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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Psychisches und physisches Wohlbefinden bei Kindern mit permanenten Hörstörungen

Vortrag

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  • corresponding author Annerose Keilmann - Klinik für Kommunikationsstörungen der Universität Mainz, Langenbeckstr. 1, 55101 Mainz, Tel. 06131 172189, Fax. 06131 176623
  • Jacob Müller - Klinik für Kommunikationsstörungen der Universität Mainz, Langenbeckstr. 1, 55101 Mainz, Tel. 06131 172189, Fax. 06131 176623
  • Daniel Neuberger - Klinik für Kommunikationsstörungen der Universität Mainz, Langenbeckstr. 1, 55101 Mainz, Tel. 06131 172189, Fax. 06131 176623

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocV44

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2003/03dgpp092.shtml

Veröffentlicht: 12. September 2003

© 2003 Keilmann et al.
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Zusammenfassung

Die WHO definiert Gesundheit als physisches, psychisches, mentales und soziales Wohlbefinden. Ob unsere übliche komplexe Therapie bei permanenten kindlichen Hörstörungen ein Optimum an Gesundheit erlaubt oder Defizite gegenüber normalhörigen Kindern bleiben, ist wenig untersucht. Wir befragten 131 Kinder im Grundschulalter mit permanenten Hörstörungen anhand des Frankfurter Kinder-Selbstkonzept-Inventars (KFSI). 81 Kinder besuchten eine der Schulen für Schwerhörige und Gehörlose in Rheinland-Pfalz, 53 Kinder besuchten eine Regelschule und wurden von Pädagogen der Schulen mitbetreut. Normale Kinder beurteilen sich im Median positiv, für die hörgestörten Kinder traf dies für die meisten Unterskalen ebenfalls zu. Auffälig waren die schlechten Selbsteinschätzungen im Bereich „Selbstbehauptung und Durchsetzungsfähigkeit" bezogen auf die Mittelwerte für alle untersuchten Kinder. Der Vergleich der regelbeschulten Kinder mit denen in den Sonderschulen ergab den auffälligsten Unterschied im Bereich „Kontakt- und Umgangsfähigkeit", aber auch in den Skalen „Emotionale Gestimmtheit", „Angsterleben" sowie „Selbstbehauptung und Durchsetzungsfähigkeit" ergab sich bei den Kindern, die eine Regelschule besuchen, eine positivere Selbsteinschätzung, während sich in anderen Bereichen, wie der „körperlichen Effizienz", keine Unterschiede zeigten [1].


Text

Einleitung

Die WHO definiert Gesundheit als physisches, psychisches, mentales und soziales Wohlbefinden. Die out-come Forschung bezüglich der Therapie und Versorgung von permanenten kindlichen Hörstörungen hat bis heute vor allem die Sprachentwicklung und die Schulform, die die Kinder besuchen, als Parameter eingesetzt. Die möglichen psychischen Auswirkungen einer bleibenden Schwerhörigkeit wurden hingegen kaum systematisch untersucht, obwohl sie bei vielen Patientenkindern offenbar vorliegen. Erst in letzter Zeit werden zur Evaluation von Hörgeräteversorgungen Frageninventare eingesetzt. Ein für jüngere Kinder geeignetes Inventar wird derzeit entwickelt. Die Fragebogeninventare beziehen sich allerdings eher direkt auf die Hörgeräteversorgung und erlauben so kaum einen Vergleich mit normalhörigen Kindern und nur wenige Aussagen über die allgemeine Lebenssituation der Kinder.

Material und Methode

Deusinger und Mitarbeiter [1] entwickelten ihre Skalen für Kinder ab 3 Jahren. Bis jetzt wurden überwiegend Kinder zwischen 3 und 10 Jahren damit untersucht. Wegen der bei schwerhörigen Kindern häufig vorliegenden sprachlichen Beeinträchtigungen wählten wir als Zielgruppe die peripher schwerhörigen Kinder im Grundschulalter, die von den Pädagogen als intellektuell mindestens normalbegabt angesehen wurden.

Von 339 Kindern in Rheinland-Pfalz, die zum Untersuchungszeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllten, erhielten wir bei 134 das elterliche Einverständnis zur Befragung, davon wurde bei 2 Kindern ein Teil der Sätze auch über Gebärdendolmetscher verdeutlicht. Bei 3 Kindern, die alle die Sonderschule besuchten, 2 waren CI-versorgt, musste die Befragung abgebrochen werden, weil das Sprachverständnis nicht ausreichte, sodass 131 vollständige Fragesätze zur Auswertung zur Verfügung standen. Befragt wurden 78 sonderbeschulte und 53 regelbeschulte Kinder, 61 Mädchen und 70 Jungen, die über die 4 Klassen in beiden Schultypen etwa gleichverteilt waren. Das Einverständnis der Eltern zur Befragung und Speicherung der Daten wurde meist schriftlich eingeholt, auf Nachfragen auch mündlich erläutert. Gleichzeitig wurden die Eltern gebeten anzugeben, welche Klasse ihr Kind besucht, ob es zu einem Schulwechsel gekommen war, wie die Eltern das Hörvermögen ihres Kindes einschätzten und seit welchem Alter das Kind Hörgeräte/ ein CI trägt.

Abhängig von der Lesefertigkeit der Kinder wurden die 90 Sätze überwiegend vorgelesen, von älteren Kinder auch selbst gelesen. Die Kinder sollten angeben, ob die jeweilige Aussage ganz, etwas oder gar nicht für sie zutrifft. Die 11 Skalen (SKER: Körperliche Erscheinung; SKBE: Körperliches Befinden; SKEF: Körperliche Effizienz; SKAL: Kognitive Leistungsfähigkeit; SKMS: Moralorientierung, Selbstwertschätzung; SKSS: Selbstsicherheit; SKKU: Kontakt- und Umgangsfähigkeit; SKWA: Wertschätzung durch andere; SKDS: Selbstbehauptungs- und Durchsetzungfähigkeit; SKEG: Emotionale Gestimmheit; SKAE: Angsterleben) wurden getrennt und als Gesamtscore ausgewertet. Zum Vergleich verschiedener Gruppen wurden einerseits Mittelwerte errechnet, andererseits Häufigkeiten für positive, neutrale und negative Selbsteinschätzungen ermittelt.

Um den Einfluss von Klassenstufe, Alter und Schwerhörigkeitsgrad zu erfassen, wurden Spearman-Rang-Korrelationskoeffizienten berechnet. Regelbeschulte und sonderbeschulte Kinder wurden im Wilcoxon-Test für unverbundene Stichproben verglichen, bei P<0,05 wurden statistisch auffällige Gruppenunterschiede angenommen.

Ergebnisse

Erwartungsgemäß waren die Schwerhörigkeitsgrade in den beiden Schulformen ungleich verteilt. In der Gruppe der Regelschüler überwogen die geringgradigen Schwerhörigkeiten mit 45,3%, mittelgradige Schwerhörigkeit wurde bei 35,6%, hochgradige Schwerhörigkeit bei 13,2% und an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit oder Resthörigkeit bei 2,3% angegeben.

Bei den Kindern in der Sonderschule bezeichneten die Eltern die Schwerhörigkeit in 24,4% als geringgradig, in 37,2% als mittelgradig, in 29,4% als hochgradig und in 9,0% als an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit oder Resthörigkeit.

Die Gesamtgruppe aller befragten schwerhörigen Grundschulkinder wich im Mittelwert kaum von den für normale Kinder publizierten Werten ab. Lediglich im Bereich „Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsfähigkeit" ergab sich ein auffällig niedriger Wert. Diese Abweichung wurde vorwiegend von den Kindern in den Sonderschulen bewirkt, während die regelbeschulten als Gruppe normale Werte erreichten. Von den 78 befragten sonderbeschulten Kindern ergab sich bei 8 Kindern ein Score im negativen Bereich, was als auffällig gilt. Innerhalb dieser Gruppen spielte bei den regelbeschulten der Grad der Schwerhörigkeit keine Rolle, bei den sonderbeschulten Kindern ergab sich eine schwache negative Korrelation: je höher der Schwerhörigkeitsgrad war, desto geringer war die „Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsfähigkeit" (r = -0,22; p = 0,05). Der Gruppenvergleich im Wilcoxon-Test für unverbundene Stichproben zwischen den Schulformen ergab außer in der Skala „Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsfähigkeit" (p = 0,008) auch Unterschiede bei den Skalen „Kontakt- und Umgangsformen, SKKU" mit p = 0,0001, „Angsterleben, SKAE" mit p = 0,0046 und „Emotionale Gestimmtheit, SKEG" mit p = 0,0066 im Sinne günstigerer Werte der Kinder in Regelschulen. Bei den Skalen „Wertschätzung durch andere, SKWA" und „Allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit, SKAL" zeigte sich ebenfalls eine Tendenz zugunsten der Kinder in der Regelschule. Keinerlei Unterschiede deckten die Skalen „Körperliche Erscheinung" (SKER), „Gesundheit und körperlicher Befund" (SKBE) und „Körperliche Effizienz" (SKEF) auf.

Innerhalb der Gruppe der Kinder in den Regelschulen ergab sich ein Effekt des Schwerhörigkeitsgrades (Kinder mit höhergradigen Schwerhörigkeiten wiesen ein höheres Selbstbewusstsein (SKSS) auf ; r = 0,28; p = 0,040) und der Klassenstufe (Kinder in den höheren Klassenstufen waren emotional negativer gestimmt; r = - 0,30; p = 0,031 und schätzten ihre körperliche Effizienz geringer ein; r = - 0,34; p = 0,012). In der Gruppe der regelbeschulten Kinder nahm auch mit zunehmendem Alter bzw. Klassenstufe der Gesamtscore für alle Skalen tendenziell ab (r 0 - 0,25; p = 0,06), was bei Kindern in der Sonderschule nicht zu beobachten war. In der Sonderschule schätzten sich die älteren Kinder als gesünder ein (r = 0,266; p = 0,018).

Diskussion

Beim Vergleich der Ergebnisse der Kinder beider Schulformen muss berücksichtigt werden, dass erwartungsgemäß mehr Kinder mit größeren Schwerhörigkeitsgraden in den Sonderschulen unterrichtet werden. In der Skala „Selbstbehauptungs- und Durchsetzungsfähigkeit" zeigten besonders die Kinder mit höhergradigen Hörstörungen aufällig niedrige Werte. Die in diesem Bereich vorgelegten Sätze bezogen sich auf das ganze Lebensumfeld, also auch auf Situationen außerhalb der eignen Familie und der Schule, vor allem auf den Umgang mit anderen Kindern. Es ist verständlich, dass sich Kinder mit stark eingeschränkten kommunikativen Fähigkeiten in diesem Bereich schwächer einschätzen.

Bei den anderen Skalen, die Unterschiede zwischen den Schulformen ergaben, zeigte sich hingegen keine Abhängigkeit vom Grad der Schwerhörigkeit.

Die einzige Skala, die bei den regelbeschulten Kindern eine Korrelation mit dem Grad der Schwerhörigkeit ergab, war SKSS, das Selbstbewusstsein. Interessanterweise war das Selbstbewusstsein bei den stärker schwerhörigen Schülern größer. Als Erklärung bietet sich hier an, dass Kinder mit gravierenden Schwerhörigkeiten nur dann in der Regelschule bestehen können, wenn sie über ein hohes Selbstvertrauen verfügen.

Im Gegensatz zu den schwerhörigen Kindern in der Sonderschule und zur Normalpopulation [2], bei denen die Werte überwiegend konstant blieben, beobachteten wir bei den schwerhörigen Kindern in der Regelschule eine Abnahme des Gesamtscores, der körperlichen Effizienz und der emotionalen Gestimmtheit mit zunehmender Schulerfahrung. Hier wirkt sich möglicherweise die zusätzliche Belastung aus, die die hörbehinderten Kinder in Regelschulen gegenüber den normalhörigen haben.

Erwartungskonform konnten bei den Skalen, die die Einschätzung der rein physischen Seite wie die körperliche Effizienz oder die körperliche Erscheinung abfragten, keinerlei Unterschiede zwischen den Schülern der verschiedenen Schulformen festgestellt werden.


Acknowledgements

Wir danken Frau Prof. Ingrid M. Deusinger, Frankfurt/M., die uns die von ihr entwickelten Skalen für unsere Untersuchung zur Verfügung gestellt hat, den Pädagogen der beteiligten Schulen für ihre gute Kooperation und den Eltern und Kindern für ihre Mitarbeit.


Literatur

1.
Deusinger IM (2002) Wohlbefinden bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Gesundheit in medizinischer und psychologischer Sicht. Hogrefe
2.
Baldering D (1993) Selbstkonzepte von Kindern im Grundschulalter. Ein Vergleich zwischen psychisch auffälligen Kindern und Kindern der Normalpopulation. Diss Univ. Frankfurt, Lang