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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Innenohrschwerhörigkeit als Folge einer Propionazidämie

Poster

  • author presenting/speaker Liliane Michels - Universitäts-HNO-Klinik, Bereich Phoniatrie/Pädaudiologie, Tübingen, Deutschland
  • author F.K. Trefz - Klinik für Kinder und Jugendmedizin, Stoffwechselzentrum des Klinikum am Steinberg, Reutlingen, Deutschland
  • Dagmar Scheible - Klinik für Kinder und Jugendmedizin, Stoffwechselzentrum des Klinikum am Steinberg, Reutlingen, Deutschland
  • author Harry de Maddalena - Universitäts-HNO-Klinik, Bereich Phoniatrie/Pädaudiologie, Tübingen, Deutschland
  • author Sibylle Brosch - Universitäts-HNO-Klinik, Bereich Phoniatrie/Pädaudiologie, Tübingen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppP12

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Published: September 9, 2004

© 2004 Michels et al.
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Zusammenfassung

Die Propionazidämie ist eine vererbte Abbaustörung der verzweigtkettigen Aminosäuren. Es liegt ein Defekt der biotinabhängigen Propionyl-CoA-Carboxylase zugrunde. Bei Nichtbehandlung kommt es bereits beim Neugeborenen zu einer schweren Stoffwechselentgleisung, neurologischen Symptomen, Atemstörung und Koma. Eine frühe Diagnostik, diätetische und medikamentöse Behandlung lässt viele Patienten ein (fast) normales Leben führen. Neben einer mentalen Retardierung bestehen bleibende Schädigungen des visuellen sensorischen Systems. Bisher sind keine Zusammenhänge mit Innenohrschädigungen beschrieben. Wir haben mehrere Fälle von Schwerhörigkeiten beobachtet, so dass sich der Verdacht auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Stoffwechselstörung und einer Hörschädigung ergab.

Bisher wurden 5 Patienten (Alter 6-23 Jahre) untersucht, von denen 4 mit Hörgeräten versorgt waren. In der audiologischen Diagnostik zeigten sich unterschiedliche Schweregrade von Hörschädigungen. Sehr stark variierte auch das Alter bei der Erstdiagnose (ein Jahr bis 13 Jahre). In einem zweiten Schritt werden molekulargenetische Untersuchungen durchgeführt.

Bei einem Teil der Betroffenen besteht möglicherweise ein Zusammenhang zwischen einer Propionazidämie und einer Innenohrschwerhörigkeit. Die Ätiologie ist bislang unklar. Bei allen Patienten mit Propionazidämie sollte deshalb eine pädaudiologische Untersuchung sowohl in der frühen Manifestationsphase als auch im Verlauf durchgeführt werden.


Text

Einleitung

Die Propionazidämie wurde erstmals 1961 beschrieben [1] und gehört als Abbaustörung verzweigtkettiger Aminosäuren zu den Organoazidopathien. Die autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselstörung hat eine Autretenshäufigkeit von etwa 1:50000; ihr liegt ein Defekt der mitochondrialen, biotinabhängigen Propionyl-CoA-Carboxylase zugrunde. Im ZNS dominieren degenerative Veränderungen in Verbindung mit reaktiver Gliose. Bisher sind 4 genetische Varianten beschrieben [3]. Bei Nichtbehandlung kommt es bereits beim Neugeborenen zu schweren Stoffwechselentgleisungen, neurologischen Symptomen, Atemstörung und Koma. Besonders katabole Situationen (z.B. Fieber, Impfungen, Infektionen) können lebensbedrohliche Stoffwechselkrisen auslösen. Eine frühe Diagnostik und eine diätetische sowie medikamentöse Behandlung lässt viele Patienten ein (fast) normales Leben führen. Neben einer mentalen Retardierung bestehen häufig bleibende Schädigungen des visuellen sensorischen Systems. Bisher sind keine Zusammenhänge mit Innenohrschädigungen beschrieben.

Material und Methode

Wir haben bisher 5 Patienten mit Propionazidämie und gleichzeitig bestehender Schallempfindungsschwerhörigkeit untersucht.

Ergebnisse

Vier dieser 5 Patienten waren mit Hörgeräten versorgt: Das jüngste Kind war ein 6-jähriges Mädchen mit einer mittel- bis hochgradigen IOS und einer deutlichen psychomotorischen Retardierung. Die Stoffwechselstörung wurde im 3. Lebensmonat festgestellt.

Ein weiteres Mädchen (9 Jahre) hatte eine an Taubheit grenzende IOS. Das Kind besuchte einen Kindergarten für Geistigbehinderte und bildete schwer verständliche 2-Wortsätze. Die Stoffwechselstörung wurde in der 6. Lebenswoche diagnostiziert und wird seither behandelt.

Ein drittes Mädchen (16 Jahre) stellte sich mit einer mittelgradigen IOS und einer intellektuelle Minderbegabung mit einem IQ von 77 vor. Sie besuchte eine Hauptschule, die sie nicht abschließen konnte.

Bei einem Jungen (12 Jahre) lag eine Hochton-IOS vor, die gerade eben noch nicht sprachrelevant und daher nicht hörgeräteversorgt war. Er besuchte eine Körperbehindertenschule, sprach gut verständlich Türkisch und hatte insgesamt 3 Geschwister, die an den Folgen einer Propionazidämie verstorben waren.

Ein junger Mann (23 Jahre) hatte eine hochgradige IOS, die mit 13 Jahren diagnostiziert und mit Hörgeräten versorgt wurde. Die Stoffwechselstörung ist seit dem 14. Lebensmonat bekannt. Auch seine drei Brüder waren in der frühen Kindheit verstorben. Der Patient war minderbegabt mit einem rasch progredienten Abbau der intellektuellen Leistungen ab dem 13. Lebensjahr. Er war in eine Schule für Körperbehinderte eingegliedert, sprach gut verständlich und zeigte im NMR neben einer Hirnatrophie subcortical demyelinisierende, teilweise gliöse Herde.

Diskussion

Wir haben mehrere Fälle von Schwerhörigkeiten bei Patienten mit Propionazidämie beobachtet, so dass sich der Verdacht auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Stoffwechselstörung und einer Hörschädigung ergab. Die Ätiologie ist bisher unklar. Wir planen bei diesen 5 Patienten eine molekulargenetische Zusatzuntersuchung; möglicherweise handelt es sich um eine Mutation an einem Genort, der auch eine Rolle bei der auditiven Perzeption spielt. In der audiologischen Diagnostik zeigten sich unterschiedliche Schweregrade der Hörstörung. Sehr stark variierte auch das Alter bei der Erstdiagnose der Hörminderung (1 Jahr bis 13 Jahre), wobei der späte Beginn der Hörschädigung bei einem Patienten zeitgleich mit einem rasch progredienten intellektuellen Abbau einherging, der sich kernspintomographisch verifizieren ließ.

Für die Prognose der Propionazidämie sind der Zeitpunkt der Diagnosestellung und eine adäquate Therapie schon zwischen Erstmanifestation und Diagnosestellung sowie die weitere Langzeitbehandlung von entscheidender Bedeutung. Prinzipiell ist eine normale psychomotorische Entwicklung möglich, jedoch können schon kurze Episoden mangelhafter Kontrolle zu irreversiblen Schäden bzw. zum Tod führen. Eine quantitative Bestimmung pathognomonisch erhöhter Metabolite aus der Amnionflüssigkeit ist möglich [2].


Literatur

1.
Childs B., Nyha W.L., Borden M., Bard L., Cooke R.E.: Idiopathic hyperglycinemia and hyperglycinuria: a new disorder of amino acid metabolism. Pediatric 1961;27:522-538
2.
Inoue Y., Kuhara T.:Rapid and sensitive method for prenatal diagnosis of propion acidemia using stable dilution gas chromatography - mass spectrography and urease pretreatment. J Chromatrogr B Analyt Technol Biomed Life Sci 2002;25:71-77
3.
Mahnke P.F., Weidenbach H.: Zur Pathologie und Pathogenese der Propionazidämie. Zentralbl Pathol 1992;138:235-239