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100 Jahre Phoniatrie in Deutschland
22. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
24. Kongress der Union Europäischer Phoniater

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

16. bis 18.09.2005, Berlin

Zentrale laryngeale Bewegungsstörungen und ihre funktionellen Auswirkungen

Central movement disorders of the larynx and their functional relevance

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Heidrun Schröter-Morasch - Städtisches Klinikum München GmbH, Krankenhaus Bogenhausen, Abteilung Neuropsychologie, München, Deutschland
  • author Wolfram Ziegler - Städtisches Klinikum München GmbH, Krankenhaus Bogenhausen, EKN - Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie, München, Deutschland

100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05dgppV40

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2005/05dgpp084.shtml

Published: September 15, 2005

© 2005 Schröter-Morasch et al.
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Zusammenfassung

Eine erworbene Hirnschädigung kann zu unterschiedlichen Störungsbildern der motorischen Innervation des Kehlkopfs führen, abhängig vom Zeitpunkt der Schädigung, deren Ätiologie, Lokalisation und Ausmaß. Die Symptomatik wird zudem durch Beeinträchtigungen höherer Hirnleistungen wie Sprache, Kognition und Verhalten überlagert und muß ebenso von peripheren Schädigungen durch Traumata abgegrenzt werden. In einer Untersuchung von 223 Patienten nach Schlaganfall, Schädelhirntrauma oder Hirntumorentfernung erfassten wir daher die Ergebnisse der bildgebenden Hirndiagnostik, videoendoskopischer und stroboskopischer Befunde sowie auditiver und akustischer Stimmanalyse. Wir konnten sowohl relativ häufige charakteristische Kennzeichen zentraler laryngealer Paresen erfassen als auch seltene Störungsbilder wie unwillkürliche laryngeale Bewegungen beim Tourettesyndrom oder beim pathologischen Lachen dokumentieren. Dabei konnten spezifische Störungsbilder kortikalen, subkortikalen und zerebellären Läsionen zugeordnet werden. Läsionen im Bereich des Hirnstamms hatten besonders komplexe Beeinträchtigungen zur Folge, deren Ursachen dargestellt werden. Die Vielfalt und Schwere der erfassten Symptome verdeutlicht die Notwendigkeit einer umfassenden Diagnostik, um den Anforderungen einer an den pathophysiologischen Gegebenheiten orientierten Therapie gerecht werden zu können.

Die wichtigsten videoendoskopischen und stroboskopischen Befunde werden demonstriert.


Text

Einleitung

Eine erworbene Hirnschädigung führt zu unterschiedlichen Störungsbildern der senso-motorischen Innervation des Kehlkopfs, abhängig vom Zeitpunkt der Schädigung, deren Ätiologie, Lokalisation und Ausmaß. Die Symptomatik kann zudem überlagert sein durch:

• Beeinträchtigungen höherer Hirnleistungen wie Sprache, Kognition und Verhalten

• periphere Schädigungen durch Traumata im Kopf-Hals-Bereich einschließlich der Folgen von Intubation, Langzeitbeatmung, Tracheotomie und Sondenernährung

• funktionelle Fehlanpassungen

Im Gegensatz zu Stimmstörungen nach strukturellen Läsionen des Kehlkopfes weisen Patienten mit laryngealen Bewegungsstörungen nach Hirnschädigung nicht nur Beeinträchtigungen von Stimmqualität und -leistung auf, sondern in der Regel auch Auffälligkeiten der Atmung, der Artikulationsfähigkeit und Prosodie, welche nicht selten eine Minderung der Verständlichkeit, Reduzierung der Sprechbelastbarkeit und der emotionalen Ausdrucksfähigkeit zur Folge haben. Zur Sicherung der Diagnose, Einschätzung des Schweregrades und der Prognose sowie insbesondere zur Erarbeitung einer an den pathophysiologischen Gegebenheiten orientierten Therapie ist eine genaue Erfassung der jeweils ursächlichen Symptomatik unerlässlich [1].

Methodik

Wir untersuchten 223 Patienten nach Schlaganfall, Schädelhirntrauma oder Hirntumorentfernung, welche unserer Abteilung zur Rehabilitation zugewiesen worden waren:

Stichprobe: N = 223

Cerebrovasculäre Erkrankungen (CVE): 101

- Alter [J]: 49 (20 - 70)

- Zeit seit Erkrankung [M]: 5 (3 - 20)

Schädel-Hirn-Trauma (SHT): 103

- Alter [J]: 27 (14 - 60)

- Zeit seit Erkrankung [M]: 8 (2 - 96)

Zust. nach Hirntumorentfernung : 19

- Alter [J]: 44 (19 - 62)

- Zeit seit Erkrankung [M]: 2 (1 - 8)

Dabei erfassten wir die Befunde der bildgebenden Hirndiagnostik, videoendoskopischer und stroboskopischer Befunde sowie auditiver und akustischer Stimmanalysen.

Ergebnisse

An allgemeinen Charakteristika zentraler (supranukleärer) Bewegungsstörungen sind bekannt [2]:

• Veränderungen des Muskeltonus

• Beeinträchtigungen des Bewegungsradius

• Gestörte Willkürsteuerung bei erhaltener reflektorischer Funktion bzw. erhaltenen emotionalen Lautäußerungen (z.B. Lachen [3])

• Hyperkinesen und Dystonien (unwillkürliche Bewegungen)

• laryngeale Apraxie [4]

• ataktische Störungen und Störungen der zeitlichen Koordination

In Relation zu den jeweiligen Läsionsorten ließen sich spezifische Störungsmuster des Kehlkopfs erkennen (Tabelle 1 [Tab. 1], Abbildung 1 [Abb. 1]).

Patienten nach CVE wiesen häufiger einseitige Störungen, sowohl spastische Paresen (einseitig N=42, beidseitig N=12) als auch Hyperkinesen mit leichter Stimmstörung auf, der Anteil der apraktischen Symptome war jedoch hoch (N= 37). Patienten nach SHT dagegen zeigten häufiger beidseitige spastische Paresen des Kehlkopfs (einseitig N=9, beidseitig N=40) mit schwerer Beeinträchtigung von Stimmqualität, Stimmleistung und Prosodie. Wiederholt konnten wir bei diesen Patienten während des Lachens eine unvermittelte Normalisierung des Stimmlippenbildes verzeichnen. Die nach Läsionen der subkortikalen Etappenbahnen und des Kleinhirns zu beobachtenden Dystonien, Hyperkinesen und ataktischen Zeichen traten ebenfalls ein- und beidseitig auf, entsprechend ausgeprägt war die Schwere der Symptomatik von leichtem Stimmtremor bis zur schwersten Stimm- und ggf. Schluckstörung. Läsionen im Bereich des Hirnstamms führten durch Schädigungen des Nucleus ambiguus zum Bild einer peripheren Kehlkopflähmung mit Aufhebung der willkürlichen und reflektorischen Beweglichkeit, Hypotonie der Muskulatur und schließlich Atrophie, durch Schädigung umgebender Strukturen wie Formatio reticularis und der „Pattern generators" für den Schluckvorgang aber häufig zusätzlich zu Atem- und Schluckproblemen, sowohl nach CVE, z.B. beim Wallenbergsyndrom als auch nach operativer Entfernung von Tumoren der hinteren Schädelgrube.

Diskussion

Unsere Ergebnisse zeigen, dass Hirnschädigungen sowohl in zentralen als auch peripheren Bewegungsstörungen des Kehlkopfs resultieren können. Entsprechend der komplexen zentral-motorischen Steuerung sind die zentralen Bewegungsstörungen wesentlich vielfältiger. Die beobachteten zahlreichen einseitigen Bewegungsstörungen nach CVE stellen die Annahme einer bilateral-symmetrischen Innervation der Kehlkopfmuskeln in Frage. Der beobachtete Erhalt von ungestörter Beweglichkeit bei emotionalen Lautäußerungen wie beim Lachen stützt die These einer unterschiedlichen zentralen Kontrolle von willkürlichen und von emotional-expressiven Kehlkopfbewegungen [5].

Die Vielfalt und Schwere der erfassten Symptome verdeutlicht die Notwendigkeit einer umfassenden Diagnostik, um den Anforderungen einer an den pathophysiologischen Gegebenheiten orientierten Therapie gerecht werden zu können.


Literatur

1.
Schröter-Morasch, H.: Beurteilung der Sprechorgane und ihrer sensomotorischen Funktionen. In Ziegler, W., M. Vogel, H. Schröter-Morasch, B. Gröne (Hrsg.): Dysarthrie. 2. Auflage. Thieme, Stuttgart 2002 (S. 53)
2.
Schröter-Morasch, H., W. Ziegler: Dysarthrien und Sprechapraxie. In: Wendler, J., W. Seidner, U. Eysholdt (Hrsg.): Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. 4. Auflage. Thieme, Stuttgart 2005 (S. 284)
3.
Hopf, H. C., C. Fitzek, J. Marx, P. P. Urban, F. Thomke: Emotional facial paresis of pontine origin. Neurology 54 (2000) 1217
4.
Hoole P, H. Schröter-Morasch, W. Ziegler. Patterns of laryngeal apraxia in two patients with Broca's aphasia. Clinical Linguistics and Phonetics 11 (1997) 429
5.
Ziegler, W.: Speech motor control is task-specific: Evidence from dysarthria and apraxia of speech. Aphasiology 17 (1) (2003) 3