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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Dysphagie als Spätfolge nach Radiotherapie von Kopf-Hals-Tumoren

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Heidrun Schröter-Morasch - EKN Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie, Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung, LMU, München, Deutschland
  • author Ulrike Starrost - Klinik für Frührehabilitation und Medizinische Rehabilitation, Städtisches Klinikum München GmbH, Klinikum Bogenhausen, München, Deutschland
  • author Leonhard Fischbacher - Klinik für Frührehabilitation und Medizinische Rehabilitation, Städtisches Klinikum München GmbH, Klinikum Bogenhausen, München, Deutschland
  • author Wolfram Ziegler - EKN - Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung LMU, München, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocV14

doi: 10.3205/16dgpp33, urn:nbn:de:0183-16dgpp333

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Schröter-Morasch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Untersuchungen von Langzeitfolgen einer Radiotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren beschränken sich meist auf einen posttherapeutischen Zeitraum von 5 bis 6 Jahren, die weiterreichenden Schädigungen sind weitgehend unbekannt. Daher analysierten wir eine Gruppe von 12 Patienten mit unterschiedlichen Kopf-Hals-Tumoren, bei welchen nach jahrelangem beschwerdefreien Intervall z.T. lebensbedrohliche Symptome mit schwerster Aspirationssymptomatik aufgetreten waren.

Material und Methoden: Wir analysierten retrospektiv die Daten aus Krankenakten und Untersuchungsbefunden von 12 Patienten (N=12, 4w, 8m), Alter: 44–81 J., M 63 J.. Das Alter zum Zeitpunkt der Radiatio betrug 27–61 Jahre (M 49 J). Es handelte sich um unterschiedliche Tumorerkrankungen, in der Mehrzahl um Oropharynx- und Zungengrundtumore (n=7). Anhand der klinischen Untersuchung, der videoendoskopischen Überprüfung der Schluckfunktion sowie der videofluoroskopischen Untersuchung des Schluckvermögens wurden die pathophysiologischen Ursachen der Dysphagie erfasst und therapeutische Interventionen definiert.

Ergebnisse: Die Zeitspanne bis zum Auftreten relevanter Schluckbeschwerden seit der Behandlung bei diesen Patienten betrug 10–27 Jahre (M 12 Jahre)! Wiederholt war es in dieser Zeit zu Fehlinterpretationen der Beschwerden gekommen (ALS, Systematrophie). Die pathophysiologischen Ursachen der Schluckstörung ließen sich sowohl lokalen strukturellen Schädigungen einschließlich Gefäßdestruktionen zuordnen als auch neurogenen Störungen aufgrund von Hirnstamm- und Rückenmarksläsionen oder Läsionen peripherer Hirnnerven.

Diskussion: Bei der Beschreibung der Schädigungen durch alleinige oder kombinierte strahlentherapeutische Verfahren werden die Symptome, welche nach weit über 10 Jahren auftreten können, noch unzureichend erfasst und dokumentiert. Eine frühzeitige Erkennung einer beginnenden Symptomatik ist essentiell, um den Betroffenen durch geeignete Funktionelle Therapiemaßnahmen, welche lebenslang notwendig sein können, möglichst lange eine orale Nahrungsaufnahme zu erhalten.

Fazit: Bei Bestrahlungspatienten besteht bisher offensichtlich auch das Risiko substanzieller Veränderungen nach jahrelangem beschwerdefreien Intervall. Eine entsprechende Aufklärung, weitreichendere Kontrolluntersuchungen als bisher und eine adäquate umfassende Therapie erscheinen angezeigt. Diese Spätschädigungen sollten auch in Vergleichsbewertungen operativer und radiologischer Therapieverfahren bei Kopf-Hals-Tumoren Berücksichtigung finden.


Text

Hintergrund

Untersuchungen von Langzeitfolgen einer Radio(chemo)therapie bei Kopf-Hals-Tumoren beschränken sich meist auf einen posttherapeutischen Zeitraum von 5 bis 6 Jahren [1]. In unserer Klinik wurden jedoch immer wieder Patienten aufgenommen, bei welchen nach alleiniger oder adjuvanter Radio(chemo)therapie von unterschiedlichen Kopf-Hals-Tumoren nach jahrelangem beschwerdefreien Intervall z.T. lebensbedrohliche Symptome mit schwerster Aspirationssymptomatik und/oder Beeinträchtigungen der oralen Nahrungsaufnahme aufgetreten waren. Daher analysierten wir eine Gruppe von 12 Patienten, um Charakteristika von Pathophysiologie und Verlauf dieser „late-onset dysphagia“ [2] zu erfassen und mögliche präventive und therapeutische Konsequenzen herleiten zu können.

Material und Methoden

Wir analysierten die Daten aus den Krankenakten und Untersuchungsbefunden von 12 Patienten, welche uns unter dem Verdacht auf eine Dysphagie zugewiesen worden waren (N=12, 4w, 8m), Alter: 44–81 Jahre (Median 63 J.). Das Alter zum Zeitpunkt der Radiatio betrug 27–61 Jahre (Median 49 J.). Es handelte sich um unterschiedliche Tumorerkrankungen, in der Mehrzahl um Oropharynx- und Zungengrundtumore (n=7). Bei 3 Patienten waren Nasopharynx-Carcinome behandelt worden, bei einer Patientin handelte es sich um einen Zustand nach Laryngektomie bei Larynxcarcinom, bei einem weiteren Patienten um einen Z.n. Operation und Bestrahlung eines Carcinoms der Gl. Submandibularis.

Anamnestisch wurden Art und Umfang der Tumortherapie erfasst, soweit sie nach dem Zeitraum von über 10 Jahren eruiert werden konnten, sowie der klinische Verlauf im Hinblick auf Stimm- und Sprechvermögen, die Ernährungssituation sowie den respiratorischen Status.

Anhand (1) der klinischen Untersuchung, (2) der Videoendoskopischen Überprüfung der Schluckfunktion sowie (3) der Videofluoroskopischen Untersuchung des Schluckvermögens wurden die pathophysiologischen Ursachen der Dysphagie erfaßt, ggf. ergänzt durch Bronchoskopie und Ösophagogastroskopie.

Ergebnisse

Die Zeitspanne bis zum Auftreten relevanter Schluckbeschwerden seit der Behandlung bei diesen Patienten betrug 10–27 Jahre (Median 12 Jahre)! Wiederholt wurden die Beschwerden und klinischen Symptome der Patienten in dieser Zeit in bedenklicher Weise fehlinterpretiert mit den Diagnosen Motoneuronerkrankung ALS, Systematrophie und Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung COPD. Bei 10 Patienten war es vor der stationären Aufnahme in unserer Klinik zu rezidivierenden bzw. schwersten Pneumonien gekommen, ohne dass die Diagnose einer Dysphagie als Ursache dauernder Aspirationen gestellt worden wäre mit entsprechend geeigneten Interventionen. 5 Patienten waren tracheotomiert worden. Bei 3 Patienten hatte die notwendige Langzeitbeatmung eine Critical Illness Polyneuropathie (CIPNP) zur Folge, welche ihrerseits das Schluckvermögen beeinträchtigen kann. Alle Patienten wiesen neben der Aspirationssymptomatik auch erhebliche Störungen der oralen Nahrungsaufnahme auf, welche in 11 von 12 Fällen eine Ernährung über eine Percutan-endoskopische Sonde (PEG) erforderlich werden ließen. 10 Patienten berichteten über Stimmstörungen, davon hatten 7 Patienten die Stimmstörung als frühestes Symptom einer „Veränderung im Halsbereich wahrgenommen“.

Als wesentliche pathophysiologische Ursachen ließen sich erkennen:

  • Sensibilitätsstörungen und Schleimhauttrockenheit mit Minderung der Schluckreflexauslösbarkeit, Minderung des reflektorischen Hustens bei Penetration/Aspiration bei allen Patienten
  • Minderung der pharyngealen Kontraktion (einschließlich Zungenbasisretraktion) bei allen Patienten
  • Einschränkung der Anhebung und Anteriorbewegung des Hyoid-Larynxkomplexes bei 9 von 10 Patienten
  • Minderung des Larynxverschlusses bei allen Patienten
  • Einschränkung der Öffnung des oberen Ösophagussphinkters bei 6 von 11 Patienten, (in 4 Fällen Stenosen des OÖS)

Diese Funktionsbeeinträchtigungen ließen sich sowohl lokalen strukturellen Schädigungen einschließlich Gefäßdestruktionen zuordnen, als auch neurogenen Störungen aufgrund von strahlentherapiebedingten Hirnstamm- und Rückenmarksläsionen oder Läsionen peripherer Hirnnerven [3]. Durch Funktionelle Schlucktherapie, Narbenmobilisation, Bougierungen des OÖS in 4 Fällen und eine prothetische Versorgung von 2 Patienten gelangen während des stationären Aufenthaltes Verbesserungen bis zur Dekanülierung in 2 Fällen, in 2 Fällen war eine orale Nahrungsaufnahme wieder möglich und die PEG konnte entfernt werden, in 5 Fällen gelang zumindest eine Teiloralisierung.

Diskussion

Bei der Beschreibung der Schädigungen durch alleinige oder kombinierte strahlentherapeutische Verfahren werden die Symptome, welche nach weit über 10 Jahren auftreten können, noch unzureichend erfasst und dokumentiert. Die fortschreitenden Veränderungen können alle Strukturen betreffen [2] und offensichtlich über einen langen Zeitraum kompensiert werden. Frowen et al. [4] berichten über eine Verschlechterung des Videofluoroskopischen Befundes im Zeitraum von 5 Jahren nach Radiotherapie bei 21 Patienten, jedoch erst 5 Patienten davon zeigten auch eine klinisch manifeste Symptomatik. Zu den in manchen Fällen dramatischen Veränderungen beider Komponenten des Schluckvorganges, sowohl der Bolustransportfähigkeit als auch der Schutzfunktion des Kehlkopfes für die tiefen Atemwege während des Schluckens mögen altersbedingte Veränderungen beitragen und eine reduzierte Allgemeinbefindlichkeit der Patienten, ohne jedoch als ausreichende Erklärung angesehen werden zu können. Bemerkenswert ist die pharyngolaryngeale Funktionsbeeinträchtigung bei allen Patienten, insbesondere auch im Fall der 3 Patienten nach Behandlung von Nasopharynxtumoren [5].

Eine frühzeitige Erfassung einer beginnenden Symptomatik ist essentiell, um zu vermeiden, daß die Patienten durch Mangelernährung und Aspirationspneumonien gefährdet werden, welche auch eine weitere Verschlechterung der Dysphagieproblematik nach sich ziehen können, z.B. durch eine notwendige Langzeitintubation und Tracheotomie. Zudem muss eine geeignete Funktionelle Therapie, evtl. unterstützt durch prothetische Maßnahmen, möglichst früh initiiert werden, welche lebenslang notwendig sein kann.

Fazit

Bei Bestrahlungspatienten besteht offensichtlich das Risiko substanzieller Veränderungen auch nach jahrelangem beschwerdefreien Intervall. Eine entsprechende Aufklärung sowie weitreichendere Kontrolluntersuchungen erscheinen angezeigt, auch über die bisher empfohlenen 5-Jahreskontrolluntersuchungen hinaus [6]. Dabei sollten Patienten, Therapeuten und Ärzte besonders sensibilisiert werden, Frühsymptome wie Änderungen der Stimmqualität und -leistung sowie der Nahrungsaufnahme zu erkennen und einer entsprechenden Diagnostik zuzuführen, um evtl. bereits präventive Maßnahmen ergreifen zu können. Diese Spätschädigungen sollten auch in Vergleichsbewertungen der verschiedenen Therapieverfahren bei Kopf-Hals-Tumoren Berücksichtigung finden.


Literatur

1.
Kraaijenga SA, van der Molen L, van den Brekel MW, Hilgers FJ. Current assessment and treatment strategies of dysphagia in head and neck cancer patients: a systematic review of the 2012/13 literature. Curr Opin Support Palliat Care. 2014 Jun;8(2):152-63. DOI: 10.1097/SPC.0000000000000050 Externer Link
2.
King SN, Dunlap NE, Tennant PA, Pitts T. Pathophysiology of Radiation-Induced Dysphagia in Head and Neck Cancer. Dysphagia. 2016 Jun;31(3):339-51. DOI: 10.1007/s00455-016-9710-1 Externer Link
3.
Lin YS, Jen YM, Lin JC. Radiation-related cranial nerve palsy in patients with nasopharyngeal carcinoma. Cancer. 2002 Jul 15;95(2):404-9. DOI: 10.1002/cncr.10668 Externer Link
4.
Frowen J, Drosdowsky A, Perry A, Corry J. Long-term swallowing after chemoradiotherapy: Prospective study of functional and patient-reported changes over time. Head Neck. 2016 Apr;38 Suppl 1:E307-15. DOI: 10.1002/hed.23991 Externer Link
5.
Ku PK, Vlantis AC, Leung SF, Lee KY, Cheung DM, Abdullah VJ, van Hasselt A, Tong MC. Laryngopharyngeal sensory deficits and impaired pharyngeal motor function predict aspiration in patients irradiated for nasopharyngeal carcinoma. Laryngoscope. 2010 Feb;120(2):223-8. DOI: 10.1002/lary.20701 Externer Link
6.
Lazarus C. Dysphagia Secondary to the Effects of Chemotherapy and Radiotherapy. In: Shaker R, Belafsky PC, Postma GN, Easterling C, eds. Principles of Deglutition: A Multidisciplinary Text for Swallowing and its Disorders. New York: Springer; 2013. p. 431-43. DOI: 10.1007/978-1-4614-3794-9_30 Externer Link