteht für 0,5 kHz keine signifikante Korrelation, für alle anderen Frequenzen besteht mindestens auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) eine signifikante Korrelation, allerdings mit deutlich niedrigerem r (Tabelle 2 [Tab. 2]).

3. Lineare Regression

In der Gesamtgruppe besteht zwischen allen Paaren der NN-BERA und dem Tonaudiogramm eine positive lineare Regression (Tabelle 3 [Tab. 3]).

Diskussion

In unserer Stichprobe lagen die Mittelwertunterschiede zwischen der BERA und dem Tonaudiogramm in den verschiedenen Altersgruppen und bei Kindern mit hochgradigen Hörverlusten (Click≥50 dB) in den mittleren und hohen Frequenzen unter 10 dB, bei 0,5 kHz zwischen –8,3 (1–1,75 Jahre) und 19,4 dB (1,75–3,5 Jahre). Mit Einsteckhörern sind bessere Ergebnisse, vor allem im Tieftonbereich, zu erwarten. Bei geringgradigem Hörverlust fallen die Mittelwertunterschiede höher aus.

Die Altersgruppe 1–1,75 Jahre, eine typische Altersgruppe für die BERA-Inanspruchnahme bei Verdacht auf gravierende Schwerhörigkeit vor Einführung der UNHS, ist die Gruppe mit den höchsten mittleren Hörverlusten in der NN-BERA und die einzige Gruppe mit schlechteren TA- als NN-Schwellen, was für progrediente Verläufe spricht. Die Gruppe der Kinder <1 Jahr ist hinsichtlich der Differenzen zwischen NN-Schwelle und Tonschwelle vergleichbar mit den anderen Altersgruppen ab 1,75 Jahren, eine reifungsbedingte Schwellenverbesserung hat sich hier nicht gezeigt, allerdings könnten auch hier Progredienzen bei Einzelnen eine Rolle spielen.

Bei älteren Kindern (1,75 bis 3,5 und 3,5 bis 6 Jahre) zeigen sich bessere Korrelationen in allen Frequenzen als bei den Kindern unter 1,75 Jahren. Bei geringgradigen Hörverlusten zeigte die frequenzspezifische BERA in allen Frequenzen unbefriedigende Korrelationen, besonders bei 0,5 und 4kHz. Bei höhergradigen Hörverlusten bestehen bessere Korrelationen in allen Frequenzen. Allerdings schließt eine „gute“ Korrelation erhebliche Abweichungen im Einzelfall nicht aus.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass eine einmalige BERA als Grundlage für Hörgeräteversorgung und Fördermaßnahmen keinesfalls ausreicht. Notwendig sind engmaschige Kontrollen und eine dynamische Interpretation der Ergebnisse unter Mitberücksichtigung aller subjektiven und objektiven Verfahren wie freifeldaudiometrischen Messungen mit und ohne Hörgeräte, TEOAE- und DPOAE-Messung, Tympanometrie, häufig auch die (z. B. im Melatonin-induzierten Schlaf ohne Risiken für das Kind mögliche) Wiederholung der Hirnstammaudiometrie, insbesondere bei jüngeren Kindern (schwächere Korrelationen), Hörverlusten <50 dB in der BERA (sehr schwache Korrelationen, höhere Streuung) als auch bei hochgradig schwerhörigen Kindern (progediente Verläufe).


Literatur

1.
Lee CY, Jaw FS, Pan SL, Hsieh TH, Hsu CJ. Effects of age and degree of hearing loss on the agreement and correlation between sound field audiometric thresholds and tone burst auditory brainstem response thresholds in infants and young children. J Formos Med Assoc. 2008;107(11):869-75.