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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Einfluss der sängerischen Aktivität bei Kindern und Jugendlichen auf Stimmumfang, Sprechstimmlagen und Stimmstärke unter Berücksichtigung der Mutation

Vortrag

  • corresponding author Michael Fuchs - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde/Plastische Operationen am Universitätsklinikum Leipzig AöR, Liebigstraße 18a, 04103 Leipzig, Telefon (0341) 9721800, Telefax: (0341) 9721709
  • Stephanie Heide - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde/Plastische Operationen am Universitätsklinikum Leipzig AöR, Liebigstraße 18a, 04103 Leipzig, Telefon (0341) 9721800, Telefax: (0341) 9721709
  • Uta Hänsch - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde/Plastische Operationen am Universitätsklinikum Leipzig AöR, Liebigstraße 18a, 04103 Leipzig, Telefon (0341) 9721800, Telefax: (0341) 9721709
  • Susanne Thiel - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde/Plastische Operationen am Universitätsklinikum Leipzig AöR, Liebigstraße 18a, 04103 Leipzig, Telefon (0341) 9721800, Telefax: (0341) 9721709
  • Roland Täschner - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde/Plastische Operationen am Universitätsklinikum Leipzig AöR, Liebigstraße 18a, 04103 Leipzig, Telefon (0341) 9721800, Telefax: (0341) 9721709

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocV04

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Published: September 12, 2003

© 2003 Fuchs et al.
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Zusammenfassung

Ziel der Untersuchung war die Beurteilung des Einflusses der sängerischen Aktivität von Kindern und Jugendlichen auf Stimmleistungsparameter unter Beachtung des Alters und des Geschlechts. Wir untersuchten bei 190 stimmgesunden Probanden (108 Knaben, 82 Mädchen, Alter: 12,8 ± 1,6 Jahre) den Stimmumfang und dessen Grenzen, die Sprechstimmlagen und die Stimmstärke. Dabei verglichen wir sängerisch nicht aktive Probanden (Gruppe A: 48 Jungen, 47 Mädchen) mit Chormitgliedern mit einer definierten Belastung der Singstimme (Gruppe B: 60 Knaben, 35 Mädchen). Die dreifaktorielle Varianzanalyse zeigte, dass die Stimmumfänge unabhängig vom Alter und Geschlecht in Gruppe B signifikant größer sind als in Gruppe A (p<0,0001). Dieser Unterschied ist nahezu ausschließlich auf die Erweiterung der oberen Stimmumfangsgrenze zurückzuführen (p<0,0001), während sich die untere Grenze nicht signifikant unterschied (p=0,368). Weiterhin bestanden in Gruppe B signifikant höhere Stimmstärken (p=0,009). Während die mittlere ungespannte Sprechstimmlage keine signifikanten Unterschiede aufwies, zeigten die stimmlich aktiven Knaben signifikant höhere gespannte Sprechstimmlagen (p=0,007). Die sängerische Aktivität hat bei Knaben und Mädchen in allen untersuchten Altersgruppen, also auch während des Stimmwechsels, einen positiven Einfluss auf den Stimmumfang und die Stimmstärke. Außerdem benutzen die sängerisch ausgebildeten Knaben eine höhere mittlere gespannte Sprechstimmlage.


Text

Einleitung

Bei der phoniatrischen Betreuung der Kinder- und Jugendstimme ist eine alters- und geschlechtsspezifische Entwicklung bis zum Erreichen des Erwachsenenalters zu berücksichtigen, dass heißt alle Stimmleistungs- und -qualitätsparameter unterliegen einer physiologischen Dynamik. Während im Kindesalter Knaben- und Mädchenstimme bezüglich dieser Merkmale und auch auditiv nicht differenziert werden können [1], verläuft die stimmliche Entwicklung ab dem Zeitpunkt der Mutation, in der der Larynx seine dritte Funktion als sekundäres Geschlechtsmerkmal erhält, getrennt. Die klinische Erfahrung zeigt, dass ein Training der Sing- und Sprechstimme Stimmleistungs- und -qualitätsparameter positiv beeinflussen kann. Insofern stellt sich bei der Bewertung der funktionsdiagnostischen Ergebnisse häufig die Frage, in welchem Ausmaß eine Erweiterung der alters- und geschlechtsspezifischen Normwerte der Kinder- und Jugendstimme durch eine stimmliche Ausbildung möglich ist.

Mehrere Studien haben über das gesamte vergangene Jahrhundert Stimmleistungsparameter bei Kindern und Jugendlichen beschrieben, wobei aber jeweils nur entweder Probanden mit oder ohne erhöhte stimmliche Aktivität untersucht wurden. Außerdem sind die erhobenen Daten aufgrund methodischer Unterschiede nur teilweise vergleichbar [2], [3], [4], [5], [6]. Es fehlt daher an vergleichenden Untersuchungen über die Beeinflussung der Stimmleistungsparameter durch die sängerische Aktivität unter Berücksichtigung der alters- und geschlechtsspezifischen Entwicklung. Von der Kenntnis dieses Einflusses lassen sich insbesondere für Sänger in Kinder- und Jugendchören wertvolle Informationen für eine optimale phoniatrische Betreuung in Zusammenarbeit mit dem Gesangspädagogen ableiten (zum Beispiel Hinweise für stimmliche Eignung).

Methode

Wir untersuchten bei 190 stimmgesunden Probanden (108 Knaben, 82 Mädchen, mittleres Alter: 12,8; Bereich: 9-16 Jahre) den physiologischen Stimmumfang, obere und untere Stimmumfangsgrenze, die mittlere ungespannte und gespannte Sprechstimmlage mit Hilfe eines Keyboards sowie die Stimmstärke unter Verwendung eines Schallpegelmessers (Atmos®, Voice Condition Meter SM03). Ausschlusskriterien waren akute oder chronische Erkrankungen des Stimmapparates und des Gehörs oder anderer schwerer Erkrankungen, die die Stimme beeinflussen, psychiatrisch-neurologische oder psychologische Erkrankungen und mangelnde Compliance. Bei allen Probanden erfolgten eine komplette HNO-Untersuchung inklusive Videolaryngostroboskopie und eine allgemeine körperliche Untersuchung.

Wir verglichen sängerisch nicht aktive Probanden (Gruppe A: 48 Jungen, 47 Mädchen) mit Chormitgliedern mit einer definierten Belastung der Singstimme (Gruppe B: 60 Knaben, 35 Mädchen). Einschlusskriterium für die Gruppe B war eine regelmäßige kontrollierte sängerische Aktivität (Gesangsunterricht, Chorsingen, solistisches Singen) über den Musikunterricht hinaus für mehr als 3 Monate. Zu dieser Gruppe zählten Mitglieder des Thomanerchores, der Schola cantorum und des MDR-Kinderchores Leipzig. Die statistische Aufarbeitung erfolgte mit einer dreifaktoriellen Varianzanalyse unter Verwendung des Programms SPSS®.

Ergebnisse

Die Absolutwerte [Abb. 1] und die Ergebnisse der dreifaktorielle Varianzanalyse [Abb. 2] zeigten, dass die Stimmumfänge unabhängig vom Alter und Geschlecht in Gruppe B signifikant größer sind als in Gruppe A (p<0,0001). Dieser Unterschied ist nahezu ausschließlich auf die Erweiterung der oberen Stimmumfangsgrenze zurückzuführen (p<0,0001), während sich die untere Grenze nicht signifikant unterschied (p=0,368). Weiterhin bestanden in Gruppe B signifikant höhere Stimmstärken (p=0,009). Während die mittlere ungespannte Sprechstimmlage keine signifikanten Unterschiede aufwies, zeigten die stimmlich aktiven Knaben signifikant höhere gespannte Sprechstimmlagen (p=0,007).

Diskussion

Die sängerische Aktivität hat bei Knaben und Mädchen in allen untersuchten Altersgruppen, also auch während des Stimmwechsels, einen positiven Einfluss auf den Stimmumfang und die Stimmstärke. Außerdem benutzen die sängerisch ausgebildeten Knaben eine höhere mittlere gespannte Sprechstimmlage.

Die Erweiterung des Stimmumfangs durch die höhere obere Stimmumfangsgrenze lässt sich mit der Trainierbarkeit der laryngealen Muskulatur erklären, während die untere Stimmumfangsgrenze mehr durch andere anatomische Strukturen des Stimmapparates bedingt und mit einem Training weniger beeinflussbar ist. Die diesbezüglichen Erfahrungen von der Erwachsenenstimme lassen sich somit auch auf die Kinderstimme übertragen, wobei sich bei letzterer zwei gegenläufige Entwicklungsprozesse zeigen, die einer gesangspädagogischen Balance bedürfen: Insbesondere bei den Knaben wird die sängerische Ausbildung zwar zu einer Erweiterung der oberen Stimmumfangsgrenze führen. Diese wird jedoch durch das Kehlkopfwachstum mit dem gesamten Stimmumfang immer weiter nach unten verlagert. Während der Mutation kommt es zum raschen Wachstum des Larynx unter endokrinologischer Steuerung des Testosteron, was in der Regel mit einer Verringerung des Stimmumfangs und Einschränkung der Stimmleistungs- und -qualitätsparameter verbunden ist, die insbesondere bei Knaben zu einer verminderten Belastbarkeit für die sängerische Aktivität führt.

In den vorliegenden Ergebnissen hat das Alter keinen signifikanten Einfluss auf den Stimmumfang, dass heißt, die mutationelle Einengung des Stimmumfangs widerspiegelt sich nicht. Die Erklärung liegt in der Tatsache begründet, dass in die dreifaktorielle Analyse Probanden im Alter zwischen 9 und 16 Jahren einflossen und der Zeitpunkt der Mutation interindividuellen Schwankungen unterliegt. So waren zum Beispiel sowohl bereits 11-jährige Knaben und 10-jährige Mädchen als auch noch 14- und 15-jährige ProbandInnen in der Mutation vertreten. Unsere Ergebnisse korrelieren besser mit den aktuelleren Angaben in der Literatur [2], [3], [5] als mit den Ergebnissen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts [4], [6], was auf eine allgemeine Entwicklungstendenz zu einer Verschiebung der Stimmumfänge und der Sprechstimmlagen um zum Teil 2-3 Halbtöne nach unten hinweist.

Demgegenüber zeigte sich, dass Alter und Geschlecht einen signifikanten Einfluss auf die Stimmumfangsgrenzen und die mittleren Sprechstimmlagen haben, also auf Größen, die das Wachstum und die geschlechtsspezifische Entwicklung des Stimmapparates repräsentieren.

Die signifikante Einflussnahme der Wechselbeziehung zwischen sängerischer Aktivität und Geschlecht besagt, dass nur die sängerisch aktiven Knaben im Vergleich zu den nicht singenden Jungen zu einer höheren gespannten Sprechstimmlage neigen. Betrachtet man die Absolutwerte, liegt das Intervall zwischen der mittleren ungespannten und gespannten Sprechstimmlage bei den sängerisch nicht aktiven Jungen im Mittel zwischen einer großen Sekunde und einer kleinen Terz, bei den Chorknaben jedoch bei einer reinen Quarte. Aus der klinischen Erfahrung ist bekannt, dass bei Werten dieses Intervalls größer als eine Terz die Gefahr einer dauerhaften Stimmüberhöhung im gespannten Sprechen und dadurch einer Stimmstörung resultieren kann, insbesondere da der Larynx während seines mutationellen Wachstums durch eine erhöhte Vulnerabilität gekennzeichnet ist. Daraus kann der Hinweis an die Gesangspädagogen in Knabenchören abgeleitet werden, in besonderem Maße auf den Umgang mit der Sprechstimme und die gespannte Sprechstimmlage zu achten und ggf. einzuwirken.

Die höheren Standardabweichungen der Mittelwerte bei den gemessenen Frequenzen (Stimmumfangsgrenzen und Sprechstimmlagen) ergeben sich aus dem physiologischen Absinken der Frequenzen über die gemessene Altersspanne.

Die Ergebnisse zeigen schließlich auch, dass die trainierte Kinder- und Jugendstimme über eine größere Dynamik verfügt. Die Stimmstärke ist unabhängig vom Alter und vom Geschlecht bei den sängerisch aktiven Kindern signifikant größer, dass heißt auch bei den Mädchen kann dieser Effekt nachgewiesen werden.


Literatur

1.
Howard DM, Szymanski JE (2000) Listener perception of girls and boys in an English Cathedral choir. Proceedings of the 6th International Conference on Music Perception and Cognition:1-6
2.
Böhme G, Stuchlik G (1995) Voice profiles and standard voice profile of untrained children. J Voice 9(3):304-7
3.
Frank F, Sparber M (1970) Stimmumfänge bei Kindern aus neuer Sicht. Folia phoniatr logop 22:379-402
4.
Fröschels E (1920) Untersuchungen über die Kinderstimme. Zentralbl Psychol 14
5.
Linders B, Massa GG, Boersma B, Dejonckere PH (1995) Fundamental voice frequency and jitter in girls and boys measured with electroglottography: influence of age and height. Int J Pediatr Otorhinolaryngol 33(1):61-5
6.
Paulsen E (1900) Die Singstimme im jugendlichen Alter und der Schulgesang. Kiel, Commissions-Verlag von Gnevkow und von Gellhorn