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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Ambulante Inanspruchnahme einer zentralen Notaufnahme in ruraler Umgebung: Qualitative Befragung zur Motivation von Patienten ohne dringlichen medizinischen Handlungsbedarf

Meeting Abstract

  • Martina Schmiedhofer - Charité-Universitätsmedizin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Campi-Nord, Berlin, Deutschland
  • Julia Searle - Charité - Universitätsmedizin Berlin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Nord-Campi, Berlin, Deutschland
  • Anna Slagman - Charité-Universitätsmedizin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Nord-Campi, Berlin, Deutschland
  • Johann Frick - Charite Universitätsmedizin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Nord-Campi, Berlin, Deutschland
  • Martin Möckel - Charite Universitätsmedizin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen, Berlin, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP111

doi: 10.3205/16dkvf148, urn:nbn:de:0183-16dkvf1485

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Schmiedhofer et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Patienten ohne notfallmedizinischen Versorgungsbedarf suchen zur akutmedizinischen Behandlung zunehmend Notaufnahmen auch während der Sprechzeiten niedergelassener Ärzte auf. Leitfadengestützte Befragungen zu den Motiven von Notaufnahmepatienten an zwei Großstadtkliniken ergaben als Hauptmotive neben der Substitution nicht oder spät verfügbarer Haus- oder Facharzttermine größerer Zeitautonomie, den Qualitätsstandard eines Krankenhauses sowie die Option multidisziplinärer Untersuchungen während eines einzigen Termins. Die Befragten berichteten auch, zur Mit- oder Weiterbehandlung oder zur Überbrückung von Wartezeiten durch ambulante Arztpraxen auf die Ressourcen der Rettungsstellen verwiesen worden zu sein. Patienten mit erhöhter Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Beschwerden suchten die Notaufnahme komplementär zur Haus- oder Facharztversorgung auf. Die Ergebnisse der in einer Großstadt durchgeführten Befragungen können aufgrund des engmaschigen Nahverkehrsnetzes und des hohen Versorgungsgrades mit niedergelassen Ärzten nur eingeschränkt auf die Nutzung in ländlichen Regionen übertragen werden. Daher wurde eine weitere Befragung an der Notaufnahme einer ländlichen Region durchgeführt.

Fragestellung und Methode: Ziel war, Motive zum Aufsuchen einer Notaufnahme ohne dringlichen Handlungsbedarf in ruraler Umgebung zu erfassen und denen der Patienten aus urbaner Umgebung gegenüberzustellen. Von Oktober 2014 bis Juli 2015 wurden 31 leitfadengestützte Interviews an der Notaufnahme eines Krankenhauses der Schwerpunktversorgung einer sachsen-anhaltinischen Stadt mit Mittelzentrumsfunktion durchgeführt. Die Hälfte der Befragten wohnte in der Stadt, die andere Hälfte im bis 25 km Radius entfernten Einzugsgebiet. Die Auswertung erfolgte mit der Qualitativen Inhaltsanalyse unterstützt durch MAXQDA®11.

Ergebnisse: Als Hauptmotive gaben die Befragten die Erwartung medizinischer Hilfe auf Krankenhausniveau sowie die Substitution spezialärztlicher Behandlung an. Ein Drittel der Befragten begründete das gezielte Aufsuchen der Notaufnahme mit dem Ziel schneller Wiederherstellung der Arbeitskraft durch effektivere Behandlung oder der Vermeidung von Arbeitsausfall durch Aufsuchen der Notaufnahme außerhalb der Arbeitszeiten. Bisher nur unbefriedigend behandelte oder diagnostizierte Symptome führten Patienten zur Mitbehandlung in die Notaufnahme. Auch wurde berichtet, von den Hausärzten an die Notaufnahme verwiesen worden zu sein.

Übereinstimmend heben die Patienten beider Regionen die Vorzüge von Notaufnahmen gegenüber niedergelassenen Ärzten hervor: jederzeitiger Zugang und Behandlungsstandard auf Krankenhausniveau, die von unterschiedenen Motiven adressiert werden. Die Befragten der ruralen Umgebung berichteten überwiegend über eine hausärztliche Bindung mit unproblematischem Sprechstundenzugang. Bei einem angenommenen Spezialärztlichen Bedarf steuerten sie jedoch direkt die Notaufnahme an. Während viele Befragte der urbanen Region den edizinischen Ruf der aufgesuchten Krankenhäuser hervorhoben, wurde in der ruralen Umgebung die persönliche Bindung an die vertraute Klinik betont. Übereinstimmungen beider Befragtengruppen finden sich bei verunsicherten Patienten auf der Suche nach medizinischer Hilfe und der berichteten Weiterleitung durch niedergelassene Ärzte zur Mit- oder Weiterbehandlung.

Diskussion und praktische Implikationen: Notaufnahmen in urbaner und ruraler Region werden als eigenständiges ambulantes Versorgungsangebot nachgefragt und erhalten dabei eine sektorenübergreifende Funktion. Patienten suchen den jeweils ihren Bedürfnissen nach Zeitautonomie oder medizinischer Qualität entsprechenden Behandlungsort auf und verhalten sich damit subjektiv rational. Diese Resultate stimmen mit internationalen und nationalen Forschungsergebnissen überein. Ein zur Entlastung der Notaufnahmen von Patienten ohne notfallmedizinische Problematik erforderlicher Handlungsbedarf ist unumstritten. Die vom Gesetzgeber vorgegebenen Terminservicestellen für die Vermittlung fachärztlicher Behandlungen zeigen bisher nur geringe Effekte. Allerdings ist die Substitution spezialärztlicher Behandlungen durch einen Notaufnahmebesuch nicht das dominierende Motiv der für diese Arbeit Befragten. Ein erfolgreiches Umsteuern nichtdringlicher Notaufnahmepatienten zu niedergelassenen Ärzten muss die Nachfrage bestimmenden Motive aufgreifen. Für die eiligen Patienten mit dem Wunsch nach umfassendem Diagnosemöglichkeiten könnte dies ein niedrigschwellig zugängliches, zeitlich umfassendes akutmedizinisches Versorgungsangebot in der Nähe oder an einem Krankenhaus sein, das den Zugang zum diagnostischen Angebot des Krankenhauses einschließt. Die Gruppe verunsicherter und besorgter Patienten, die sich bereits in ambulanter Behandlung befindet, könnte durch verstärkte Arzt-Patientenbeziehungen einschließlich engerer Kooperation mit Spezialärzten eine sie zufrieden stellende Behandlung erhalten. Zur Implementierung nachhaltiger Umsteuerung besteht weiterer Forschungsbedarf.