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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Sprachverstehen im Störschall bei einseitiger Atresia Auris Congenita (AAC)

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  • corresponding author Hilke Sommer - HNO-Klinik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Ratzeburger Allee 160, D-23562 Lübeck, Tel.: +49-(0)451-500-6065, Fax.: +49-(0)451-500-4192
  • Claudia Evers - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Ratzeburger Allee 160, D-23562 Lübeck, Tel.: +49-(0)451-500-3485, Fax.: +49-(0)451-500-6792
  • author Rainer Schönweiler - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Ratzeburger Allee 160, D-23562 Lübeck, Tel.: +49-(0)451-500-3485, Fax.: +49-(0)451-500-6792

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocP26

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2003/03dgpp067.shtml

Published: September 12, 2003

© 2003 Sommer et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Sprachverstehen im Störschall baut auf auditiven Verarbeitungsleistungen auf. Bei angeborenen Schwerhörigkeiten kann das Sprachverstehen im Störschall gestört sein. Bei der ACC besteht ein angeborener Schallleitungsblock, in 90 % der Fälle einseitig. Bisher werden nur beidseitig betroffene Patienten frühzeitig mit Hörgeräten versorgt. Für einseitig betroffene Kinder gibt es keine Empfehlungen. Methode: Bei 21 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit AAC (Alter 6-50 Jahre) wurde das Sprachverstehen im Störschall mit dem für solche Fragestellungen entwickelten Oldenburger Satztest durchgeführt und die Sprachverständlichkeitsschwelle (SVS) als Signal-Störgeräuschabstand für 50 %-iges Sprachverstehen ermittelt. Kontrollen waren 21 nach Alter und Geschlecht gematchte Probanden. Sprachsignale (S) und Störgeräusche (N) wurden im freien Schallfeld als S0°N0°, S0°N90°, S0°N180°, S0°N270, S90N270°, S270°N90° angeboten. Ergebnisse: Patienten mit ACC zeigten unter allen Bedingungen schlechtere Werte als Kontrollen, besonders bei Störschall auf dem gesunden Ohr. Bei einer seit dem 45. Lebensjahr mit einseitigem BAHA versorgten Patientin fand sich eine Verbesserung der SVS unter allen Bedingungen ausgenommen Störschall auf der BAHA-versorgten Seite. Schlussfolgerung: Bei ACC mit einseitiger Schallleitungsschwerhörigeit ist das Sprachverstehen im Störschall beeinträchtigt und kann vermutlich auch durch späte Versorgung mit Hörgeräten noch verbessert werden.


Text

Einleitung

Das Sprachverstehen im Störschall gehört zu den wichtigsten auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen und hilft dem Individuum, sich in geräuschvoller Umgebung oder in Situationen mit verschiedenen Sprechern zu orientieren, wie im Kindergarten, in der Schule und im Berufsalltag. Bei angeborenen Schwerhörigkeiten ist pädaudiologischerseits davon auszugehen, dass die Entwicklung des Sprachverstehens im Störgeräusch beeinträchtigt ist (Knudsen 1983). Daraus können erhebliche Probleme in oben genannten Situationen resultieren. Bei der AAC besteht ein angeborener Schalleitungsblock. Bei einer Prävalenz von einer pro 10.000 Geburten sind 90 % der Patienten ein- und 10 % beidseitig betroffen. Es liegt eine Mikrotie III. Grades vor. Das Mittelohr ist rudimentär angelegt. Patienten mit beidseitiger AAC sind aufgrund des beidseitigen Schalleitungsblocks von Geburt an mittelgradig schwerhörig. Ohne eine pädaudiologische Hörrehabilitation ist eine Sprachentwicklung nur mit starken Einschränkungen möglich. Deshalb werden diese Patienten möglichst früh mit Hörgeräten versorgt. Patienten mit einseitiger AAC weisen einen normalen Spracherwerb auf. Erkenntnisse über die auditiven Verarbeitungsleistungen wie das Sprachverstehen im Störgeräusch liegen derzeit nicht vor. Es keine allgemeingültigen Empfehlungen, ob diese Patienten hörgeräteversorgt werden sollten. Einige Autoren beschreiben einen audio- und psychometrisch günstigen Effekt eines Knochenleitungshörgerätes, wobei sich die Beobachtungen auf wenige Fälle beschränken [1], [2], [3]. Studien mit größeren Kollektiven und statistisch abgesicherte Aussagen existieren nicht. Aus grundsätzlichen theoretischen Überlegungen wurde aber die Forderung entwickelt, Kinder mit einseitiger Schwerhörigkeit pädaudiologisch zu rehabilitieren [4], [5], [6]. Hierfür sprechen auch Beobachtungen von Bess et Tharpe (1984) [7], Bess et al. (1986) [8] und und Oyler et al. [9], die bei einseitig schwerhörigen Patienten gehäuft schulische Probleme fanden. Linstrom et al. (1995) empfehlen, bei einseitiger AAC dann eine Hörgeräteversorgung vorzunehmen, wenn eine Mittelohrrekonstruktion nicht möglich ist und es zu Verzögerungen in der Sprachentwicklung und im schulischen Bereich kommt. Andere Autoren halten dagegen eine Hörgeräteversorgung „bei einseitiger Hörstörung im Kindesalter" für „nicht unbedingt erforderlich" [10]. Es ist derzeit also ungeklärt, ob Patienten mit einseitiger AAC mit einem Knochenleitungshörgerät versorgt werden sollen. Deshalb bestand die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit darin, die Beeinträchtigung des Sprachverstehens mit konkurrierenden Signalen bei einseitiger AAC zu quantifizieren und daraus Empfehlungen für die zukünftige Indikation einer Hörgeräteversorgung abzuleiten.

Methoden

Es wurden 25 Patienten im Alter von 11 bis 48 Jahren (10 ♂, 15 ♀) mit einseitiger AAC untersucht. Die Patienten stellten in der Ohrmuschelsprechstunde der HNO-Universitätsklinik Lübeck vor und wurden in der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie getestet. Deutsch war als Erstsprache Voraussetzung. Die Patienten mussten intellektuell in der Lage sein, den Ablauf der einzelnen Tests zu verstehen, was anhand der Anamnese eingeschätzt wurde. Als Kontrollen wurde ein Kollektiv von 25 normalhörenden Probanden getestet. Akute und chronische Ohrer-krankungen und -operationen waren ausgeschlossen. Die Kontrollen waren nach Alter und Geschlecht gematcht. Es wurde eine Sprachaudiometrie im Störgeräusch im Freifeld in einer horizontalen Anordnung von vier Lautsprechern in Kopfhöhe im Abstand von 90° (0°, 90°, 180°, 270°) vorgenommen. Methode war der standardisierte Oldenburger Satztest. Zielgröße war das Verstehen von Sätzen mit fünf ein- bis zweisilbigen Wörtern, die mit einem standardisierten Störgeräusch angeboten wurden. Beide Signale wurden bei 65 dB angeboten. Der Pegel des Sprachsignals wurde dann in Abhängigkeit von der Anzahl der richtig verstandenen Wörter schrittweise modifiziert. Bei vier oder fünf richtig verstandenen Wörtern wurde die Intensität des Sprachsignal um ein bzw. zwei dB verringert, bei zwei oder drei richtig verstandenen Wörtern wurde nichts verändert. Bei einem oder keinem richtig verstandenen Wort wurde das Sprachsignals um ein bzw. zwei dB verstärkt. Als Parameter diente die Sprachverständlichkeitsschwelle (SVS), die den Sprachsignal-Störgeräusch-Abstand definiert, bei dem ein 50%iges Verstehen der Sprache möglich war. Ein Testdurchlauf bestand aus 30 Sätzen, die ersten zehn dienten als Übungsphase, die weiteren 20 wurden ausgewertet. Folgende räumliche Konstellationen wurden für das Sprachsignal (S) und Störsignal (N) gewählt: S0°N0°, S0°N180°, S0°N90°, S0°N270°, S90°N270°, S270°N90°. Die Messungen wurden ohne Hörgerät und im Sinne einer Hörgeräteüberprüfung mit einem einseitigen Knochenleitungshörgerät durchgeführt.

Ergebnisse

In der Gesamtauswertung betrug die SVS der Kontrollen -11,9 +/- 3,3 dB, die der Patienten -6,5 +/- 3 dB [Abb. 1]. In den einzelnen räumlichen Konstellationen zeigten die Patienten jeweils eine schlechtere SVS als die Kontrollen. Besonders ausgeprägt waren diese Unterschiede dann, wenn der Störschall auf das normalhörende Ohr traf. Traf der Störschall auf das schwerhörige Ohr, so war der Unterschied zur Kontrollgruppe nur gering [Abb. 2]. Eine Altersabhängigkeit der Ergebnisse bestand weder bei den Kontrollen noch bei den Patienten [Abb. 3]. Eine Patientin wurde ohne und mit einem einseitigen Knochenleitungshörgerät (BAHA) getestet. In den Konstellationen, in denen das Störgeräusch auf die normale Seite traf, sowie in den Konstellationen S0°N0° und S0°N180° brachte das Hörgerät im Vergleich zur Messung ohne Hörgerät eine Verbesserung der SVS. Traf der Störschall auf die hörgeräteversorgte Seite, kam es zu einer geringgradigen Verschlechterung der SVS [Abb. 4].

Diskussion

Das Sprachverstehen im Störgeräusch wurde in sechs unterschiedlichen Situationen getestet. Die Kontrollen zeigten in allen Situationen die Fähigkeit, Sprache während eines Geräuschpegels zu verstehen, der über dem Sprachpegel lag. Bei den Patienten mit einseitiger AAC war diese Fähigkeit vor allem in den Situationen gestört, in denen das Störgeräusch auf das normalhörende Ohr traf, aber auch in den anderen Situationen. Traf das Störgeräusch auf die schwerhörige Seite, so war das Sprachverstehen wegen der Kopfabschattung relativ gut. Da in der natürlichen Umwelt weniger konkret angeordnete Situationen wie im Test, sondern Situationen mit einem diffusen ubiquitären Störgeräusch existieren (Straßenverkehr,Schulklasse, Kindergarten etc.), ist davon auszugehen, dass eine Verminderung des Sprachverstehens im Störgeräusch in den meisten Situationen für die Patienten mit einseitiger AAC relevant ist [6]. Auch Snik et al. berichteten 2002 [2] über ein schlechtes Sprachverstehen im Störschall bei einseitiger AAC. Möhring et al. gehen davon aus, dass bei einseitige angeborene Schwerhörigkeit zu einer Störung des Sprachverstehens im Störschall führen muss. In unsrer Studie bestand weder bei den Kontrollen noch bei den Patienten mit einseitiger AAC eine Altersabhängigkeit der Ergebnisse. Daraus folgt, dass sich auch diese auditive Verarbeitungsleistung vor dem elften Lebensjahr entwickelt. Möhring fand 1995 [11] bei Kindern von fünf bis acht Jahren mit einseitiger angeborener Schwerhörigkeit identische Ergebnisse beim Sprachverstehen im Störschall, so dass sie schloss, dass die sensible Entwicklungsphase dieser auditiven Verarbeitungsleistung vor dem fünften Lebensjahr liegt. Das Sprachverstehen im Störgeräusch mit eigener Hörgeräteversorgung konnte nur bei einem Patienten untersucht werden. In den Situationen, in denen das Störgeräusch auf das normalhörende Ohr traf, brachte ein Hörgerät eine deutliche Verbesserung des Sprachverstehens. Für die Situationen S0°N0° und S0°N180° konnte ebenfalls eine Verbesserung des Sprachverstehens durch das Hörgerät erzielt werden. In den Situationen, in denen der Störschall auf das schwerhörige Ohr traf, trat durch die Hörgeräte-Versorgung eine geringe Verschlechterung des Sprachverstehens auf. Diese Ergebnisse lassen im Hinblick auf das Sprachverstehen im Störgeräusch auf eine sinnvolle Indikation zur Hörgeräte-Versorgung bei einseitiger AAC schließen. Da die Patientin das Hörgerät erst mit 46 Jahren erhalten hatte, scheint es möglich zu sein, einen solchen Erfolg auch nach Abschluss der physiologischen Entwicklungsphase zu erzielen. Snik et al. fanden 2002 bei einem Patienten mit einseitiger AAC, der ähnlich spät mit einem BAHA versorgt worden war, keine guten Ergebnisse für das Hören im Störgeräusch. Bei einem anderen Patienten derselben Studie, der im Alter von 19 Jahren versorgt worden war, war dies jedoch erfolgreich. Eine einseitige Versorgung mit einem Knochenleitungshörgerät bei einseitiger AAC ist bezüglich des Sprachverstehens im Störschall also sinnvoll.


Literatur

1.
Miller AL, Lehman R. A bone conduction hearing aid for a unilateral conductive hearing loss. A case report. Ann Otol Rhinol Laryngol 1969; 78: 187-90
2.
Snik AF, Mylanus EA, Cremers CW. The bone-anchored hearing aid in patients with a unilateral air-bone gap. Otol Neurol 2002; 23 (1): 61-6
3.
Wazen JJ, Spitzer J, Ghossaini SN, Kacker A, Zschommler A. Results of the bone-anchored hearing aid in unilateral hearing loss. Laryngoscope 2001; 111 (6): 955-8
4.
Kiese-Himmel C, Kruse E. Unilateral hearing loss in childhood. An empirical analysis comparing bilateral hearing loss. Laryngo Rhino Otol 2001; 80(1):18-22
5.
Niehaus HH, Olthoff A, Kruse E. Early detection and hearing aid management of pediatric unilateral hearing loss. Laryngo Rhino Otol 1995; 74 (11), 657-62
6.
Northern JL and Downs DHS. Hearing and hearing loss in Children. In. Hearing in Children. 5th Edition. Lipinkott Williams& Wilkins, Philadelphia 2002
7.
Bess FH, Tharpe AM. Unilateral hearing impairment in children. Pediatrics 1984; 74:206-16
8.
Bess FH, Klle T, Culbertson JL. Identification, assessment and management of children with unilateral sensorineural hearing loss. Ear and Hearing 1986
9.
Oyler RF, Oyler AL, Matkin ND. Warning: A unilateral hearing loss may be detrimental to a child's academic career. Hearing journal 1988; 40 (9): 18-22
10.
Wirth G, Ptok M, Schönweiler R. Hörgeräteversorgung. In: Sprachstörungen, Sprechstörungen, kindliche Hörstörungen. Deutscher Ärzteverlag, Köln 2000, S. 289
11.
Möhring L, Braun-Frank L, Wirth G. Aussagewert der Prüfung von Lokalisationsfähigkeit und Sprachverständnis bei einseitiger Hörstörung im Kindesalter. Sprache Stimme Gehör 1995; 19:28-34