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91. Jahrestagung der Vereinigung Südwestdeutscher Hals-Nasen-Ohrenärzte
13ème Rencontre Régional d'ORL Saar-Lor-Lux

28. - 29.09.2007, Kaiserslautern

Tinnitus bei Kindern – von der Pathologie zur Utilisation

Meeting Abstract

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Vereinigung Südwestdeutscher Hals-Nasen-Ohrenärzte. 91. Jahrestagung der Vereinigung Südwestdeutscher Hals-Nasen-Ohrenärzte, 13ème Rencontre Régional d'ORL Saar-Lor-Lux. Kaiserslautern, 28.-29.09.2007. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2007. Doc07hnosw17

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/hnosw2007/07hnosw17.shtml

Veröffentlicht: 27. November 2007

© 2007 Marek et al.
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Gliederung

Text

Einleitung: Gegenstand dieser Diskussion ist der subjektive Tinnitus im Kindes- und Jugendalter. Nicht eingeschlossen sind objektivierbare, körpereigene Strömungsgeräusche. Die Prävalenz für Tinnitus im Kindesalter wird je nach Studie bis zu 36% angegeben. Mädchen und Jungen sind gleich häufig von Tinnitus betroffen. Im Vergleich dazu geben 35-40% der Erwachsenen an, Tinnitus an sich selbst zu kennen. Der überwiegende Anteil unter den Kindern mit Tinnitus zeigt eine Hörstörung. Tinnitus bei Kindern ist oft mit Mittelohrpathologien, Kopftrauma, Meningitis, Innenohrschwerhörigkeit und Hörsturz verbunden. Der gemeinsame Nenner dieser mit Tinnitus verbundenen Faktoren ist die sensorische Inputstörung. Wird umgekehrt der sensorische Input verbessert, zum Beispiel bei entsprechender Indikation durch ein Cochlea-Implantat, ist eine deutliche Reduktion der empfundenen Tinnitusstärke zu verzeichnen. In der Altersgruppe der 9-16-Jährigen ist das Risiko für geräuschinduzierten Tinnitus besonders hoch. Bei der relativ hohen Prävalenz verwundert es, dass nur etwa 6% der betroffenen Kinder spontan über Tinnitus klagen.

In der internationalen Literatur wird Tinnitus als ein neurales Aktivitätsmuster im auditorischen Cortex beschrieben. Zudem verursacht Geräuschexposition ausreichender Dauer und Intensität Schäden am peripheren Gehörsystem, die zur Reorganisation der kortikalen tonotopen Landkarte führen. Es finden sich zahlreiche Hinweise für den auditorischen Cortex als Ort der Tinnituspräsenz. Hierzu zählen der tierexperimentelle Nachweis von plastizitätsrelevanten Proteinen im auditorischen Cortex nach experimenteller Tinnitusauslösung, die Untersuchungen zur Dendritensystematik nach akustischer Deprivation und cochleärer Stimulierung, die magnetencephalographischen und F-MRTUntersuchungen. Tinnitus wird in bisher veröffentlichten Publikationen und in bestehenden Modellen übereinstimmend als ein pathologisches Phänomen im Sinne einer abnormalen Aktivität und eines maladaptiven Prozesses im auditorischen System interpretiert. Ein Teil der von Tinnitus betroffenen Kinder hat Leidensdruck. Dennoch fehlen in den bisher entwickelten Tinnitus-Modellen die Beweise für das Korrelat der biologischen Maladaptation.

Methode: Wir haben an der HNO-Universitätsklinik in Bochum ein neues theoretisches Tinnitus-Modell entwickelt, in welchem Tinnitus nicht unter maladaptiven, sondern utilisatorischen Aspekten betrachtet wird. Zentrale Grundlage dieses Modells ist die tonotope Organisation im auditorischen System. Die frequenzabgängige Ordnung setzt sich entlang der gesamten Hörbahn bis zur Repräsentation im auditorischen Cortex fort. Störungen des sensorischen Input wirken auf das gesamte auditorische System. Wir haben die Phänomenologie bei Tinnitus untersucht und am Beispiel der Tinnitusmanifestation mit zeitgleich bestehender Hörstörung unter den Aspekten Maladaptation und Utilisation analysiert.

Ergebnisse: Bei einem bestehenden Hörverlust zeigt der korrespondierende Hörkurvenverlauf eine regelhafte, sehr feine Übereinstimmung bezüglich der Frequenz und der Verdeckbarkeit des Tinnitus. Tinnitus tritt im Frequenzbereich einer Inputstörung und nahe der Hörschwelle auf. Zudem besteht eine funktionale Beziehung zwischen der Tonhöhe des Tinnitus und dem audiometrischen Steilabfall. Dieser Steilabfall drückt den funktionellen Abbruch in der Kontinuität der tonotopen Achse aus. Explizit in diesem Bereich sehen wir Tinnitus in unserem Modell als ein mögliches Nutzsignal zum Erhalt der Kontinuität des Höreindruckes und der subjektiven Hörwahrnehmung.

Folgende Charakteristika in der Phänomenologie von Tinnitus sind nach unserer Auffassung Hinweise für einen utilisatorischen Prozess: Multiformität, Varianz, enges Frequenzspektrum, Latenzzeit, Selektivität, Lateralität und Reversibilität.

Schlussfolgerungen: Derart feine neurale Abstufungen und Angleichungen auditiver Leistungen sind nach unserer Auffassung kein Anzeichen einer biologischen Maladaptation, sondern vielmehr Ausdruck eines evolutionsbiologisch nutzbaren Prozesses im auditorischen Cortex. Tinnitus hat in dem Bochumer Utilisationsmodell demzufolge eine modulatorische Funktion in neuralen Aktivitätsmustern und ist an der funktionellen Formung der Tonotopie im auditorischen Cortex beteiligt. Der evolutionsbiologische Nutzen von Tinnitus könnte hier in der Sicherung des Erkennens erlernter Höreindrücke liegen, selbst wenn diese durch peripheren Frequenzausfall nicht mehr zur Verfügung stehen.

Für die Kinder mit einem Leidensdruck durch Tinnitus sehen wir die folgende Stufenempfehlung als sinnvoll an: jede spontane Angabe zu Tinnitus von einem Kind muss ernst genommen werden. Frühe und konsequente Erfassung und Behandlung von Hörstörungen zur Verbesserung des sensorischen Input sind notwendig. Gefährdungen durch lautes Spielzeug und andere Geräuschbelastungen sind präventiv zu beachten, ebenso die affektiven Risikofaktoren, wie Ängste und Depressionen. Zur gezielten Reduktion des Leidensdruckes stehen verhaltenstherapeutische Behandlungsmaßnahmen zur Verfügung.