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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Unterschiede im vokalen Ausdruck von Emotionen bei hörenden und hochgradig schwerhörigen Säuglingen

Poster

  • corresponding author Elisabeth Scheiner - Deutsches Primatenzentrum, Abt. Neurobiologie, Kellnerweg 4, 37077 Göttingen, Tel.: 0551/3851-256, Fax.: 0551/3851-302
  • Kurt Hammerschmidt - Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Sektion Suchtforschung, Osianderstr. 24, 72076 Tübingen, Tel.: 07121-9393842
  • Uwe Jürgens - Deutsches Primatenzentrum, Abt. Neurobiologie, Kellnerweg 4, 37077 Göttingen, Tel.: 0551/3851-250, Fax.: 0551/3851-302
  • Petra Zwirner - Institut für Phoniatrie, Pädaudiologie und CI-Zentrum, Vestische Kinderklinik Datteln, Universität Witten/Herdecke, Dr. Friedrich-Steiner-Str.5, 45711 Datteln, Tel.: 02363-975281, Fax.: 02363-975289

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocP20

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Published: September 12, 2003

© 2003 Scheiner et al.
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Zusammenfassung

Schon die frühesten Lautäußerungen von Säuglingen werden von ihren Eltern als Ausdruck eines emotionalen Zustandes interpretiert. Allerdings gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie schnell die Ausdifferenzierung von Emotionen bzw. deren vokalen Ausdrucks in den ersten Lebensmonaten voranschreitet. Weitgehend ungeklärt ist außerdem, wie sich Schwerhörigkeit auf den vokalen Ausdruck von Emotionen auswirkt. In dieser Studie wurden daher Lautäußerungen von hörenden und hochgradig schwerhörigen Säuglingen während ihres ersten Lebensjahres in regelmäßigen Abständen aufgenommen und anschließend analysiert. Bei normal hörenden Kindern unterschieden sich Laute gleichen Typs aus positivem und negativem emotionalen Kontext in ihrer akustischen Struktur. Letztere waren länger und hatten mehr Energie in den oberen Frequenzbereichen. Unterschiede in einzelnen positiven oder negativen Emotionen konnten nicht in der Lautstruktur erkannt werden. Allerdings ließen sich verschiedene positive Emotionen aufgrund der relativen Häufigkeit charakteristischer Lauttypen trennen. Bei den schwerhörigen Kindern zeigen die bisherigen Ergebnisse, dass emotionelle Unterschiede weder in der Lautstruktur, noch durch die Häufigkeiten in den Lauttypen gut zu unterscheiden sind. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass neben der primären angeborenen Komponente auch die Hörerfahrung Einfluss auf die Ausbildung der präverbalen emotionalen Lautäußerung nimmt.


Text

Einleitung

Schon die frühesten Lautäußerungen von Säuglingen werden von ihren Eltern als Ausdruck eines emotionalen Zustandes interpretiert [1]. Allerdings gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie schnell die Ausdifferenzierung von Emotionen bzw. deren vokalen Ausdrucks in den ersten Lebensmonaten voranschreitet. Weitgehend ungeklärt ist außerdem, wie sich Schwerhörigkeit auf den vokalen Ausdruck von Emotionen auswirkt. Das Ziel dieser Studie war daher, das Lautrepertoire von hörenden und hochgradig schwerhörigen Säuglingen umfassend zu untersuchen und mit Hilfe einer akustischen Feinanalyse zu klären, ob und wie sich verschiedene Emotionen in bestimmten akustischen Charakteristika der präverbalen Säuglingslaute widerspiegeln.

Methode

Lautäußerungen von sieben normalhörigen (NH) Säuglingen und sieben hochgradig schwerhörigen (SH) Säuglingen wurden über ein Jahr lang in Abständen von ca. 1,5 Monaten nach einem Protokoll mit 11 vorgegebenen Situationen unterschiedlichen emotionalen Kontextes aufgenommen. Die Eltern der Säuglinge gaben bei jeder Aufnahme an, welche von sieben vorgegebenen Emotionen (Ärger, Unbehagen, Schmerz, Freude, Interesse, Zufriedenheit oder Überraschung) das Kind ihrer Ansicht nach jeweils ausdrückte. Jede der 11 Situationen wurde zwei Mal aufgenommen. Die Aufnahmen der NH Kinder erfolgten jeweils innerhalb einer Woche und wurden von den Eltern selbst durchgeführt. Die Aufnahmen der SH Säuglinge fanden im Laufe eines Tages statt und wurden von E. Scheiner vorgenommen. Alle SH Säuglinge waren etwa zum Zeitpunkt der zweiten Aufnahme mit einer Hörhilfe versorgt. Die Auswahl und die anschließende Digitalisierung der Laute erfolgte mit einem in Echtzeit arbeitenden Spektrographen (RTS 2.0, Engineering Design, Boston). Die Charakterisierung der Laute in ihrer Frequenz- und Zeitstruktur wurde mit Hilfe des Programms LMA 9.2 (Entwicklung: K. Hammerschmidt) durchgeführt. Jeder Laut wurde aufgrund seiner Frequenz- und Zeitcharakteristik einem Lauttyp zugeordnet. Jeder Lauttyp kam mit jeweils einem Subtyp sowohl in ‚negativen' (Unbehagen, Ärger, Schmerz) als auch in ‚positiven' Emotionen (Freude, Zufriedenheit, Interesse, Überraschung) vor (Abbildungen und genaue Beschreibung der Lauttypen siehe [2]).

Zunächst wurde festgestellt, ab welchem Alter mindestens die Hälfte der in einer Altersklasse aufgenommenen Säuglinge die verschiedenen Lauttypen äußern. Dann wurde für drei tonale Lauttypen (‚Schreien', ‚Gurren/Jammern' und 'Stöhnen'), für die genügend Exemplare in den verschiedenen Emotionen vorlagen, eine Faktorenanalyse durchgeführt. Die Kennzahlen der Faktorenanalyse (z.B. Kaiser-Meyer-Okin =0,93) zeigten, dass die resultierenden Faktorenladungen (8 Faktoren) geeigneter für die weitere Analyse waren, als die ursprünglichen Lautparameter. Entsprechend wurden die weiteren statistischen Berechnungen mit den acht Faktorenladungen durchgeführt. Zusätzlich wurde geprüft, ob sich verschiedene Emotionen aufgrund der relativen Häufigkeit charakteristischer Lauttypen innerhalb von Lautsequenzen trennen lassen. Dazu wurden pro Kind jeweils drei Sequenzen von 60s Dauer aus den Emotionen Freude, Zufriedenheit, Interesse, Unbehagen und Ärger ausgewertet.

Ergebnisse

Bis auf Lallen, welches von schwerhörigen Kindern später produziert wird, hatten hörende und schwerhörige Säuglinge im 1. Lebensjahr das gleiche Lautrepertoire im gleichen Alter [Abb. 1]. Die multivariate Analyse der Faktorenladungen ergab bei allen drei Lauttypen signifikante Unterschiede (Gurren/Jammern: n=14; F=3,38; p=0,000; Stöhnen: n=14, F=5,74, p=0,000; Schreien: n=14, F=3,63, p=0,000 ; GLM multivariat (Hotelling's trace)) in der akustischen Struktur zwischen den vier emotionalen Kontexten ‚Freude', ‚Zufriedenheit', ‚Unbehagen' und ‚Ärger'. Die anschließenden univariaten Tests ergaben, dass sich diese Unterschiede bei allen drei Lauttypen in den Faktoren F3, F5, F6 und F7 (siehe[Abb. 2]) ausprägten. Der Lauttyp ‚Stöhnen' unterschied sich zusätzlich noch in Faktor F4, und der Lauttyp ‚Schreien' in F2 und F4. Anschließende posthoc Tests zeigten, dass 75 % der signifikanten Unterschiede auf Unterschieden zwischen positiven und negativen Emotionen beruhten. Dementsprechend fand sich auch ein eindeutiger Anstieg der Frequenzwerte in den beiden wichtigsten Faktoren (F2, F3) in Richtung negative Emotionen. Für die anderen Faktoren war diese Reihung nicht mehr ganz so eindeutig. Unterschiede in der akustischen Struktur zwischen Lauten von NH und SH Säuglingen traten nur bei dem Lauttyp ‚Schreien' auf (F=6,58, p=0,026; GLM multivariat, (Hotelling's trace)), wobei diese Unterschiede sich in den Faktoren F1 (F=4,57, p=0,054) und F8 (F=7,49, p= 0,018) zeigten.

Die Auswertung der Lautsequenzen (getestet wurde jeweils mit dem Wilcoxon Signed Ranks Test, exact, 2-tailed) ergab, dass sich bei NH Kindern positive und negative Emotionen gut über die relative Häufigkeit bestimmter Lauttypen trennen ließen. In Lautsequenzen mit negativem emotionalen Kontext äußerten die Säuglinge mehr Schreie (n=7, T=1, p=0,031) und ‚geräuschhaftes Einatmen' (n=7, T=2, p=0,047) und in Sequenzen mit positivem emotionalen Kontext mehr Lallen, Lachen und Prusten (Lallen: n=7, T=1, p=0,031; Lachen: n=7, T=0, p=0,016; Prusten: n=7, T=0, p=0,031). Krächzen wurde (in den untersuchten Sequenzen) ausschließlich in positiven Emotionen geäußert. Die Häufigkeit des Vorkommens der restlichen Lauttypen unterschied sich nicht. Bei SH Säuglingen unterschieden sich positive und negative Emotionen nur durch die Häufigkeit von Schreien, welche in Lautsequenzen aus negativen Emotionen signifikant häufiger vorkamen (n=7, T=0, p=0,016). Die Sequenzen der Emotion ‚Freude' ließen sich bei den hörenden Kindern über die Anzahl der Lauttypen Lachen, Hicksen und Stöhnen von Interesse und Zufriedenheit abgrenzen. In Freudesequenzen kam Hicksen und Lachen häufiger vor, als in den beiden anderen positiven Emotionen (Hicksen: Freude-Zufriedenheit: n=7, T=0, p=0,016); Freude-Interesse: n=6, T=0, p=0,031; Lachen: Freude-Zufriedenheit: n=7, T=0, p=0,016; Freude-Interesse: n=6, T=0, p=0,031). Stöhnen kam in Freudesequenzen seltener vor als in Zufriedenheitssequenzen (n=7, T=2, p=0,047). Bei den schwerhörigen Säuglingen fanden sich diese Unterschiede nicht. Der einzige signifikante Unterschied, der im Vergleich von Sequenzen mit den Emotionen ‚Freude', ‚Interesse' und ‚Zufriedenheit' gefunden wurde, war, dass in Freudesequenzen der Lauttyp Jauchzen/Quietschen häufiger vorkam als in Zufriedenheitssequenzen (n=7, T=0, p=0,016). Weitere Unterschiede zwischen Sequenzen aus den einzelnen Emotionen gab es nicht.

Diskussion

Normalhörende und hochgradig schwerhörige Säuglinge zeigten das gleiche Repertoire an präverbalen Lauten. Bis auf den Lauttyp Lallen wurden alle Lauttypen von NH und SH Säuglingen im gleichen Alter geäußert. Die Produktion der verschiedenen Lauttypen, ausgenommen Lallen, scheint also nicht von einwandfreiem Hören abhängig zu sein.

Anscheinend hängt auch die emotionale Ausprägung einzelner Laute nicht stark von der Hörfähigkeit ab. Es konnten zwar Unterschiede in der Struktur von Lauten aus verschiedenem emotionalen Kontext gezeigt werden, jedoch kaum Unterschiede zwischen den Lauten von NH und SH Säuglingen. Allerdings muss hier einschränkend bemerkt werden, dass eventuell bei größeren Datensätze feinere Unterschiede zu finden wären. Interessanterweise liegen die Unterschiede zwischen NH und SH Lauten beim ‚Schreien' auf Faktoren, die nicht emotionskorrelierend sind, d.h. die fehlende auditorische Kontrolle wirkt sich anscheinend auf andere Lautstrukturen aus als die den Lauten zugrundeliegenden Emotionen. Die Analyse der Lautsequenzen ergab Unterschiede zwischen NH und SH Säuglingen. Bei den NH Kindern ließen sich positive und negative Emotionen gut über die relative Häufigkeit charakteristischer Lauttypen trennen. Es konnte sogar die Emotion ‚Freude' von ‚Interesse' und ‚Zufriedenheit' abgegrenzt werden. Bei den SH Säuglingen dagegen konnten über die Häufigkeit der eingesetzten Lauttypen weder positive von negativen Emotionen getrennt werden, noch ließ sich eine Einzelemotion abgrenzen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Zusammensetzung von Lautsequenzen, anders als die Lautstruktur, vom Hörvermögen beeinflusst wird.


Literatur

1.
Keller H., Schölmerich A. (1987): Infant vocalizations and parental reactions during the first 4 months of life. Developmental Psychology, Vol. 23 (1): 62-67
2.
Scheiner E., Hammerschmidt K., Jürgens U. & Zwirner P. (2002): Acoustic analyses of developmental changes and emotional expression in in the preverbal vocalizations of infants. Journal of Voice,Vol.16, No. 4, pp. 509-529