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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Kontrasthierarchie deutscher Phoneme : Eine Untersuchung bei Vorschulkindern

Vortrag

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  • Christian Lichte - MHH, Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
  • corresponding author Martin Ptok - MHH, Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
  • Nicole Buller - MHH, Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocV56

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2003/03dgpp104.shtml

Veröffentlicht: 12. September 2003

© 2003 Lichte et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Der relative Grad der phonologischen Veränderung ist Basis für die Hierarchie möglicher Oppositionsbildungen bei Minimalpaaren, maximale Kontraste betreffen Oberklassenmerkmale und gelten als auffälligste in der jeweiligen Sprachgemeinschaft. Es ist allerdings unklar, ob die Oppositionshierarchie auch auf Aufgaben zur kombinierten Abfrage rezeptiver und produktiver Kompetenzen übertragbar ist. Material und Methoden: In der vorliegenden Studie wurde querschnittlich bei 160 Kindern im Vorschulalter die Fähigkeit zur Minimalpaarreproduktion überprüft. Aus der Fehlermatrix wurde die Schwierigkeitshierarchie berechnet und mit dem Grad der phonologischen Veränderung verglichen. Ergebnisse: Die Ergebnisse zeigen, dass bei dem untersuchten Kollektiv die Reproduktionsgenauigkeit mit der Phonemkontrasthierarchie signifikant korreliert. Diskussion: Eine mangelhafte Minimalpaarreproduktion kann auf verschiedenen Störungen der (phonologischen) Verarbeitung beruhen. Nach den hier vorgestellten Ergebnissen ist der Grad der „markedness" der Phonemopposition kongruent zur Bewältigung der gegebenen Kombinationsaufgabe. Weitere Untersuchungen werden klären müssen, ob eine individuell empfundene „Pseudohomophonie" auch im Einzelfall mit der Realisierungskompetenz korreliert, was auf eine starke Interdependenz zwischen sublexikalischer phonologischer, akustischer und artikulatorischer Repräsentation hindeuten würde.


Text

Hintergrund

Definitionsgemäß sind Phoneme abstrakte, mentale Konzepte eines Lautes, die das Sprachwissen des Sprechers widerspiegeln. Phoneme drücken Unterschiede in der Bedeutung aus. Wenn zwei Phone in genau derselben lautlichen Umgebung vorkommen und ihre Vertauschung (Kommutation) zu Wörtern mit unterschiedlicher Bedeutung führt, dann sind sie phonetische Realisationen zweier verschiedener Phoneme, die beiden entstehenden Worte werden Minimalpaar genannt. (Die Minimalpaarbildung durch den Vergleich von Kluster versus Singlets soll hier nicht berücksichtigt werden). Phoneme lassen sich typischerweise mit einem Set distinktiver Eigenschaften beschreiben. Somit sind es nicht die Phoneme per se, die die Kontrasteigenschaften in einer Sprache bewirken, es ist viel mehr die Komposition ihrer Einzeleigenschaften (z.B. nach Artikulationsart und -ort sowie Stimmhaftigkeit), wobei Phoneme in einer oder mehreren distinktiven Eigenschaften unterschiedlich sein können. Artikulationsort, -art und Stimmhaftigkeit werden als Non-Major-Class-Eigenschaften (Nicht-Oberklassenmerkmale) bezeichnet. Die Major-Class-Eigenschaften (Oberklassenmerkmal: +/- silbisch, +/- konsonantisch, +/- sonorant) dienen zur Differenzierung der Hauptgruppen der Laute in einer jeweiligen Sprache (Konsonanten versus Vokale, Obstruenten versus Sonoranten, Gleitlaute versus Konsonanten). Der relative Grad der phonologischen Veränderung ist Basis für die Hierarchie möglicher Oppositionsbildungen bei Minimalpaaren. Maximale Kontraste betreffen Oberklassenmerkmale. Sie gelten als auffälligste in der jeweiligen Sprachgemeinschaft und sind wohl auch diejenigen, die als Opposition zuerst von den Kindern gelernt werden. Ein minimaler Kontrast ist definiert durch einen einzigen Eigenschaftsunterschied. Im Gegensatz dazu bedeutet ein maximaler Kontrast auch, dass eine Phonemdifferenz mehrere Eigenschaften wie z.B. Artikulationsart und -ort oder Stimmhaftigkeit betrifft. Es ist allerdings u. W. derzeit noch nicht belegt, ob diese Aussagen, die für die angloamerikanische Sprache belegt wurden, auch für das Deutsche bei Vorschulkindern gilt. Da gerade bei diesen Kindern häufig im klinischen Alltag Lautdiskriminationstests einerseits und Verfahren der Minimalpaartherapie andererseits eingesetzt werden, schien es geboten zu überprüfen, ob die theoretisch existierende Oppositionshierarchie mit der empirisch zu ermittelnden Schwierigkeitshierarchie der Diskriminierung deutscher Phoneme bei Vorschulkindern korreliert.

Material und Methode

Das Testinventar bestand aus 65 Minimalpaaren aus dem „Häufigkeitswortschatz" der Vorschulkinder und 30 ein- bis dreisilbigen Logatomen (sinnleere Wörter). Die Silben sind nach der Struktur Konsonant-Vokal (K-V) aufgebaut, eine u.a. typische phonotaktische Struktur für die deutsche Sprache. Dabei wurde versucht, möglichst viele Phonemoppositionen in der Unterscheidung nach Oberklassenmerkmal, Artikulationsort und -art sowohl bei den Vokalen als auch bei den Konsonanten in das Testinventar aufzunehmen. Außerdem sollten Phoneme mit sehr ähnlichen, bzw. sehr unterschiedlichen Merkmalsmatrizen berücksichtigt werden. Die Minimalpaare und Logatome wurden in Zweier- und Dreierkombination (nach dem Zufallsprinzip verwürfelt) in einem schalldichten Tonstudio mit einer professionellen Sprecherin auf eine CD aufgenommen. Der Test bestand aus vier Itemblöcken, die Gesamtdauer erstreckte sich auf ca. 30 Minuten.

An der Studie nahmen 161 Kinder (96 Jungen, 65 Mädchen; Alter 5,1 bis 6,7 Jahre) mit der Muttersprache deutsch teil. Einschlusskriterium für die Teilnahme waren hör-und sprachunauffällige Kinder im Vorschulalter. Der Test fand als Einzelprüfung in einem störschallarmen Raum statt.

Aus der Fehlermatrix sollte die empirisch gefundene Schwierigkeitshierarchie berechnet und mit dem Grad der phonologischen Veränderung verglichen werden.

Ergebnisse

Zunächst wurde für die vier Itemblöcke die Quote richtiger Bearbeitungen (Lautdiskriminationen) in der Untersuchungsstichprobe ermittelt. Hieraus ergab sich eine Schwierigkeitsrangreihe für alle Items. In dieser empirisch gefundenen Schwierigkeitshierarchie zeigten sich homogene Korrelationen zur theoretisch festgelegten Phonemkontrasthierarchie. Weiterhin erfolgte eine blockweise Darstellung, sog. „Gesamtscores", richtig bearbeiteter Items pro Proband/ Kind. Dieser additive Gesamtscore drückte die bei einem Kind insgesamt gegebene Lautdiskriminationsfähigkeit aus. Darüber hinaus wurde der Einfluss des phonologischen Schwierigkeitsgrades auf die Lautdiskriminationsleistungen untersucht. Es zeigten sich homogene, aber keine signifikanten Korrelationen. Dies deutet auf einen durch die phonologische Ebene erleichternden Effekt hin. Überzeugender ist allerdings, dass für alle Itemblöcke die Lautdiskriminationsleistung bei den phonologisch schwierigsten Items (Items mit den geringsten Unterschieden in der Merkmalsmatrix der differenzierenden Phoneme) am niedrigsten war. Diese Leistungsdiskrepanz zwischen dem phonologischen Schwierigkeitsgrad und den Folgestufen zeigte sich sehr ausgeprägt.

Diskussion

Eine mangelhafte Minimalpaarreproduktion kann auf verschiedenen Störungen der (phonologischen) Verarbeitungen beruhen. Nach den hier vorgestellten Ergebnissen ist der Grad der „markedness" der Phonemopposition kongruent zur Bewältigung der gegebenen Kombinationsaufgabe. Dieses zeigt sich bei den Logatomen signifikanter als bei den Realbegriffen. Weitere Untersuchungen werden klären müssen, ob eine individuell empfundene „Pseudohomophonie" auch im Einzelfall mit der Realisierungskompetenz korreliert, was auf eine starke Interdependenz zwischen sublexikalischer phonologischer, akustischer und artikulatorischer Repräsentation hindeuten würde.


Literatur

1.
Grassegger H (2001), Phonetik Phonologie. Schulz- Kirchner Verlag, Idstein
2.
Jahn T (2000), Phonologische Störungen bei Kindern. Georg Thieme Verlag, Stuttgart
3.
Naumann C L (2000), Orientierungsliste für Rechtschreib-Unterricht und -Didaktik, ORD Version 2.0, Datenbanksystem für Microsoft Windows. Alpha Zentaurus Verlag, Aachen
4.
Wottawa H (1993), Psychologische Methodenlehre: eine orientierende Einführung. Juventa Verlag, Weinheim München (2. Auflage)