gms | German Medical Science

50. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (gmds)
12. Jahrestagung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Epidemiologie (dae)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie
Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Epidemiologie

12. bis 15.09.2005, Freiburg im Breisgau

Evaluation der Erfassung invasiver Meningokokken-Erkrankungen in Deutschland: Analyse der gesetzlichen Meldedaten und der Daten des Nationalen Referenzzentrums für Meningokokken des Jahres 2003 mittels Capture-Recapture-Methode

Meeting Abstract

  • Annette Schrauder - Robert Koch-Institut, Berlin
  • Hermann Claus - Robert Koch-Institut, Berlin
  • Johannes Elias - Nationales Referenzzentrum für Meningokokken, Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Universität Würzburg, Würzburg
  • Ulrich Vogel - Nationales Referenzzentrum für Meningokokken, Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Universität Würzburg, Würzburg
  • Walter Haas - Nationales Referenzzentrum für Meningokokken, Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Universität Würzburg, Würzburg
  • Wiebke Hellenbrand - Robert Koch-Institut, Berlin

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Epidemiologie. 50. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (gmds), 12. Jahrestagung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Epidemiologie. Freiburg im Breisgau, 12.-15.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05gmds591

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/gmds2005/05gmds024.shtml

Published: September 8, 2005

© 2005 Schrauder et al.
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Einleitung und Fragestellung

Deutschland hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine niedrige Inzidenz an invasiven Meningokokken-Erkrankungen (IMD) [1]. Die jährlichen Inzidenzberechnungen in Deutschland (2003: 0,9 Erkrankungen/100.000 Einwohner) beruhen auf den Meldedaten, die dem Robert Koch-Institut (RKI) gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) übermittelt werden [2].

Mit dem Ziel, die Datenqualität der übermittelten Fälle zu verbessern und eine genauere Schätzung der serogruppenspezifischen Inzidenz und Mortalität vornehmen zu können, ist ein Vergleich der IfSG-Daten mit den Daten der IMD-Fälle, die am Nationalen Referenzzentrum für Meningokokken (NRZM, Würzburg) untersucht wurden, mittels einer Capture-Recapture-Analyse durchgeführt worden [3].

Material und Methoden

Im Jahr 2003 wurden im NRZM Proben von 566 Patienten typisiert. Gemäß IfSG wurden 782 Fälle ans RKI übermittelt. Als Fälle wurden Patienten definiert, bei denen der Nachweis von Neisseria meningitidis in einer sterilen Probe im Jahr 2003 in Deutschland erfolgt war.

Die Alters- und Geschlechtsverteilung in beiden Datenquellen unterscheidet sich nicht signifikant voneinander. Im Gegensatz dazu unterscheidet sich die Verteilung der Serogruppen (p χ2=0,03) sowie die regionale Verteilung der Fälle (p χ2<0,0005) signifikant. In den NRZM-Daten ist der Anteil der Fälle aus den Bundesländern, die an Bayern grenzen, (inkl. Saarland) höher als in den IfSG-Daten.

Zur Identifikation (Recapture) der in beiden Datensätzen vorhandenen Patienten wurden die Variablen Geschlecht, Tag und Jahr der Geburt, Serogruppe, Landkreis und Datum der Erkrankung herangezogen. Mittels einer Abstandsfunktion bzgl. dieser Variablen wurde der Abstand zwischen allen Datensätzen des NRZM und allen Datensätzen des RKI berechnet. Datensätze mit dem Abstand 0 bzw. kleinem Abstand wurden als Informationen von einem Patienten interpretiert (d.h. zugehörig zur Menge X11). Ein Datensatz aus einer Datenquelle, der zu allen Datensätzen der anderen Datenquelle einen großen Abstand besitzt, besitzt keine Entsprechung in der anderen Datenquelle (d.h. zugehörig zur Menge X12 bzw. X21).

Folgende Formeln, die sich aus der Verteilung der Fälle in den beiden Quellen wie in Abb. 1 [Abb. 1] schematisch dargestellt ableiten, liegen den vorgestellten Schätzungen der Capture-Recapture-Analyse zugrunde.

Gesamtpopulation Equation 1, Konfidenzintervall Equation 2 [4].

Varianz Equation 3

Ergebnisse

Insgesamt konnten 507 Patienten identifiziert werden, die in beiden Datenquellen erfasst wurden; 59 Fälle wurden ausschließlich vom NRZM, 275 ausschließlich gemäß IfSG erfasst. Die Berechnung der Gesamtzahl ergab N=873,0 (95% KI: ± 14,5). Dies entspricht einer Inzidenz von 1,1 IMD-Erkrankungen/100.000 Einwohnern. Die Sensitivität der IfSG-Erfassung betrug 89,6% und die der NRZM-Erfassung 64,8%.

Die Analyse der verstorbenen Fälle ergab eine geschätzte Gesamtzahl von N=77,8 (95%KI: ± 6,1) Todesfällen; 7 Fälle wurden ausschließlich vom NRZM und 27 gemäß IfSG erfasst. Dies entspricht einer Sensitivität von 84,8% für das RKI, von 59,1 % für das NRZM und einer Mortalität von 0,1 Sterbefällen/100.000 Einwohner. Damit beträgt die geschätzte Gesamtletalität 8,9%.

Die Ergebnisse der nach Regionen stratifizierten Analyse sind in Tabelle 1 [Tab. 1] dargestellt.

Diskussion

Im Gegensatz zu einigen anderen europäischen Ländern [5], [6], [7] erlauben die datenschutzrechtlichen Bestimmungen in Deutschland die Zuordnung von Daten aus verschiedenen Quellen mittels eindeutiger personenbezogener Identifikatoren nicht. Eine einfache und automatisierte Methode, die sich vorhandener Variablen (z.B. Geschlecht, Alter) bedienen kann, ist deswegen von großem Nutzen.

Die unterschiedliche regionale Verteilung der Fälle lässt vermuten, dass eine wichtige Annahme der Capture-Recapture-Analyse, nämlich die gleichmäßige Erfassungswahrscheinlichkeit der Fälle, nicht erfüllt ist. Die stratifizierte Analyse ist eine Möglichkeit dies zu berücksichtigen. Allerdings weicht die geschätzte Gesamtzahl der IMD-Fälle in der stratifizierten Analyse nur geringfügig von derjenigen in der unstratifizierten ab. Des Weiteren ist von einer positiven Abhängigkeit zwischen den beiden Datenquellen auszugehen, da Labore mit einer hohen Meldebereitschaft gemäß IfSG, vermutlich auch eine hohe Bereitschaft zeigen, Isolate an das NRZM zu schicken. Dies führt zu einer Unterschätzung der gesamten Population (N), so dass von einer höheren Inzidenz als 1,1 IMD-Erkrankungen/100.000 Einwohner ausgegangen werden kann. Ohne eine dritte Datenquelle, die in Deutschland zurzeit nicht zur Verfügung steht, lässt sich diese Abhängigkeit der Datenquellen jedoch nicht nachprüfen [4], [8].

Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass die Größenordnung der Untererfassung dieser Erkrankungen in Deutschland nur zu einem kleinen Teil die im internationalen Vergleich niedrige Inzidenz erklären kann. Möglicherweise ist die niedrige Inzidenz eher durch die in Deutschland vorhandene geringere Ausprägung bekannter Risikofaktoren für IMD (geringere Anzahl von Gemeinschaftseinrichtungen z.B. im Vergleich zu England) oder durch die Transmissionsfähigkeit und Virulenz der in den letzten Jahren in Deutschland zirkulierenden Meningokokkenklone bedingt. Für beide Hypothesen gibt es allerdings derzeit keine Belege.


Literatur

1.
Ramsay M, Fox A, Invasive Neisseria Meningitidis in Europe - 2002. European Union Invasive Bacterial Infections Surveillance Network.
2.
Robert Koch-Institut: Infektionsepidemiologisches Jahrbuch 2003, Berlin
3.
Wittes J, Sidel VW. A generalization of the simple capture-recapture model with applications to epidemiological research. J Chronic Dis. August 1968; 21 (5):287-301
4.
Stephen C. Capture-Recapture Methods in Epidemiological Studies. Infect Control Hosp Epidemiol 1996 April; 17:262-66
5.
Tocque K, Bellis MA, Beeching NJ, Davies PDO. Capture recapture as a method of determining the completeness of tuberculosis notifications. Communicable Disease and Public Health. June 2001; 4 (2):141-43
6.
Smith MD; Stuart J, Andrews JN, Telfer Brunton WA, Carwright KAV. Invasive pneumococcal infection in South and West England. Epidemiol. Infect. 1998; 120:117-23
7.
LaPorte RE, McCarty D, Graziella B, Tajima Naoko, Bab S. Counting diabetes in the Next millennium. Diabetes Care, February 1993;16(2):528-534
8.
Tilling K. Capture-recapture methods - useful or misleading? Int J Epidemiol. February 2001;30(1):12-4