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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Kernikterus als Ursache einer perinatal erwobenen Schwerhörigkeit: eine Darstellung von 2 Kindern

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  • Birgit Kohler - Klinik für Kommunikationsstörungen, Universitätsklinik Mainz, Langenbeckstr.1, 55101 Mainz,Tel 06131/172473,Fax 06131/176623
  • Annerose Keilmann - Klinik für Kommunikationsstörungen, Universitätsklinik Mainz, Langenbeckstr.1, 55101 Mainz ,Tel 06131/172189, Fax 06131/176623

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocP24

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2003/03dgpp065.shtml

Veröffentlicht: 12. September 2003

© 2003 Kohler et al.
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Zusammenfassung

Früher zählte der Kernikterus zu den häufigeren Ursachen frühkindlicher Schwerhörigkeiten. Meist infolge einer Rhesusinkompatibilität zwischen Mutter und Kind kann es zu einer fetalen Erythroblastose kommen: dabei passieren von der Mutter gebildete Antikörper die Plazenta und hämolysieren Erythrozyten des Kindes. Durch die Hämolyse kommt es zur Anämie und zum Anstieg des indirekten Bilirubins, das aufgrund der unreifen Leberfunktion des Neugeborenen nicht ausreichend schnell konjugiert werden kann. Im Rahmen eines Ikterus gravis kommt es häufig zum Kernikterus. Die zerebralen Läsionen werden durch das Bilirubin und die allgemeine Hypoxie infolge der Anämie hervorgerufen. Makroskopisch kommt es zu einer Gelbfärbung der Kernregionen. Dies tritt gehäuft bei unreifen Neugeborenen auf. In den letzten Jahren ist diese Ursache der angeborenen Schwerhörigkeit vor allem durch die Fortschritte in der Rhesus-Prophylaxe in Ländern mit einem modernen Gesundheitssystem extrem selten geworden. In unserer Klinik behandeln wir 2 in Deutschland geborene Kinder Jahrgang 2001 mit einem Kernikterus, bei denen in der BERA bis 103 dB bds. keine Potentiale ableitbar waren. Bei einem waren TEOAE mit über 80% Reproduzierbarkeit nachweisbar, bei dem anderen waren sie beidseits nicht ausreichend nachweisbar. Beide wurden mit Hörgeräten versorgt, das eine Kind zeigt hiermit Hörreaktionen, das andere Kind lehnt inzwischen die Hörgeräte ab. Beide Kinder zeigten ohne Hörgeräte in der subjektiven Audiometrie pantonal nur unsichere Reaktionen.


Text

Einleitung

Früher zählte der Kernikterus zu den häufigeren Ursachen frühkindlicher Schwerhörigkeiten. Meist infolge einer Rhesusinkompatibilität zwischen Mutter und Kind kann es zu einer fetalen Erythroblastose kommen. Das dabei anfallende Bilirubin liegt zum Teil in konjugierter und zum Teil in unkonjugierter Form vor, abhängig von der Albuminbindungskapazität sowie der Leberfunktion. Die Albuminbindungskapazität wiederum ist abhängig von z.B. Medikamenten, die Leberfunktion von der Reife des Neugeborenen und zusätzlichen Erkrankungen wie Glucose-6-Phosphatdehydrogenasemangel.

Ein weiterer Faktor in der Ausbildung eines Kernikterus ist die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke. Auch die Anämie, die durch die ursächliche Hämolyse ausgelöst wird, verstärkt die Gefahr einer Hirnschädigung. Nach Überwindung der Blut-Hirn-Schranke kann sich das Bilirubin auch im Bereich der Cochleariskerne ablagern. Bei manchen Neugeborenen scheint auch das Innenohr mit betroffen zu sein. Ob sich hier Bilirubin ablagert, ob durch die zusätzliche Hypoxie oder durch die zusätzlich gegebenen Medikamente der meist multimorbiden Patienten eine Haarzellschädigung eintritt, wie sie durch Ausfall der OAE nachweisbar ist, ist nicht geklärt. Im Bereich der betroffenen Kerne jedenfalls kommt es zu einer makroskopischen Gelbfärbung. Die betroffenen Kinder zeigen meist eine Vielzahl von neurologischen Defiziten.

Fallbeschreibung

Wir berichten über 2 Kinder mit Kernikterus, die 2002 in unserer Klinik vorgestellt wurden. Der erste Junge, ist das 1. Kind nicht konsanguiner irakischer Eltern, die derzeit Duldungsstatus haben. Die Mutter war Primagravida, Primapara. Anamnestisch war nur eine Gelbsucht im Jugendalter im Irak zu eruieren, die Ursache des Ikterus sowie die Therapie sind unbekannt. Bei den in Deutschland durchgeführten Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen fiel im 7. Schwangerschaftsmonat eine Rhesusinkompatibilität auf. Das Kind erhielt daraufhin eine intrauterine Austauschtransfusion. Es wurde im November 01 in der 37. Schwangerschaftswoche per Sektio mit einem Gewicht von 2705 g, einer Länge von 47 cm und einem Kopfumfang von 34 cm entbunden und erhielt sofort eine Phototherapie und Sauerstoff über eine Maske. Am 4. Lebenstag stieg das Bilirubin dennoch von 13 mg% auf 39 mg% an bei einem Fieberanstieg auf 39°C. Er erhielt eine Antibiose bei fehlendem Keimnachweis und 2 Austauschtransfusionen. Aufgrund des sich verschlechternden Allgemeinzustandes wurde er über 8 Tage maschinell beatmet, es traten Krampfanfälle auf, eine antikonvulsive Therapie wurde begonnen und erst im Alter von 11 Monaten wieder beendet. Bei der 1. Vorstellung bei uns im Alter von 8 Monaten (6/02) war der Junge statomotorisch retardiert, hypotroph, trank schlecht und aspirierte gelegentlich. Er zeigte weder auf visuelle noch auf akustische Reize hin Reaktionen. Eine BERA (Brainstem Electric Response Audiometrie) in Sedierung zeigte bis 103 dB bds. keine reproduzierbaren Potentiale. Die TEOAE (Transitorisch Evozierte Otoakustische Emissionen) waren wiederholt bei guten Messbedingungen nicht nachweisbar. Die unsicheren Freifeldreaktionen lagen zwischen 80 und 100 dB, auf Kinderlieder reagierte er fraglich bei 110 dB. Ein Dünnschicht-CT der Felsenbeine in tiefer Sedierung zeigte unauffällige Felsenbeinstrukturen.

Wir passten dem Jungen Hörgeräte an, die Hörgeräteakzeptanz war zu Beginn schlecht. Zunächst zeigte er damit kaum Hörreaktionen. Die Aufblähkurve verlief zwischen 65 und 85 dB. Nach 5 Monaten, in denen die Eltern die Hörgeräte trotz großen Problemen mit Rückkopplungspfeiffen immer wieder anboten, zeigten sich erste Erfolge. Das Kind lautierte vermehrt und begann auch mit Doppelsilben. Die Betreuerin der Hörfrühförderung bestätigte die zunehmende auditive Aufmerksamkeit des Kindes. Eine erneute Diagnostik in unserer Klinik ist geplant, derzeit steht die hierfür erforderliche Zustimmung des Kostenträgers Sozialamt noch aus.

Der zweite Junge, wurde 12/01 als 2. Kind nicht konsanguiner deutscher Eltern als Spontangeburt in der 38. Schwangerschaftswoche ambulant entbunden. Das 1. Kind der Familie hatte bereits die Blutgruppe 0 Rh positiv, eine Anti-D-Prophylaxe mit Resogam® ist dokumentiert. Der Patient hatte ein Geburtsgewicht von 3060 g, eine Länge von 51 cm und einen Kopfumfang von 34 cm, die Apgar-Werte waren 9/10/10. Am 2. Lebenstag wurde das Kind wegen einer Trinkschwäche beim Kinderarzt vorgestellt, es erfolgte bei einem Bilirubinspiegel von 38 mg/dl die sofortige Aufnahme auf die Neugeborenenintensivstation. Im weiteren Verlauf erhielt er Phototherapie, Biseko® und 2 Austauschtransfusionen. Der maximale Bilirubinspiegel erreichte 42,1 mg/dl; auch er entwickelte Krampfanfälle und eine zunehmende zentrale Koordinationsstörung. Bis 6/02 erhielt er eine antikonvulsive Therapie. Bei der 1. Vorstellung in unserer Klinik 4/02 im Alter von 4 Monaten waren die Freifeldreaktionen unsicher zwischen 80 und 100 dB. Die TEOAE waren rechts mit einer Reproduzierbarkeit von 94% und einer Stabilität von 95% nachweisbar, links mit einer Reproduzierbarkeit von 73% und einer Stabilität von 84%. In einer BERA in Sedierung waren bis 103 dB beidseits keine Potentiale nachweisbar.

Wir führten auch bei ihm eine Hörgeräteanpassung durch. Die Hörgeräteakzeptanz war rechts zunächst gut, das linke Hörgerät wurde öfters ausgezogen. Mit den Hörgeräten waren eindeutige Hörreaktionen zu sehen, die Aufblähkurve lag zwischen 60 und 70 dB. Die otoakustischen Emissionen waren weiterhin gut reproduzierbar. T.T. lautierte vermehrt. Im weiteren Verlauf verschlechterte sich die Hörgeräteakzeptanz. Im Januar 03 wurde die BERA in Sedierung wiederholt, weiterhin waren bis 103 dB beidseits keine Potentiale nachweisbar. Wegen motorischer Artefakte waren 2 CERA-Untersuchungen (Cortical Electric Response Audiometrie) nicht auswertbar. Eine E-BERA (Electrostimulation Brainstem Electric Response Audiometrie) steht noch aus.

Diskussion

Vereinzelt kommt es in Deutschland trotz der Schwangerschafts-vorsorgeuntersuchungen und trotz Rhesusprophylaxe zu dem Auftreten von Kernikterus auch bei reifen Neugeborenen. Insbesondere bei Hausgeburten und bei ambulanten Geburten ist eine engmaschige Nachuntersuchung der Kinder erforderlich, um einen tragischen Verlauf zu verhindern. Die Therapie der zentralen Hörstörung sollte zumindest den Versuch einer Hörgeräteversorgung beinhalten, wichtig ist auch eine intensive Frühförderung. Der weitere Verlauf ist von den neurologischen Defiziten abhängig.


Literatur

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