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23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

15. - 17.09.2006, Heidelberg

Ergebnisse einer Folgeuntersuchung der im Jahre 2003 ermittelten sprachauffälligen Vorschulkinder

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Roswitha Berger - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie der Philipps- Universität Marburg, Deutschland
  • Inge Holler-Zittlau - Institut für Heil- und Sonderpädagogik- Sprachheilpädagogik, Universität Gießen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Heidelberg, 15.-17.09.2006. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2006. Doc06dgppV29

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Published: September 5, 2006

© 2006 Berger et al.
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Zusammenfassung

Eine Untersuchung aus dem Jahre 2003, die an 768 Vorschulkindern im Alter von 4,0-4,5 Jahren durchgeführt wurde, deckte mit über 28% einen großen Anteil sprachentwicklungsauffälliger Kinder auf. In einer Nachfolgeuntersuchung wurden die damals als auffällig ermittelten Kinder erneut überprüft (Mai-Juni 2005).

Von den insgesamt 134 sprachauffälligen Kindern mit Deutsch als Muttersprache und den 24 Kindern (40%) mit Deutsch als Zweitsprache bei Migrationshintergrund konnten 99 Kinder ein zweites Mal überprüft werden. Neben der Bewertung der aktuellen sprachlichen Leistungen mittels des Marburger Sprach Screenings (MSS) wurde auch die Umsetzung der Empfehlungen nach der Ersterhebung zur Sprachförderung oder zur weiteren ärztlichen Diagnostik erfasst.

Von den 158 der jetzt 5,5-6,0 jährigen Kindern hatten 134 angemessene sprachliche Leistungen und bei 15% (24 Kinder) waren die sprachlichen Kompetenzen noch auffällig. Diese Kinder, die kurz vor Schulbeginn stehen, können die sprachlichen Anforderungen für das 1.Schuljahr nicht erfüllen.

Die Folgeuntersuchung zeigte weiter auf, dass durch die Überprüfung im Jahre 2003 sowohl die Erzieher als auch die Eltern eine andere Bewertung zur sprachlichen Leistung der Kinder erworben haben. Die Durchführung des MSS half den Erziehern verstärkt auf die sprachliche Kompetenz der Kinder zu achten bzw. das eigene Kommunikationsverhalten zu verbessern. Andererseits gelang es durch die mittels MSS erhobenen Ergebnisse einen leichteren Zugang zu den Eltern zu finden und ermöglichten Empfehlungen zur Sprachförderung besser umzusetzen.


Text

Eine Untersuchung aus dem Jahre 2003, die an 768 Vorschulkindern im Alter von 4,0-4,5 Jahren durchgeführt wurde, deckte mit über 28% einen großen Anteil sprachentwicklungs-auffälliger Kinder auf.

Die Untersuchung machte außerdem deutlich, dass Eltern die Sprachentwicklung ihrer Kinder als sehr wichtig einschätzen, denn über 80% aller Eltern stimmten der damaligen Überprüfung zu. Wir konnten auch nachweisen, dass Eltern und Erzieher die sprachlichen Leistungen der Kinder nicht immer richtig einschätzten. Oftmals täuschten Auffälligkeiten im Spiel- und Sozialverhalten der Kinder über die eigentlichen sprachlichen Kompetenzen hinweg und führten dann zu Fehleinschätzungen. Auch Eltern bewerteten die sprachlichen Fähigkeiten nicht richtig. In einigen Fällen werden fast altersphysiologische Befunde als auffällig gewertet oder auch umgekehrt.

Methodik

In einer Folgeuntersuchung wurden die im Jahre 2003 als auffällig ermittelten Kinder erneut nachgeprüft (Mai-Juni 2005). Die Untersuchung wurde in den gleichen Kindereinrichtungen wie im Jahre 2003 durch die Sprachheilbeauftragten des Kreises durchgeführt. Insgesamt nahmen 89 Kindereinrichtungen an der Untersuchung teil. Die Bewertung der aktuellen sprachlichen Leistungen erfolgte wieder mittels des Marburger Sprach Screenings (MSS). Zusätzlich wurde auch die Umsetzung der Empfehlungen nach der Ersterhebung zur Sprachförderung oder zur weiteren ärztlichen Diagnostik erfasst.

Die meisten diagnostischen Verfahren betrachten lediglich Einzelaspekte der Sprachentwicklung und sind bei einer umfangreichen Erfassung sehr zeitaufwendig.

Das MSS orientiert sich an der ungestörten Kommunikations- und Sprachentwicklung von Kindern. Es fußt auf Erkenntnissen und Entwicklungsskalen zur Kommunikationsentwicklung von Bruner [2], Szagun [10], Papousek [9] und Zollinger [12]. Damit basiert das MSS auf den gleichen anerkannten theoretischen Annahmen vieler anderer Verfahren wie die der diagnostischen Verfahren z.B. Teddy Test [1], Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder SETK 2 und Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder SETK 3-5 von Grimm [4], Heidelberger Sprachentwicklungstest HSET von Grimm & Schöler, Sprachscreening für das Vorschulalter SSV von Grimm, Analyseverfahren zu Aussprachsstörungen bei Kindern AVAK-Test von Hacker & Wilgermein [5], Evozierte Sprachdiagnostik grammatischer Fähigkeiten ESGRAF von Motsch [8].

Die im Marburger Sprach-Screening vorgenommene Befunderhebung am Kind prüft neben dem komplexen Lautsystem des „Deutschen“ sowohl Verständnis als auch Produktion der Laute/Lautkombinationen ab, so dass sich sehr gezielt sagen lässt, welche Laute und Lautkombinationen dem Kind Schwierigkeiten bereiten.

Die Meilensteine der Artikulationsentwicklung wurden der Lauttreppe von Möhring 1937 entnommen. Die Forschungsergebnisse von Möhring [7] wurden bis heute durch vielfältige Untersuchungen immer wieder bestätigt [5].

Die Eckpunkte zur Wortschatzentwicklung und zur Begriffsbildung wurden aus Untersuchungen und Veröffentlichungen von Bruner [2] und Szagun [10] entnommen. Die Bewertung der Syntaxentwicklung wurden in Anlehnung an Clahsen [3] formuliert. Die Beurteilung der Sozialentwicklung basiert auf Entwicklungsskalen zum Sozial- und Spielverhalten von Wood [11].

Ergebnisse

Von den insgesamt 213 als sprachauffällig getesteten Kindern aus dem Jahre 2003 wurden insgesamt 158 Kinder in einer zweiten Untersuchung überprüft. 55 Kinder (26%) nahmen aus unterschiedlichen Gründen nicht an der geplanten Überprüfung teil. Neben Umzug, Urlaub oder Krankheit gaben19 Eltern keine Einwilligung für eine nochmalige Sprachstandserhebung.

Von den 158, der jetzt 5,5-6,0 jährigen Kinder, hatten 134 angemessene sprachliche Leistungen und bei 15% (24 Kinder) waren die sprachlichen Kompetenzen noch auffällig. Die größten Schwierigkeiten lagen in der korrekten Grammatikbildung.

34% der Kinder waren nicht in der Lage die Präposition im Dativ korrekt zu bilden.

16% hatten weitere Schwierigkeiten in der Flektion der Verben.

Die Artikulation war in 16% noch auffällig und betraf die Zischlaute sowie in einigen Fällen zusätzlich den K-Laut, auch in der Konsonantenverbindung.

5% der Kinder mit Deutsch als Muttersprache und 19 Kinder (32% ) mit Deutsch als Zweitsprache bei Migrationshintergrund waren mit ihren Sprachleistungen noch so auffällig, dass sie die sprachlichen Anforderungen für das 1.Schuljahr nicht erfüllen können. Sie benötigen weitere Förderung bzw. müssen Sonder- oder Vorschulen besuchen.

Für alle Kinder, die 2003 als sprachauffällig getestet wurden, war die Empfehlung für eine Hördiagnostik durch die Erzieher ausgesprochen worden. Bei insgesamt dreiviertel dieser Kinder (109) war eine Hördiagnostik erfolgt und in 8% der Fälle wurde nach Angaben der Eltern eine Hörstörung diagnostiziert. Die Befragung der Eltern ergab, dass alle Kinder mit Deutsch als Muttersprache und ein Drittel der Kinder mit Migrationshintergrund den empfohlenen Arztbesuch wahrnahmen. Erwähnenswert ist allerdings die Tatsache, dass die Vorstellung beim Arzt nicht ohne den begründeten Hinweis der Fachkräfte der Kindereinrichtung zustande gekommen wäre. Es zeigte sich auch, dass es noch keine kontinuierliche Rückmeldung zwischen Eltern und Erziehern über notwendige medizinische Maßnahmen gab.

Fazit

Die Mehrzahl der als sprachauffällig getesteten Kinder aus dem Jahre 2003 zeigte nach zwei Jahren einen deutlichen sprachlichen Lernzuwachs und eine fast ungestörte sprachliche Kompetenz. Die Folgeuntersuchung belegte weiterhin, dass durch die Überprüfung des Sprachstandes im Jahre 2003 sowohl die Erzieher als auch die Eltern eine andere Bewertung zur sprachlichen Leistung der Kinder erworben haben. Die Durchführung des MSS half den Erziehern verstärkt auf die sprachliche Kompetenz der Kinder zu achten bzw. das eigene Kommunikationsverhalten zu verbessern. Andererseits gelang es durch die mittels MSS erhobenen Ergebnisse einen leichteren Zugang zu den Eltern zu finden und ermöglichte Empfehlungen zur Sprachförderung besser umzusetzen.

Bei vielen Erziehern konnte außerdem Interesse zur eigenen Fortbildung in Bezug zur Sprachentwicklung geweckt werden. Diese Situation gestattete die Umsetzung gezielter Maßnahmen zur Sprachförderung im Rahmen des Kindergartenbesuchs.


Literatur

1.
Berger R, Friedrich G. Zur Früherkennung sprachentwicklungsgestörter Kinder- ein methodischer Ansatz. Sprache Stimme Gehör. 1994;(18):68-72.
2.
Bruner J. Wie das Kind sprechen lernt. Bern; 1987.
3.
Clahsen H. Spracherwerb in der Kindheit. Eine Untersuchung zur Entwicklung der Syntax bei Kleinkindern. Tübinger Beiträge zur Linguistik. 1982 .
4.
Grimm H. Sprachscreening für Vorschulkinder (SSV) Kurzform des SETK 3-5 Göttingen. Hogrefe; 2003.
5.
Hacker D, Wilgermein H. AVAK Analyseverfahren zu Aussprachestörungen bei Kindern. München, Basel; 1999.
6.
Holler-Zittlau I, Dux W, Berger R. Marburger Sprach- Screening für 4-6 jährige Kinder (MSS). Ein Sprachprüfverfahren für Kindergarten und Schule. Horneburg/Niederelbe: Persen Verlag GmbH; 2003. ISBN 3 89358 997 X.
7.
Möhring H. Lautschwierigkeiten im Deutschen. Zeitschrift für Kinderforschung. 1938;47:185-235.
8.
Motsch HJ. ESGRAF- Testmanual Evozierte Sprachdiagnose grammatikalischer Fähigkeiten. München/Basel; 2000.
9.
Papousek M. Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Anfänge der Sprachentwicklung im der vorsprachlichen Kommunikation. Bern; 2004.
10.
Szagun G. Bedeutungsentwicklung beim Kind. Wie Kinder Wörter entdecken. München; 1983.
11.
Wood M. The Development Therapy Institut: The Developmenal Teaching Objectives for DTORF-R. Athens, Georgia; 1992.
12.
Zollinger B. Spracherwerbstörungen, Grundlagen zur Früherfassung und Frühtherapie. In: Haeberlin U. Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik 16.Stuttgart; 1995.