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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? Die Verantwortung der GMDS und ihrer Mitglieder in Zeiten der Klimakrise

When, if not now? Who, if not us? The responsibility of GMDS and its members in times of the climate crisis

Systematischer Rückblick und Perspektiven

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  • corresponding author Elske Ammenwerth - Institut für Medizinische Informatik, UMIT TIROL – Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften und -technologie, Hall in Tirol, Österreich
  • Britta Böckmann - Fachhochschule Dortmund, Deutschland
  • Alfred Winter - Institut für Medizinische Informatik und Statistik, Universität Leipzig, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2024;20:Doc07

doi: 10.3205/mibe000263, urn:nbn:de:0183-mibe0002635

Published: February 26, 2024

© 2024 Ammenwerth et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Die menschenverursachte Klimakrise gefährdet die Gesundheit und die Lebensgrundlagen für uns Menschen. Die Fachgesellschaft GMDS – Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie – sieht sich in der Verantwortung für die Gesundheit in der Gesellschaft. Was bedeutet dies in Zeiten der Klimakrise? Im Workshop „Klimawandel, Digitalisierung und Gesundheit“ auf der GMDS2023 in Heilbronn wurden Handlungsfelder für die GMDS als Fachgesellschaft und für ihre Mitglieder diskutiert. Auf der Mikroebene sollten z.B. bei geplanten Projekten die Notwendigkeit, der erhoffte Nutzen für die Gesundheit von Menschen und die Klimafolgen reflektiert werden. Auf der Mesoebene könnten z.B. von der GMDS organisierte Veranstaltungen klimaneutral ausgerichtet werden. Auf der Makroebene könnte die GMDS z.B. auf Fördergeber einwirken, bei Entscheidungen über Forschungsanträge auch die Klimafolgen zu berücksichtigen. Wir laden alle Interessierten ein, sich an den geplanten weiteren Diskussionen aktiv zu beteiligen. Die Gründung einer entsprechenden Projekt- oder Arbeitsgruppe innerhalb der GMDS ist geplant. Jetzt ist die Zeit, Verantwortung für das Klima wahrzunehmen. Das gilt auf beruflicher Ebene sowohl für uns persönlich als auch für die Fachgesellschaft GMDS als Institution.

Schlüsselwörter: medizinische Informatik, Klimaschutz, ethische Verantwortung

Abstract

The human-induced climate crisis endangers health and the foundations of life for us humans. The professional society GMDS – German Association for Medical Informatics, Biometry and Epidemiology – considers itself responsible for the health in society. What does this mean in times of the climate crisis? During a workshop entitled “Climate change, digitalization and health“ at GMDS2023 in Heilbronn, action areas for GMDS as a professional society and for its members were discussed. On the micro level, for example, the necessity, the anticipated benefits for human health, and the climate consequences of planned projects should be reflected upon. On the meso level, GMDS-organized events could be made climate-neutral, for example. On the macro level, GMDS could, for example, influence funding bodies to consider climate consequences in decisions regarding research proposals. We invite everyone interested to actively participate in the planned further discussions. The establishment of a GMDS project group or working group on this topic is planned. Now is the time to take responsibility for the climate. This applies at the professional level for us personally as well as for the professional society GMDS as an institution.

Keywords: medical informatics, climate protection, ethical responsibility


Einleitung

Seit der Industrialisierung steigt die Menge der Treibhausgase in der Atmosphäre kontinuierlich an. Die CO2-Werte in der Atmosphäre sind inzwischen erheblich höher als jemals in den letzten mindestens 800.000 Jahren [1]. Diese menschengemachte Erhöhung an Treibhausgasen führt zu einer messbaren Erderwärmung. So ist weltweit die Temperatur gegenüber der vorindustriellen Zeit bereits um etwa 1°C gestiegen [1], in Deutschland um etwa 1,5°C [2] und in Österreich sogar um etwa 2°C [3].

Durch die menschengemachte Erderwärmung verlassen wir eine Periode von ca. 12.000 Jahren konstanter Temperaturen in der Warmphase des Holozäns, welche vermutlich die gedeihliche Entwicklung des Menschen im Übergang von der nomadischen Jäger- und Sammlerkultur zur sesshaften Ackerbaukultur überhaupt erst ermöglichte [4].

Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) prognostiziert, dass bei Umsetzung der bisher geplanten Klimaschutzmaßnahmen die Temperaturen bis zum Jahr 2100 um 3,2°C steigen könnten [5]. Schon eine Erderwärmung von 2°C wird als katastrophal für Gesundheit und Umwelt angesehen [6]. Das mögliche Erreichen diverserer Kipp-Elemente wie z.B. das Auftauen des Permafrosts mit Freisetzung großer Mengen an Methan verstärkt die Erderhitzung weiter und kann zu nicht mehr aufhaltbaren Dominoeffekten führen [7].

Das IPCC fordert daher erheblich mehr Bemühungen, den Ausstoß von Treibhausgasen in allen industriellen Prozessen, in der Landwirtschaft und Landnutzung, im Verkehr sowie in der Energie- und Wärmeversorgung von Gebäuden vollständig einzustellen (‚Netto-Null‘) – und das rasch und weltweit, um die Erderhitzung möglichst noch auf 1,5°C zu begrenzen [8].

Die Erderwärmung beeinflusst inzwischen fast alle Ökosysteme negativ und führt bereits jetzt zu Hitzewellen, Wassermangel und Bränden auf der einen Seite und zu Starkregenereignissen, Überschwemmungen und Unwettern auf der anderen Seite [8]. In Summe gefährden diese Veränderungen die Ernährungssicherheit und Lebensgrundlagen vieler Millionen Menschen und haben damit auch erhebliche negative gesundheitliche Auswirkungen [9].

Vor dem Hintergrund dieser Klimakrise haben sich internationale medizinische Fachgesellschaften und Fachzeitschriften bereits positioniert. So erschien 2021 ein gemeinsames Editorial mit dem Titel „Call for emergency action to limit global temperature increases, restore biodiversity, and protect health“ in über 200 medizinischen Zeitschriften, darunter auch in Zeitschriften aus den in der GMDS vertretenen Fachbereichen wie dem Journal of the Medical Informatics Association (JAMIA) [6]. In Deutschland streben erste Initiativen von Krankenhäusern gemeinsam Klimaneutralität an [10]. Andere Initiativen weisen auf die Gefährdung der Gesundheit durch Klimaveränderungen, insbesondere bei Kindern oder vulnerablen Gruppen, und auf die Notwendigkeit zum Handeln hin [11], [12].

In einem Übersichtsartikel definierte Gray [13] die Rolle der Medizinischen Informatik in Zeiten der Klimakrise ähnlich wie die Herausgeber des JAMIA-Sonderhefts: Medizinische Informatik könne helfen, die Treibhausgasemissionen im Gesundheitswesen zu reduzieren. Gleichzeitig könne Medizinische Informatik neue Daten beisteuern, die Einblick in die Auswirkungen der Klimakrise auf die Gesundheit ermöglichen. Schließlich könne Medizinische Informatik dazu beitragen, die öffentliche Gesundheitsversorgung für Klimakatastrophen resilienter zu gestalten [13]. Die Autorin schließt mit dem Aufruf: „Health informatics professionals must do more in their practice to address the challenges associated with protecting human health in a changing climate.“ [13]

2022 erschien in JAMIA ein Sonderheft „Health and Biomedical Informatics and Climate Change“ mit 8 Publikationen. Hierin wurden unter anderem in einer Umfrage von IT-Expert:innen aus dem Gesundheitswesen die Einstellungen zum Thema Klimawandel und Digitalisierung untersucht [14]; eine Studie beschrieb Möglichkeiten, die Treibhausgasemissionen des Gesundheitswesens messbar zu machen [15]; in einem Literaturreview wurden Ansätze zur Erhebung der Umweltauswirkungen von IT-Interventionen vorgestellt [16]; ein Framework für „Green Medical Informatics Solutions“ wurde entwickelt [17]; ein anderes Review untersuchte die bisherigen Ansätze, durch IT-Interventionen zum Umgang mit der Klimakrise beizutragen [18]; ein Review fokussierte hier vor allem auf den IT-Einsatz im Umfeld von Naturkatastrophen [19]; eine Studie untersuchte die Bedeutung von IT-Kompetenzen [20]; und ein Beitrag stellte das i-CLIMATE Framework vor, welches die Möglichkeiten der Medizinischen Informatik beim Umgang mit der Klimakrise zusammenfasst [21]. Insgesamt äußerten die meisten der Autor:innen, dass Forschung in den jeweiligen Gebieten noch am Anfang steht.

In dem von Enrico Coiera und Farah Magrabi verfassten Editorial zu diesem JAMIA-Sonderheft mit dem Titel „What did you do to avoid climate disaster? A call to arms for health informatics“ [22] weisen die Herausgeber darauf hin, dass das Gesundheitswesen für etwa 5% der Treibhausemissionen verantwortlich sei. Die Digitalisierung trage hier z.B. durch hohen Energieverbrauch beim Einsatz von KI oder Blockchain-Technologien sowie durch hohen Ressourcenverbrauch bei der Hardware bei. Gleichzeitig könne die Digitalisierung auch dabei helfen, Treibhausemissionen zu reduzieren. So könne Telemedizin und Telemonitoring unnötige Reisen reduzieren und in Katastrophen Gesundheitsversorgung ermöglichen. Resiliente IT-Systeme seien Teil einer kritischen Infrastruktur und könnten in Krisenzeiten helfen, die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten. Digitalisierung unterstütze auch die Überwachung und Reaktion in Zeiten von Pandemien und der Verbreitung von Erkrankungen.

Die Herausgeber fassten ihre Forderungen an uns als Medizinische Informatiker:innen in 10 Punkten zusammen [22]:

„What can a health informatician do about climate change?

1.
Educate yourself about the environmental and health effects of climate change.
2.
Make personal choices that minimize your carbon footprint.
3.
Recognize that your professional duty of care to do no harm to those you care for in the healthcare system extends to climate change.
4.
Ensure that the digital health projects you are commissioning, designing, implementing, or using have a net zero impact on GHG emissions.
5.
Reduce wasteful deployment and decommissioning of software and hardware. Minimize engagement with low-value projects that do not make genuine contributions to healthcare delivery or climate response.
6.
Embed climate resilience into the design of information systems and health services that you are responsible for, and aim for the sustainable use of technology, doing more and better with less.
7.
Engage in local decarbonization efforts at the place you work or live and ensure there are appropriate mitigation and response plans for climate-triggered disruptions.
8.
Prioritize climate informatics research, ensuring the work you support has the requisite funds, scale, focus, and organizational buy-in needed for success.
9.
Ask questions of your professional organizations. Are they addressing climate change and are they doing enough?
10.
Turn up and sit at the table when priorities for your organization or program are discussed and use your voice to prioritize the climate change response.“

Im Zuge dieser Appelle bildeten sich bereits erste Arbeitsgruppen zum Thema Medizinische Informatik und Klimakrise. So fand auf der AMIA Clinical Informatics Conference 2023 in Chicago ein Workshop mit dem Titel „Climate Health Informatics: Design Workshop to Accelerate Action“ statt, in welchem Handlungsmöglichkeiten diskutiert wurden. Die Einrichtung einer gleichnamigen AMIA-Arbeitsgruppe ist in Vorbereitung. Die International Academy of Health Sciences Informatics veranstaltete im Rahmen des AMIA Annual Symposiums 2023 einen Mini-Summit zu „Climate, Health and Informatics“.

Die Fachgesellschaft GMDS nimmt in ihren ethischen Leitlinien für sich eine „Mitverantwortung für die Gesundheit in der Gesellschaft“ in Anspruch [23]. Sie erwartet dabei von ihrem Mitglied, „dass es durch sein berufliches Handeln Gesunde und Kranke sowie die medizinisch Tätigen und Forschenden darin unterstützt, Krankheiten vorzubeugen, zu heilen und zu lindern sowie deren Ursachen und Wirkungen besser zu verstehen“. Die ethischen Leitlinien formulieren ebenfalls, dass vom Mitglied erwartet wird, „dass es die voraussichtlichen Folgen seines beruflichen Handelns einer selbstkritischen ethischen Reflexion unterzieht und die jeweils absehbaren gesellschaftlichen Auswirkungen berücksichtigt.“

Vor diesem Hintergrund sehen wir uns in der Verpflichtung, in Zeiten der Klimakrise auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene aktiv zu werden. Dabei geht es um wirkliche Transformation unseres Handelns als Individuen und als Fachgesellschaft – ein Ansatz, der den Mut braucht, Altes loszulassen, ohne schon genau zu wissen, wie das Neue aussieht. Basis können Methoden aus der Transformationsforschung sein, z.B. die Theorie U [24], welche wir unten noch einmal aufgreifen werden.

Vor dem Hintergrund der Klimakrise, den bisherigen internationalen Arbeiten zum Beitrag der Medizinischen Informatik im Umgang mit der Klimakrise und den ethischen Leitlinien der GMDS stellt sich daher aus unserer Sicht die drängende Frage, wie die GMDS und ihre Mitglieder in ihrem jeweiligen Wirkungsfeld die aufgrund der Klimakrise notwendigen Veränderungen befördern und unterstützen können.


Methodik

Zur Beantwortung der Frage fand am 20.9.23 auf der GMDS-Jahrestagung 2023 (GMDS2023) in Heilbronn ein Workshop mit dem Titel „Klimawandel, Digitalisierung und Gesundheit: Welche Verantwortung hat eine wissenschaftliche Fachgesellschaft beim Umgang mit der Klimakrise?“ statt. Der Workshop war offen für alle Interessierten. Insgesamt 22 Personen aus allen Fachbereichen der GMDS nahmen teil.

Der Workshop umfasste folgende Teile:

1.
Drei Impulsreferate zur Klimakrise, zu Grundlagen der Transformation sowie zu den ethischen Leitlinien der GMDS;
2.
Blitzlicht [25] zur Sammlung von ersten Meinungen zur Fragestellung und zur Generierung erster Ideen;
3.
Kleingruppenarbeit zur Sammlung von Ideen, wo und wie die GMDS oder deren Mitglieder tätig werden können;
4.
Plenardiskussion der Kleingruppenergebnisse;
5.
Blitzlicht zur Generierung einer Momentaufnahme zu den Eindrücken aus dem Workshop.

Alle Diskussionen in Plenum und Kleingruppen wurden in Stichworten dokumentiert und bei der Auswertung dann nach Handlungsebenen der Transformationsforschung gruppiert. Die Transformationsforschung beschreibt drei Handlungsebenen für Veränderungen. Auf der Mikro-Ebene geht es darum, was wir alle als individuelle Personen tun können, z.B. im privaten oder beruflichen Umfeld. Das kann ein Engagement bei den Scientists for Future genauso sein wie der Entschluss, nicht mehr zu fliegen. Auf der Meso-Ebene geht es darum, was wir gemeinschaftlich tun können, z.B. auf Ebene eines Instituts. Hierzu gehört z.B. die ehrliche Reflexion darüber, welche Art von Projekten wir durchführen wollen, aber auch welche wir möglicherweise nicht durchführen, weil die Relation von erzeugten Treibhausgasemissionen zum erwarteten Projektnutzen nicht überzeugt. Die Makro-Ebene betrachtet die gesellschaftliche und politische Dimension, auf der wir z.B. als Fachgesellschaft wirken können. Fragen dabei sind exemplarisch, welchen Einfluss wir auf die Politik oder auf Förderorganisationen nehmen können und wie wir bei der Entwicklung von Leitlinien oder Ausbildungsempfehlungen helfen können.


Ergebnisse

Tabelle 1 [Tab. 1] stellt die Diskussionsergebnisse aus dem Workshop dar, sortiert nach den drei oben beschriebenen Handlungsebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) der Veränderung. Die Stichworte sind auf jeder Ebene nach Themenclustern gruppiert. Betrachtet wird insbesondere der berufliche Kontext als Wissenschaftler:in.

In den Diskussionsbeiträgen wurde eine große persönliche Betroffenheit ebenso deutlich wie die Motivation, sich auch im eigenen beruflichen Kontext diesen Themen und Herausforderungen zu stellen. Gleichzeitig betonen die Teilnehmer:innen, dass oft auch gewachsene Strukturen sowie Anforderungen z.B. an Häufigkeit von Publikationen oder die Ausgabe von Restmitteln am Jahresende grundlegenden Veränderungen im Weg stehen können.


Diskussion

Einordnung der Ergebnisse

Viele Universitäten haben bereits Handlungsempfehlungen für ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgegeben, und einige machen den Entwicklungsprozess auch sehr transparent; exemplarisch sei der Ideenspeicher der Universität Kassel genannt [26]. Schon früh haben sich auch Fachgesellschaften zur Klimakrise positioniert, so z.B. bereits 1987 die Deutsche Meteorologische Gesellschaft und die Deutsche Physikalische Gesellschaft [27]. Ein neueres Beispiel ist das Positionspapier „Die Verantwortung der Informatik auf dem Weg zur Klimaneutralität“ der Gesellschaft für Informatik (GI) von 2023 [28]. Die GMDS hat bisher keine Stellungnahme veröffentlicht, auch wenn viele ihrer Mitglieder in Themen rund um Klima und Gesundheit arbeiten, wie eine kurze Durchsicht aktueller GMDS-Jahrestagungen zeigt.

Die Ergebnisse des Workshops auf der GMDS-Jahrestagung 2023 sollen ein erster Impuls sein, damit sich die GMDS als Fachgesellschaft dem Thema nähert. Sie können als Start für einen GMDS-weiten Diskussionsprozess dienen, der dann zum Beispiel in einem Positionspapier münden könnte, wie ihn andere Fachgesellschaften bereits vorgelegt haben.

Nachhaltigkeit in der Hochschullehre

Die Zusammenstellung der Ergebnisse der Diskussionen im Workshop ist ein Start für weitere breitere Diskussionen im Rahmen der GMDS. Viele Themengebiete wurden nicht diskutiert, wie zum Beispiel das Thema „Nachhaltigkeit in der Hochschullehre“. Das mag zunächst überraschen, ist vermutlich aber der Tatsache geschuldet, dass der Workshop dediziert in den Kontext der GMDS als „wissenschaftlicher Fachgesellschaft“ gestellt worden war. Entsprechend drehten sich die Diskussionen vor allem um wissenschaftliche Projekte; das Thema „Lehre“ wurde nicht angesprochen, sollte aber bei der Fortsetzung der Diskussionen unbedingt berücksichtigt werden. Immerhin gehören Forschung und Lehre untrennbar zusammen, und Hochschulen sind durch ihre Lehre Multiplikatoren von Nachhaltigkeitsthemen in die Gesellschaft hinein.

Klimaschutz als individuelle Verantwortung?

Die Ergebnisse der Diskussionen konnten aus Sicht der Transformationsforschung auf Mikro-, Meso- und Makroebene eingeordnet werden (vgl. Tabelle 1 [Tab. 1]). Während Meso- und Makroebene Handlungsmöglichkeiten auf Team- und Organisationsebene an den Hochschulen widerspiegeln, geht es auf der Mikroebene um individuelle Handlungsmöglichkeiten. Es ist diskutierbar, ob individuelle Handlungsempfehlungen wirksam und sinnvoll sind, so lange gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Strukturen nicht mitgedacht und geändert werden [29]. So sind auch an Hochschulen die Wissenschaflter*innen in vielen Entscheidungen nicht frei. Dienstreisen per Flugzeug können aufgrund der Entfernung zu den Partnern in einem Forschungsprojekt, welches ggf. die eigene Stelle finanziert, unvermeidbar sein. Umso sinnvoller erscheint es, Handlungsempfehlungen gerade für die GMDS als Fachgesellschaft auf struktureller Ebene zu entwickeln, wie zum Beispiel zur Forschungs- und Förderungspolitik, zur Organisation von Fachtagungen oder zur Lehre. Auf individueller Ebene werden konkrete Handlungsempfehlungen kaum möglich sein. Dort sind Forderungen nach kritischer Reflexion des eigenen Handelns wie in den Ethischen Leitlinien der GMDS [23] zielführender.

Aufruf zum Handeln in der GMDS

Der Umgang mit der Klimakrise erfordert weltweites und gemeinsames Handeln. Wie Coiera und Magrabi schreiben: „The work ahead of us is urgent and hard, and the time left to avoid the worst of projected climate change impacts is narrowing quickly”. [22]

Die GMDS als Fachgesellschaft kann hier für die vertretenen Fachbereiche und ihre Mitglieder eine wichtige Vorreiterrolle und Vorbildfunktion einnehmen. Sie kann helfen, Rahmenbedingungen für klimafreundliches Handeln in vielen Bereichen (wie z.B. Tagungsorganisation, Projekteinwerbung, ethische Reflexion) zu setzen. Dies entlässt uns als Mitglieder aber nicht aus der Verantwortung, in unserem direkten Umfeld aktiv zu werden.

Otto Scharmer formuliert im Kontext der Klimakrise drei Illusionen, welchen wir oft anhängen würden [24]. Die „ecological separation“ beschreibt die Annahme, dass wir als Menschen von der Natur abgekoppelt seien. Statt also anzuerkennen, dass wir Teil der Natur und des Ökosystems sind, betrachten wir die Natur nur als eine Ressource. Die „social separation“ beschreibt die Annahme, dass sich das „ich“ von den „anderen“ abtrennen lässt. Ein Beispiel für diese illusorische Trennung ist die Argumentation, dass „wir in Deutschland“ nicht handeln müssen, solange „die in China“ es nicht auch tun. Die „individual separation“ beschreibt die Annahme, dass sich mein derzeitiges und mein zukünftiges Ich trennen lässt. So fühlt sich ein Individuum beispielsweise hilflos, da die in der Zukunft liegenden Handlungspotenziale nicht wahrgenommen werden. Alle drei Illusionen behindern uns dabei, adäquat mit der Klimakrise umzugehen.

Die Transformationsforschung beschreibt notwendigen Wandel in drei Schritten: Zunächst müssen gewohnte Strukturen und Prozesse losgelassen werden. Dies bedeutet auch, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun (z.B. Restmittel ausgeben) oder bestimmte Projekte nicht mehr durchzuführen. Dadurch entsteht Raum und Möglichkeit für Neues. Erst dann kann das Neue ausprobiert und verstetigt werden.

Veränderungen erfordern Mut und auch die Fähigkeit, Unsicherheit auszuhalten. Die im Workshop erarbeiteten Ideen sollen als Kristallisationskerne dienen, um weitere Ideen und realistische Handlungsoptionen zu identifizieren und aktiv zu werden.

Die im Workshop begonnene Vernetzung zwischen Interessierten und Engagierten soll daher in den nächsten Monaten fortgesetzt werden. Geplant ist die Einrichtung einer Projektgruppe und später Arbeitsgruppe zum Themenbereich „Klimawandel, Digitalisierung und Gesundheit“.

Wir laden alle Leser:innen ein, sich in dieser Projektgruppe aktiv einzubringen. Eine E-Mail-Liste ist im Aufbau, um weitere Aktionen im Rahmen der GMDS zu diskutieren und zu initiieren. Unter dieser Kontaktadresse können sich Interessierte melden: elske.ammenwerth@umit-tirol.at

Wir brauchen uns gegenseitig – um uns Mut zu machen, Ideen auszutauschen und gemeinsam zu entwickeln und um wirksam zu werden für mehr Gesundheit in der Bevölkerung.


Anmerkungen

Danksagung

Wir bedanken uns bei allen Teilnehmer:innen am Workshop für die engagierten Beiträge sowie bei Felix Holl, Stefan Rühlicke und Jakob Thiel für die Kommentierung dieses Beitrags.

Interessenkonflikte

Die Autor:innen erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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