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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Freier Zugang zu Dokumentationsformularen und Merkmalskatalogen im Gesundheitswesen. Memorandum „Open Metadata“

Open access to documentation forms and item catalogs in healthcare. Memorandum “Open Metadata”

Übersichtsarbeit

  • corresponding author Martin Dugas - Institut für Medizinische Informatik, Universität Münster, Deutschland
  • Karl-Heinz Jöckel - Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE), Universitätsklinikum Essen, Deutschland
  • Olaf Gefeller - Institut für Medizininformatik, Biometrie und Epidemiologie (IMBE), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland
  • Petra Knaup-Gregori - Institut für Medizinische Biometrie und Informatik, Universität Heidelberg, Deutschland
  • Tim Friede - Institut für Medizinische Statistik, Universität Göttingen, Deutschland
  • Elske Ammenwerth - Institut für Medizinische Informatik, University for Health Sciences, Medical Informatics and Technology (UMIT), Hall in Tirol, Österreich
  • Meinhard Kieser - Institut für Medizinische Biometrie und Informatik, Universität Heidelberg, Deutschland
  • Hans-Ulrich Prokosch - Lehrstuhl für Medizinische Informatik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2014;10(1):Doc01

doi: 10.3205/mibe000150, urn:nbn:de:0183-mibe0001504

Published: February 18, 2014

© 2014 Dugas et al.
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Zusammenfassung

Derzeit ist der Großteil von Formularen und Merkmalskatalogen im Gesundheitswesen nicht öffentlich zugänglich. Dies betrifft sowohl klinische Informationssysteme als auch Case Report Forms (CRFs) aus Studien. Ein freier Zugang zu medizinischen Dokumentationsformularen könnte wesentlich zur Weiterentwicklung von Informationssystemen im Gesundheitswesen und der vernetzten medizinischen Forschung beitragen und sollte daher umgesetzt werden, soweit dies rechtlich möglich ist.

Abstract

Currently, most of the documentation forms and item catalogs in healthcare are not accessible to the public. This applies both to clinical information systems and case report forms (CRFs) from studies. Open access to medical documentation forms could substantially improve information systems in healthcare and networked medical research. Therefore it should be implemented, wherever possible from a legal point of view.


Gegenstand und Problemstellung

Die medizinische Dokumentation ist Grundlage fast aller medizinischer Informationssysteme. Sowohl in der Versorgung von Patienten als auch der medizinischen Forschung erfolgt die Dokumentation in der Regel mittels einer Vielzahl von Datenerfassungsformularen (im Englischen beispielsweise „assessment forms“ oder „case report forms“ genannt) welche nachfolgend als Dokumentationsformulare bezeichnet werden. In der Regel werden diese Formulare für Informationssysteme, Studien- oder Registerdatenbanken immer wieder neu entwickelt, angepasst an den jeweiligen Einsatzzweck. Dies betrifft sowohl die verwendeten Datenelemente und deren zugehörige Merkmalskataloge als auch das Layout der Dokumentationsformulare.

Ein Zurückgreifen auf bereits für einen bestimmten Einsatzzweck existierende Formulare könnte nicht nur den Arbeitsaufwand für die Erstellung der Dokumentationsformulare reduzieren, sondern vor allem auch eine bessere Zusammenführbarkeit und Vergleichbarkeit der jeweiligen Dokumentationsinhalte ermöglichen.

Derzeit ist ein sehr hoher Anteil von Formularen im Gesundheitswesen allerdings nicht öffentlich zugänglich. Dies gilt gleichermaßen für Dokumentationsformulare aus der klinischen Versorgung, der klinischen Forschung und der epidemiologischen Forschung:

  • Klinische Versorgung: Die Hersteller von klinischen Informationssystemen stellen medizinische Dokumentationsformulare im Rahmen ihrer Standardverträge ihren Kunden zur Verfügung. Darüber hinaus werden in der Regel an jedem Standort eigene anwendungsspezifische Formulare erstellt. Eine Veröffentlichung der Formularbeschreibungen ist im Allgemeinen nicht zulässig. Dies betrifft praktisch alle Formulararten, insbesondere zur medizinischen Dokumentation, Leistungserfassung, Abrechnungsdokumentation und Qualitätssicherung.
  • Klinische Forschung: Der weit überwiegende Anteil von Case Report Forms (CRFs) in den verschiedenen Arten klinischer Studien ist nicht öffentlich zugänglich, weder für abgeschlossene, noch für laufenden Studien. Dies gilt gleichermaßen für kommerzielle Studien und Investigator initiated trials (IITs). Lediglich die Ein-/Ausschlusskriterien stehen öffentlich zur Verfügung [1] – und diese noch nicht einmal vollständig [2] –, die jedoch nur etwa 1% der CRFs umfassen [3]. Es werden zwar zunehmend Studienprotokolle publiziert, jedoch bisher meist ohne die eingesetzten CRFs.
  • Epidemiologische Forschung: Auch in epidemiologischen Studien und Registerstudien sind die CRFs häufig nicht allgemein zugänglich, sondern werden nur den jeweiligen Projektpartnern zur Verfügung gestellt.

Die Vielfalt an medizinischen Formularen ist sehr groß: Bei ClinicalTrials.gov [1] sind über 150.000 Studien hinterlegt. Allein in Europa gibt es über 800 Hersteller von klinischen Informationssystemen [4], die an jedem Standort (in Deutschland ca. 2.000 Kliniken) individuell parametriert werden. Für jede Studie bzw. jedes Informationssystem kann von einer Größenordnung von mindestens 100 [3] unterschiedlichen Dokumentationsformularen (in klinischen Arbeitsplatzsystemen oft mehr als 1.000) ausgegangen werden.


Abgrenzung

Es geht hierbei nicht um die mittels der Dokumentationsformulare erhobenen vertraulichen Patientendaten, sondern lediglich um Metadaten der Formulare. Zu diesen zählen ihre Datenelemente, Merkmalskataloge und Layoutgestaltungen.


Zielsetzung

Ein freier Zugang zu medizinischen Dokumentationsformularen könnte wesentlich zur Weiterentwicklung von Informationssystemen im Gesundheitswesen und der vernetzten medizinischen Forschung beitragen:

  • Generell: Eine Diskussion über Art und Umfang der zu erfassenden Datenelemente ist möglich, wenn die Dokumentationsformulare frei verfügbar sind. Lernen aus Vorgängerprojekten im Sinne von „best practice“ wird unterstützt. Durch Diskussion und Konsensus können kompatible Datenstrukturen entstehen, die eine spätere Zusammenführung von Daten erleichtern.
  • Medizinische Versorgung und öffentliches Gesundheitswesen: Die Entwicklung von Schnittstellen zwischen Informationssystemen wird erleichtert, insbesondere Dokumentationskontext und semantische Bedeutung der Dateninhalte können besser berücksichtigt werden. Dies würde über die bisher definierte Datenübermittlungssyntax hinaus auch deren konsistente Verwendung in unterschiedlichen Informationssystemen unterstützen. Darüber hinaus kann bei der Erstellung von anwendungsspezifischen Dokumentationsformularen von den Erfahrungen anderer Einrichtungen profitiert werden.
  • Medizinische Forschung: Ein freier Zugang zu medizinischen Formularen könnte die Entwicklung von CRFs für neue Studien beschleunigen und die Qualität der Dokumentationsverfahren verbessern, weil ein Vergleich mit ähnlichen Projekten möglich wird. Dies ist gerade durch die gestiegenen regulatorischen Anforderungen von besonderer Bedeutung. Durch öffentlich zugängliche Formulare kann schneller und eingehender beurteilt werden, welche Datenquellen sich grundsätzlich für zusammenführende Auswertungen verschiedener Datenquellen (Evidenz-Synthese, Metaanalyse) eignen. Zudem können diese Informationen bei der Planung neuer Studien dienlich sein, wenn beabsichtigt wird, diese später mit anderen Studien gemeinsam auszuwerten. Dies steht im Einklang mit internationalen Aktivitäten zu mehr Transparenz bei klinischen Studien [5].
  • Rechtliche und ethische Aspekte: Durch öffentlich zugängliche medizinische Formulare wird dem Gebot der Transparenz im Datenschutz und der informationellen Selbstbestimmung Rechnung getragen. Der Bürger hat grundsätzlich einen Anspruch darauf zu erfahren, welche Art von Daten über ihn gesammelt werden sollen, bevor er der Datenverarbeitung zustimmt.

Die Erarbeitung von medizinischen Dokumentationskonzepten ist in der Regel sehr arbeitsaufwändig. Daher ist es wichtig, dass medizinische Formulare in geeigneter Form (vgl. z.B. [6]) veröffentlicht werden und die Autoren dieser Formulare entsprechend zitiert werden. Einschränkungen hierbei können sich durch Betriebsgeheimnisse (z.B. in Bezug auf Merkmalskataloge bei verwendeten medizinischen Produkten) und Copyright-Regelungen (lizenzpflichtige kommerzielle Merkmalskataloge, wie z.B. bestimmte Arzneimittelkataloge, oder lizenzpflichtige Fragebögen) ergeben.


Empfehlungen

Die Autoren dieses Memorandums geben folgende Empfehlungen an die Entwickler und Anwender von Formularen im Gesundheitswesen, insbesondere im wissenschaftlichen Kontext:

1.
Die im Gesundheitswesen verwendeten Dokumentationsformulare und Merkmalskataloge für Patientenversorgung und Forschung sollten grundsätzlich öffentlich zugänglich und möglichst frei nutzbar sein, soweit dies rechtlich möglich ist.
2.
Hersteller von klinischen Informationssystemen sollten die Beschreibungen der in ihren Informationssystemen verwendeten Formulare offenlegen, soweit dies rechtlich möglich ist. Sie sollten ihren Kunden weiterhin das Recht einräumen, selbst entwickelte Dokumentationsformulare offen zu legen und untereinander auszutauschen.
3.
Dokumentationsformulare aus allen Studientypen sollten möglichst frühzeitig publiziert werden. Dies sollte vorzugsweise zusammen mit dem Studienprotokoll am Beginn der Studie, spätestens aber bei Publikation der Studienergebnisse geschehen.
4.
Bei Publikationen sollten die Quellen der entwickelten Dokumentationsformulare (z.B. ähnliche Formulare, aus denen eine Teilmenge von Datenelementen übernommen wurde) zitiert werden.
5.
Dokumentationsformulare sollten in geeigneter Weise publiziert werden, so dass sie dauerhaft zur Verfügung stehen (z.B. als Supplement zu einer wissenschaftlichen Publikation oder in einem Repository) und für eine weitere Nutzung technisch geeignet sind (in Computer-verarbeitbarem Format, vorzugsweise als semantisch annotierter Katalog von Datenelementen).
6.
Internationale Standards (u.a. CDISC ODM [7], ISO/IEC 11179 [8], CEN/ISO EN13606 [9], HL7 CDA [10]) sollten für die Beschreibung von Dokumentationsformularen in Computer-verarbeitbarem Format eingesetzt und weiterentwickelt werden.

Anmerkung

Dieses Memorandum wurde auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft der Fachvertreter für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie erarbeitet.


Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
ClinicalTrials.gov. Available from: http://www.clinicaltrials.gov [accessed 2013 Oct 4] External link
2.
Bhattacharya S, Cantor MN. Analysis of eligibility criteria representation in industry-standard clinical trial protocols. J Biomed Inform. 2013 Oct;46(5):805-13. DOI: 10.1016/j.jbi.2013.06.001 External link
3.
Getz K. Protocol Design Trends and their Effect on Clinical Trial Performance. RAJ Pharma. 2008 May:315-6. Available from: http://csdd.tufts.edu/_documents/www/2816Getz.pdf External link
4.
EuroRec. Available from: http://www.eurorec.org [accessed 2013 Oct 4] External link
5.
Drazen JM, Morrissey S, Curfman GD. Open clinical trials. N Engl J Med. 2007 Oct 25;357(17):1756-7. DOI: 10.1056/NEJMe0706501 External link
6.
Breil B, Kenneweg J, Fritz F, Bruland P, Doods D, Trinczek B, Dugas M. Multilingual Medical Data Models in ODM Format: A Novel Form-based Approach to Semantic Interoperability between Routine Healthcare and Clinical Research. Appl Clin Inform. 2012 Jul 11;3(3):276-89. DOI: 10.4338/ACI-2012-03-RA-0011 External link
7.
Clinical Data Interchange Standards Consortium (CDISC). Operational Data Model (ODM). Available from: http://www.cdisc.org/odm [accessed 2013 Oct 4] External link
8.
ISO/IEC 11179. Information Technology – Metadata registries (MDR). Available from: http://metadata-standards.org/11179/ [accessed 2013 Oct 4] External link
9.
CEN/ISO EN13606. Health informatics – Electronic Health Record Communication. Available from: http://www.en13606.org/ [accessed 2013 Oct 4] External link
10.
Dolin RH, Alschuler L, Boyer S, Beebe C, Behlen FM, Biron PV, Shabo Shvo A. HL7 Clinical Document Architecture, Release 2. J Am Med Inform Assoc. 2006 Jan-Feb;13(1):30-9. DOI: 10.1197/jamia.M1888 External link