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51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (gmds)

10. - 14.09.2006, Leipzig

Web-basierte Diagnose und Förderung auditiver Fähigkeiten für den Schriftspracherwerb

Meeting Abstract

  • Sandra Krammer - Fachhochschule Ulm, Ulm
  • Katrin Vogt - Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen, Ulm
  • Claudia Steinbrink - Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen, Ulm
  • Silko Kruse - Fachhochschule Ulm, Ulm
  • Jochen Bernauer - Fachhochschule Ulm, Ulm

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (gmds). 51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. Leipzig, 10.-14.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06gmds286

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/gmds2006/06gmds219.shtml

Published: September 1, 2006

© 2006 Krammer et al.
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Einführung

Kognitive Defizite in der Hör- und Sehverarbeitung, Schwächen des phonologischen Arbeitsgedächtnisses und die mangelnde Beherrschung der Buchstabe-Laut-Zuordnung gelten als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS) [1]. Wenn solche Schwächen frühzeitig erkannt und behandelt werden, können Probleme im Schriftspracherwerb verhindert werden [2], [3]. Ziel des vorgestellten Projekts ist die Entwicklung eines web-basierten Diagnose- und Fördersystems zur Phonemdiskrimination, d.h. der Fähigkeit, ähnlich klingende Sprachlaute zu unterscheiden. Das System soll als Computerspiel realisiert sein und von Kindern im Kindergartenalter frei genutzt werden können. Dabei soll die Nutzung evaluiert und die eingesetzten akustischen Stimuli schrittweise dem Forschungsstand angepasst werden können [4]. Die gewählte Software-Architektur soll offen sein für die Entwicklung von Diagnose- und Fördermaterialien zur Sehverarbeitung, zum phonologischen Arbeitsgedächtnis und zur Buchstabe-Laut-Zuordnung. Diese Anwendungen erschließen der Medizinischen Informatik ein neues Gebiet, die computerbasierte Diagnose und Förderung kognitiver Fähigkeiten.

Material und Methode

Grundlage des Diagnose- und Fördersystems zur Phonemdiskrimination sind interaktive Spielszenen, die die Aufmerksamkeit von Kindern im Kindergartenalter wecken und längere Zeit auch in Anspruch nehmen können. Die Spielszenen sind mit der Aufgabe verbunden, akustische Stimuli zu unterscheiden. Dazu wurde das Szenario einer Unterwasserwelt gewählt, als Charaktere zum Transport der Stimuli dienen Fische und andere Wassertiere, mit denen sich die Kinder leicht identifizieren können.

Im Diagnosesystem werden die Stimuli in Form von einsilbigen Pseudowörtern paarweise angeboten und von zwei Fischen "gesprochen". Dabei muss das Kind entscheiden, ob die Phoneme gleich oder ungleich sind. Ungleiche Phoneme unterscheiden sich in der Stimmhaftigkeit(/gap/ versus /kap/) oder im Artikulationsort (/pulf/ versus /pulch/) entweder in initialer oder finaler Silbenposition. Die Konsonanten liegen als Einzelkonsonanten oder Konsonantenverbindung vor. Die Antworten der Kinder werden dokumentiert, aber nicht kommentiert.

Zur Förderung der Fähigkeit zur Phonemdiskrimination wurde ein Computerspiel mit 4 verschiedene Spielszenen realisiert, die jeweils in 4 Schwierigkeitsstufen bearbeitet werden können. Alle Szenen sind räumlich verbunden. Im Unterschied zum Diagnosesystem werden beim Förderspiel die Kinder bei richtigen Antworten belohnt. Die Präsentationslogik der Stimuli variiert. In der ersten Spielszene werden Stimuli angeboten, bei denen zu entscheiden ist, ob sie gleich oder ungleich sind. Als Belohnung werden Puzzleteile vergeben, die sich Schritt für Schritt zu einer Spielzeugfigur zusammensetzen. Die zweite Spielszene gleicht im Spielprinzip der ersten. Zur Belohnung werden Pflanzensamen ausgegeben, die nach Spielende die Korallenbucht verschönern. In der dritten Szene muss ein Höhleneingang von Steinen befreit werden. Jedem Stein ist ein Stimulus zugeordnet. Dabei gilt es aus drei gerade aktiven Steinen, von denen zwei den gleichen Stimulus repräsentieren, den einen ungleichen auszuwählen. Als Belohnung werden alle drei Steine aus dem Steinhaufen befreit. Das vierte Spiel beginnt, wenn der Höhleneingang frei geräumt ist. Es erscheinen drei Augenpaare, denen jeweils Stimuli zugeordnet sind, die mit der Maus aktiviert werden können. Hier besteht die Aufgabe darin, jeweils zwei gleiche Stimuli auszuwählen. Bei einer richtigen Antwort werden aus den Augenpaaren Fische, die die Höhle verlassen und als „Freunde“ im Spielfeld verbleiben.

Jede dieser Spielszenen kann in vier Schwierigkeitsstufen durchgearbeitet werden. Dabei sind den einzelnen Schwierigkeitsstufen bestimmte Phonemklassen zugeordnet, die je Spiel unterschiedlich ausgeprägt sind. In Schwierigkeitsstufe 1 gilt es z. B. die Ähnlichkeit von Vokalen zu unterscheiden, die sich in der Lautlänge unterscheiden. In Schwierigkeitsstufe 2 und 3 wird die Wahrnehmung ähnlicher Konsonanten trainiert. In Schwierigkeitsstufe 4 müssen Konsonanten in Konsonantenverbindungen unterschieden werden, deren Stellung in der Silbe variiert.

In jeder Schwierigkeitsstufe sind je Spielszene 30 Stimuli vorgesehen. Diese Stimuli sind in den Spielszenen 1 bis 3 fest zugeordnet und werden zufällig ausgewählt. Falsch erkannte Stimuli werden erneut präsentiert. Zum erfolgreichen Absolvieren einer Spielszene muss eine Mindestzahl an Stimuli richtig erkannt werden. Danach werden die nicht präsentierten bzw. falsch erkannten Stimuli dem Stimulus-Pool der Spielszene 4 hinzugefügt. Auf diese Weise kann das Fördersystem adaptiv auf die individuellen Fähigkeiten des Kindes reagieren.

Die große Zahl der Stimuli lässt es nicht zu, dass alle Spielszenen innerhalb einer Fördersitzung durchgearbeitet werden können. Deshalb ist es vorgesehen, Sitzungen zu unterbrechen und im erreichten Stand später wieder aufzunehmen. Dazu werden Benutzerprofile angelegt, die den jeweils aktuellen Bearbeitungsstand widerspiegeln.

Das Diagnose- und Fördersystem zur Phonemdiskrimination ist als Webanwendung realisiert und auf einem Portal des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen zugänglich [5]. Dieses enthält weitere Informationen zur Lese-Rechschreibschwäche. Für die Nutzung ist eine Anmeldung auf dem Portal notwendig. Benutzerzugänge können für Kindergärten und Familien kostenfrei eingerichtet werden.

Die Computerspiele wurden mit Flash Action Script programmiert. Die Stimuli werden auf einem Server vorgehalten und dynamisch in Flash importiert. Die serverseitige Programmlogik dafür wurde auf der Grundlage von PHP, JSP und Servlets realisiert. Die statischen Anwendungsdaten, die Ergebnisdaten sowie die Benutzerprofile werden in einer mysql-Datenbank gespeichert. Die gewählte Architektur erlaubt die breite Nutzung der Systeme sowie die zentrale Evaluierung der Diskriminationsleistungen der Kinder. Durch den dynamischen Import können Stimulus-Änderungen einfach vorgenommen werden, um so die Förderspiele zu optimieren.

Ergebnisse

Die Entwicklung der Systeme ist derzeit noch nicht vollständig abgeschlossen. Das Diagnosesystem wurde in einer Pilotstudie an 100 Kindergartenkindern kurz vor der Einschulung evaluiert. Es zeigte sich ein gutes Aufgabenverständnis und eine hohe Motivation und Aufmerksamkeit. In einer anschließenden Studie (10-12/2005) wurde die Diskriminationsleistung im Vergleich zwischen Computerspiel und Papiertest an 250 Kindergartenkindern kurz vor der Einschulung evaluiert. Normen zur Interpretation der Ergebnisse sind in der Entwicklung. Die Implementierung des Fördersystems und dessen Integration in das Web-Portal ist nahezu abgeschlossen, es wird ab Mai 2006 zugänglich sein. Die Validierung der Fördermaterialien steht noch aus.

Das Projekt CASPAR wird 2005-06 gefördert durch das Schwerpunktprogramm für die Fachhochschulen: "Innovative Projekte / Kooperationsprojekte" Baden-Württemberg


Literatur

1.
Schulte-Körne, G. & Remschmidt, H. (2003). Legasthenie - Symptomatik, Diagnostik, Ursachen, Verlauf und Behandlung. Deutsches Ärzteblatt. 2003;100 (7), A 396-406
2.
Tallal, P. Auditory temporal perception, phonics, and reading disabilities in children. Brain and Language 9.1980:182-198
3.
Tallal. Experimental studies of language learning impairments: From research to remediation. In D.B. Bishop & L.B. Leonard (Eds.), Speech and language impairments in children. Hove: Psychology Press.2000
4.
Krammer S, Vogt K, Steinbrink C, Mayer J, Halici Ö, Kruse S, Bernauer J, Computergestützte Diagnostik und Therapie von Störungen der Phonemdiskrimination im Projekt CASPAR. In Rexer H, Friedrich M, Frankhänel A, Thorn K (Hrsg.), Tagungsband 9. DVMD-Fachtagung 2006, Alius Verlag 424-9
5.
http://www.znl-caspar.de