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ISSN 1865-066X

Erwin Chargaff - zum 100. Geburtstag am 11. August 2005

Würdigung

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  • corresponding author Wolfgang Löw - Leibnitz-Institut für Neurobiologie (IfN), WIB, Magdeburg, Deutschland

GMS Med Bibl Inf 2005;5(3):Doc11

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Published: December 21, 2005

© 2005 Löw.
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Chargaffsche Regeln

1.
Die Basenzusammensetzung der DNA ist von Spezies zu Spezies unterschiedlich.
2.
DNA-Proben aus unterschiedlichen Geweben sind gleich.
3.
Die Basenzusammensetzung der DNA einer Spezies ist unabhängig von Alter, Ernährungszustand und Lebensraum.
4.
In allen DNA-Molekülen gilt: A=T und C=G und A+G=C+T

http://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Chargaff


Würdigung

Der Biochemiker August Erwin Chargaff [Abb. 1] lieferte als Wissenschaftler wichtige Beiträge zur Entschlüsselung der DNA. Nach seiner Emeritierung in den 70er Jahren begann er „ein zweites Leben“ und macht er sich – im Stil seines Vorbilds Karl Kraus - als geschliffener und kritischer Essayist auch außerhalb der Welt der Forschung einen Namen.

Er wurde 1905 in Czernowitz geboren, der Hauptstadt der damaligen k.u.k.-Bukowina. Sein Leben umspannt die Welt von vor dem 1. Weltkrieg bis zum „virtuellen Zeitalter“, denn er verstarb – sozusagen erst vor kurzem (am 20. Juni 2002) – mit fast 97 Jahren.

Die Eltern verzogen 1914 nach Wien, dort er ging er zum Gymnasium und studierte ab 1923 zunächst kurz Philologie. Er hörte auch Karl Kraus. Wie es heißt – aus materiellen Zwängen - wandte er sich der Chemie an der Technischen Hochschule zu. Nach den Studienjahren und der Promotion in Wien, folgten 1928 – 1930 ein Stipendiumaufenthalt in Yale und schließlich 4 Jahre als Assistent an der Berliner Universität.

Nach der Machtergreifung der Nazis verließ er notgedrungen 1934 mit seiner Frau Deutschland und arbeitete als Biochemiker am berühmten Institut Pasteur in Paris. 1935 erreichte ihn der Ruf an die New Yorker Columbia Universität, wo er bis zur Emeritierung 1974 blieb.

1950 publiziert Chargaff einen Bericht, wonach Desoxyribonukleinsäuren aus verschiedenen Abfolgen der Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin zusammengesetzt sind: Diese Basenpaarung geht als Chargaff-Regel in die Lexika ein. Seine Forschungsarbeiten zur quantitativen Basenzusammensetzung der Nukleinsäuren waren damit ein wesentlicher Schritt zur Entschlüsselung der Erbsubstanz und eine Voraussetzung zur Aufstellung des Watson-Crick-Modells der DNS.

Erwin Chargaff hat sich der rasant entwickelnden Gentechnik als Mahner entgegengestellt und (vielleicht weil sein Geburtstag mit dem Atombombenabwurf über Nagasaki zusammenfällt) von „Misshandlung des zweiten Kerns“ nach dem Atom geschrieben. Als kompetenter Rebell gegen Wissenschafts-. und Fortschrittswahn hat er Meilensteine gesetzt. Mit seinem an Karl Kraus geschultem Blick, lieferte er als Essays, Aphorismen und Texte, die wegen ihrer Brilliant und Aktualität in eine biowissenschaftliche Bibliothek gehören.

Empfehlenswert: Die Aussicht vom 13. Stock – rez. in http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/164117/

Der Karl Kraus der Naturwissenschaften http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kalenderblatt/405533/ (Audio on demand kann angeklickt werden – mit orig. Stimme Chargaffs)


Zitate

Chargaffsche Aphorismen

"Kultur ist die Fähigkeit, das öffentlich Vorhandene privat zu genießen."

"Von dem senilen Satiriker: Er persifliert schon auf dem letzten Loch."

"Nichts ist fürchterlicher, als im Netz einer zaghaften Spinne gefangen zu sein."

"Sein Nekrolog, an dem er sein ganzes Leben schrieb, wurde irrtümlich mit ihm begraben."

"Er hatte sein Leben der Nichtlösung von Rätseln, der Bewahrung von Geheimnissen geweiht."

"Da ihm schon alle Worte ausgefallen sind, hat er sich eine falsche Syntax einsetzen lassen."

"Sozialdemokratie: Bei schlechtem Wetter findet die Revolution im Saale statt."

"Nichts altert schneller als ein Wunderkind."

"Wenn wir mit einem Garantieschein geboren würden, wüßten wir, wann wir sterben würden: einen Tag nach Ablauf der Garantie.“

Massenmedien

Die Wendung "die Massenmedien" ist mir besonders lieb und wert, denn sie hat mir gezeigt, welche Macht ein Wort an einer Stelle hat, wo sonst gar nichts existiert. Ich denke hier natürlich an "Wort" in einem ganz unerhabenen Sinne, nicht an den Logos, der im ersten Vers des Johannesevangeliums beschworen wird. Von dem Begriff "die Massenmedien" würde ich sagen, daß er (wenn auch die Sprachgeschichte anders urteilen mag) die Massenhaftigkeit eher selbst geschaffen hat, als daß er von den Massen geschaffen worden wäre. In den alten Zeiten gab es Menschen, Männer und Frauen, Leute, jetzt gibt es Massen. Die Leute produzieren, die Massen konsumieren. Die Leute bauen, die Massen zerstören. Während nur ein einzelner Geist etwas erschaffen kann, wird das Produkt von vielen Leuten genossen; den Massen aber muß man nur sagen, sie sollen es unbesehen beklatschen. Worte, Slogans, Werbesprüche besitzen eine dämonische, demiurgische Macht, die nur selten wirklich wahrgenommen wird.

Keine der anderen mir bekannten Sprachen besitzt eine so üppige Informationsquelle zu Wachstum und Verfall von Wörtern und Begriffen wie das Englische. Ich spreche hier von dem großen Oxford English Dictionary mit seinem unerschöpflichen Vorrat an Beispielen und Anwendungen. Die Bezeichnung `die Massen´, die in dem hier zugrundegelegten Sinne im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts im Englischen heimisch wurde, hat eine sehr elitäre Ahnenreihe und geht zurück auf die lateinischen plebs und vulgus. Dieser amorphe Haufen einer ungezählten Menschheit, katzbuckelnd und knurrend, hat immer Nase und Ohr der Gebildeten beleidigt. "Odi profanum vulgus et arceo" (Ich hasse die gemeine Menge und halte sie mir fern), schrieb Horaz. Der bekannte antike Slogan `Panem et circenses´ (Man gebe ihnen Brot und Zirkusspiele) steht als direkter Vorläufer der Rockkonzerte im Central Park da (bei denen allerdings, nehme ich an, die Bagel nicht gratis verteilt werden).

Aus: Erwin Chargaff, Ernste Fragen. Essays, aus dem Englischen von Joachim Kalka
Klett-Cotta, Stuttgart 2000