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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Entwicklung der Medizinischen Statistik in Deutschland – der lange Weg dahin

Statistics in the medical sciences - the long Germany road to there

Rückblick und Ausblick

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  • corresponding author Christel Weiß - Universitätsklinikum Mannheim, Abteilung für Medizinische Statistik, Mannheim, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2005;1(2):Doc12

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Published: June 20, 2005

© 2005 Weiß.
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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag beschreibt die Entwicklung der Medizinischen Statistik, ausgehend von ihren ersten Anwendungen, die im 18. Jahrhundert in England zur Zeit der Aufklärung stattfanden, bis heute. Dieser Wissenschaftszweig hatte viele Hindernisse zu überwinden, da er eine Abkehr von der ehemals autoritär gesteuerten Medizin beinhaltete. Obwohl heute allgemeiner Konsens darüber herrscht, dass medizinische Forschung ohne profunde Kenntnis und Anwendung statistischer Methoden nicht möglich ist, dauerte es bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, bis diese Methode in der Medizin allgemein anerkannt und etabliert war.

Um diesen langen Prozess nachvollziehen zu können, wird zunächst die historische Entwicklung der Statistik beginnend von ihren Anfängen im Altertum dargestellt. Außerdem wird beschrieben, wie sich parallel dazu die Methodik in der Medizin gewandelt hat und wie statistische Methoden die medizinische Wissenschaft beeinflusst haben. Ferner wird die besondere Entwicklung der medizinischen Statistik in Deutschland beleuchtet.

Schlüsselwörter: Medizinische Statistik, Biomathematik, Geschichte der Medizin

Abstract

This contribution aims at tracing the development of statistical methods in medical science. Statistical methodology in medical research was first implemented in England in the age of the Enlightenment during the 18th century. As this approach stood in a clear opposition to the conventional medical practice directed in a rather authoritarian manner, this research field had to overcome a lot of difficulties. Nowadays, there is a widespread consensus that medical research is hardly possible without profound knowledge and application of statistical methods. Nevertheless, it took an extremely long time until the end of the 20th century, before this methodology was taken notice of and became appreciated.

In order to better understand this long process, a brief summary of the development of statistics beginning from the Ancient Times is presented. It is shown how medical progress evolved parallel to the advancing mathematical understanding. A focus is put on the influence of the latter on medical sciences. Moreover, the special case of Germany in this aspect is analysed.

Keywords: medical statistics, biomathematics, history of medical science


Einleitung

Die Medizin als eine Kunst, die darin besteht, kranken Menschen zu helfen, ist so alt wie die Menschheit selbst. Vergleichsweise kurz ist dagegen die Zeitspanne, seit der die Medizin als eine moderne Wissenschaft angesehen werden kann. Dazu haben zwei Entwicklungen maßgeblich beigetragen. Die erste nahm ihren Anfang in Italien zur Zeit der Renaissance, als Galieo Galilei die modernen Naturwissenschaften begründete, die auf objektiven Beobachtungen und nachvollziehbaren Experimenten aufbauen. Von den Zeiten des Hippokrates bis in das 19. Jahrhundert hinein konnten Beobachtungen am Patienten nur durch unmittelbare Sinneseindrücke des behandelnden Arztes erfahren werden. Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen waren naturgemäß häufig spekulativ. Nach dem Einzug der Naturwissenschaften in die Medizin wurden nach und nach technische Geräte für diagnostische und therapeutische Zwecke entwickelt; anstelle subjektiver Sinneseindrücke traten objektive Messwerte. Die zweite Entwicklung begann in England im Zeitalter der Aufklärung, als man sich erstmals auf das Wohl größerer Bevölkerungsgruppen besann. Durch die Beobachtung zahlreicher Individuen war die Voraussetzung geschaffen, eine für statistische Analysen hinreichend große Datenmenge zu erhalten. Damit setzte sich eine Methode zur Erkenntnisgewinnung des englischen Philosophen Francis Bacon durch, der die Beobachtung zahlreicher Einzelfälle, deren Aufzeichnung und Analyse propagiert hatte. Theoretisch waren damit die Voraussetzungen für die Anwendung der Statistik in der Medizin gegeben.

In England und Frankreich entbrannten fortan heftige Diskussionen darüber, ob numerische Methoden in der Medizin sinnvoll seien. Während sich die neue Methode in England zwar zögerlich, aber dennoch beharrlich durchsetzte, reagierten deutsche Ärzte, offenbar unter dem Einfluss der modernen Naturphilosophie, skeptisch bis ablehnend. Klinische Studien, die überwiegend in englischsprachigen Zeitschriften publiziert waren, wurden bis nach dem zweiten Weltkrieg hier zu Lande kaum zur Kenntnis genommen. Danach wurden eingedenk der Menschenversuche während der nationalsozialistischen Herrschaft lange Zeit ethische Bedenken gegen Studien in der medizinischen Forschung vorgetragen. Ein weiteres Hindernis bestand darin, dass allgemein anerkannte Richtlinien bezüglich der Forschung am Menschen lange Zeit fehlten; sie wurden erst 1964 auf der Generalversammlung des Weltärztebundes in Helsinki erarbeitet.

Aus diesen Gründen dauerte es bis in die 1970er Jahre, ehe in Deutschland kontrollierte medizinische Studien und die dabei erforderlichen statistischen Methoden in der Heilkunde allgemein anerkannt und schließlich sogar als zwingend nötig gefordert wurden. In den folgenden Abschnitten soll versucht werden, diese aus heutiger Sicht erstaunlich lange Entwicklungsgeschichte nachzuvollziehen.


Die historische Entwicklung der Statistik

Ursprünge in der Staatsbeschreibung

Das primäre Anwendungsgebiet der Statistik bestand ursprünglich in zahlenmäßigen Erhebungen für staatliche Zwecke. Eine der ersten, schriftlich dokumentierten Volkszählungen findet man im 4. Buch Mose (das auch unter dem Namen „numeri" bekannt ist). Seit dem frühen Altertum gab es Volkszählungen in Ägypten, Griechenland und in China. Von den Römern ist bekannt, dass sie regelmäßig Bevölkerungserhebungen durchführten. Während des Mittelalters beschränkte man sich im Wesentlichen auf Vermögenserhebungen, wie beispielsweise Karl der Große, der im 9. Jahrhundert die Bestandsaufnahme all seiner Güter anordnete.

In England begann man zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf Veranlassung des Lordkanzlers Thomas Cromwell, alle Geburts- und Todesfälle systematisch in Kirchenbüchern aufzuzeichnen. Dies veranlasste John Graunt (1620-1674, Mitglied der Royal Society), aus Londoner Geburts- und Sterberegistern die Einwohnerzahl Londons zu schätzen und Gesetzmäßigkeiten bezüglich der Bevölkerungsbewegung herzuleiten. Auf seinen Erkenntnissen basiert ein Werk des britischen Astronomen Edmond Halley (1656-1742), in dem er sich mit Sterbewahrscheinlichkeiten und daraus resultierend mit Prämien für Lebensversicherungen befasste. Der Arzt und Schriftsteller John Arbuthnot (1667-1735) konnte anhand der Eintragungen in Kirchenbüchern die These widerlegen, dass Jungen- und Mädchengeburten gleich häufig seien.

Auch in Deutschland, vor allem in Berlin und der Mark Brandenburg, war Statistik in ihren Anfängen eine Angelegenheit der Kirche. Auf Anordnung des Großen Kurfürsten Friedrich I. aus dem Jahr 1673 war es vorgeschrieben, Kirchenbücher zu führen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das bahnbrechende Werk der deutschen Bevölkerungsstatistik mit dem Titel „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen" von einem preußischen Feldprediger - nämlich Johann Peter Süßmilch (1707-1767) - verfasst wurde. Es handelt sich dabei gewissermaßen um die erste Sterblichkeitsstatistik der Neuzeit. Süßmilch entdeckte bei seinen empirischen Studien eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten bei der Bevölkerungsentwicklung, die er auf das Wirken Gottes zurückführte. Diese Art von Statistik, die dazu diente, die Besonderheiten eines Staatswesens und insbesondere seiner Bevölkerung quantitativ zu erfassen, bezeichnete man damals nach dem Vorbild Englands als „politische Arithmetik". Aus historischen Quellen ergibt sich, dass vor allem in Großreichen, die starke Heere unterhielten und aufwendige Kriegsführung betrieben, ein Bedürfnis für derlei Zahlenmaterial bestand.

Daneben entwickelte sich im deutschsprachigem Raum des Römischen Reiches eine andere Form der Staatskunde, die dazu diente, „Staatsmerkwürdigkeiten" zu dokumentieren. Eines der ersten Werke auf diesem Gebiet ist die im Jahre 1656 erschienene Staatsbeschreibung „Teutscher Fürstenstaat" von Veit Ludwig von Seckendorff (1626-1692), Kammerjunker und Bibliothekar, später Kanzler im Dienste des Herzogs von Sachsen-Gotha, Ernst des Frommen. Diese Schrift wurde zum Standardwerk der Verwaltungswissenschaften und erschien bis 1754 in zwölf Auflagen. Sie kann als Vorläufer der Staatsbeschreibungen des Göttinger Staatswissenschaftler Gottfried Achenwall (1719-1771) angesehen werden, der als Begründer der deutschen Universitätsstatistik gilt. Achenwall führte den Begriff „Statistik" in seinen Vorlesungen ein, den er gleichbedeutend mit „Staatsbeschreibung" verwendete. Dies erklärt dieselbe ethymologische Wurzel der beiden Wörter „Staat" und „Statistik", die sich vom lateinischen „status" (Zustand, Beschaffenheit) herleiten.

Allerdings waren zu jener Zeit die Erhebungs- und Analysemethoden unsystematisch und in keiner Weise standardisiert. In der Folgezeit etablierte sich die Statistik zu einem Wissenschaftsfach, was allmählich dazu führte, dass statistische Methoden evaluiert, systematisiert und vereinheitlicht wurden. Eine Schlüsselrolle spielte dabei wiederum Berlin, wo im Jahre 1805 das Statistische Bureau eingerichtet wurde. 1872 wurde das Kaiserliche Statistische Amt gegründet, das für das gesamte Deutsche Reich zuständig war und aus dem später das Statistische Bundesamt hervorging. Namentlich sei der deutsche Nationalökonom Wilhelm Lexis (1837-1914) erwähnt, der mit seinen Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungsstatistik die Entwicklung dieses Gebietes maßgeblich förderte.

Im Jahre 1853 fand auf Veranlassung des belgischen Astronomen und Physikers Adolphe Quetelet (1794-1874) der erste internationale Statistiker-Kongress in Brüssel statt. Etwas später, im Jahre 1885, wurde das Internationale Statistische Institut (ISI) gegründet mit den Zielen, internationale Kooperationen zu fördern sowie statistische Begriffe und Methoden zu vereinheitlichen. Dies führte schließlich dazu, dass statistische Analysen in zunehmendem Maße auch in nicht-staatlichen Institutionen, insbesondere im wirtschaftlichen und im wissenschaftlichen Bereich, durchgeführt wurden.

Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie

Neben den Gelehrten, die Statistik einsetzten, um die Besonderheiten eines Staatswesens und seiner Bevölkerung zu beschreiben, gab es eine weitere Gruppe von Anwendern mit gänzlich anderen Interessen. Ihnen ging es darum, die Gewinnchancen bei Glücksspielen zu berechnen. Namhafte Wissenschaftler aus verschiedenen Nationen wurden dadurch zu mathematisch orientierten Betrachtungen angeregt und trugen damit maßgeblich zur Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie bei.

Galileo Galilei (1564-1642) führte in seinem erst nach seinem Tode erschienenen Werk „Considerazione sopra il Giuco dei Dadi" Berechnungen bezüglich der Wahrscheinlichkeiten beim Würfeln durch. Bekannt ist die Korrespondenz zwischen den französischen Mathematikern Pierre de Fermat (1601-1655) und Blaise Pascal (1623-1662), die sich ebenfalls mit Gewinnchancen bei Würfelspielen befasste. Weitere Beiträge kamen vom niederländischen Wissenschaftler Christiaan Huygens (1629-1695) und vom englischen Geistlichen Thomas Bayes (1702-1761).

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeitstheorie ausschließlich aus Glücksspielen hervorging. Erste Ansätze lassen sich weit zurückverfolgen und führen in gänzlich andere Gefielde. So wurde beispielsweise das arithmetische Mittel - das bis heute bekannteste und am meisten verwendete Lagemaß - bereits im 16. Jahrhundert vom dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546-1601) zur mathematischen Beschreibung von Erscheinungen am Sternenhimmel verwendet. Der Schweizer Mathematiker Jakob Bernoulli (1654-1705) trug mit seinem Buch „Ars conjectandi", in dem erstmals die Binomialverteilung und das Gesetz der großen Zahlen erwähnt wurden, wesentlich zur Bereicherung dieses Wissenschaftszweiges bei. Die Entwicklung, wonach sich die Bedeutung des Begriffs „Wahrscheinlichkeit" wandelte von einem ehemals subjektiv empfundenen Grad an Gewissheit oder Unsicherheit hin zu einer objektiv erfassbaren, quantifizierbaren Größe, geht zurück auf Bernoulli und den deutschen Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716).

Der Franzose Abraham de Moivre (1667-1754) veröffentlichte in seinem Werk „The doctrine of changes" den Zusammenhang zwischen Binomial- und Normalverteilung. Einen im Jahre 1812 erschienenen Überblick über den damaligen Stand der Wahrscheinlichkeitsrechnung mit dem Titel „Théorie analytique des probabilités" verdanken wir Simon Marquis de Laplace (1749-1827).

Beiträge aus Deutschland lieferte der Astronom, Mathematiker und Philosoph Johann Heinrich Lambert (1728-1777), der als ein Vordenker für die Methoden der linearen Regression und der kleinsten Quadrate angesehen werden kann. Durch Carl Friedrich Gauß (1777-1855; Abbildung 1 [Abb. 1]) wurde diese Methode weit verbreitet; sie ist die Grundlage seiner Fehlerrechnungen und der Regressionsrechnung. Weitere Persönlichkeiten, die in diesem Zusammenhang verdienen genannt zu werden, sind die Mathematiker und Astronomen Ernst Abbe (1840-1905) und Friedrich Robert Helmert (1843-1917), die unabhängig voneinander die Chi2-Verteilung entdeckten.

Das Entstehen der modernen Statistik

Die moderne Statistik entwickelte sich von Beginn des 20. Jahrhunderts an recht stürmisch. Viele bekannte biometrische Verfahren, die noch heute routinemäßig eingesetzt werden, stammen von englischen Wissenschaftlern. Die bedeutendsten Namen sind Sir Francis Galton (1822-1911), Karl Pearson (1857-1936), William Sealy Gosset (1876-1937) und Sir Ronald Aylmer Fisher (1890-1962; Abbildung 2 [Abb. 2]). Galton stellte im Jahre 1888 den Korrelationskoeffizienten vor, der heute nach Pearson benannt wird; außerdem prägte er den Begriff „Normalverteilung". Pearson entwickelte um die Jahrhundertwende den Chi2-Anpassungstest und gab der Korrelations- und Regressionsrechnung wichtige Impulse. Er war außerdem der Begründer der Zeitschrift „Biometrika". Gosset war als Chemiker bei der Bierbrauerei Guinness angestellt; er entdeckte die t-Verteilung und veröffentlichte sie unter dem Pseudonym „Student" im Jahre 1908. Fishers Namen verbindet man mit varianzanalytischen Methoden und weitreichenden Beiträgen zu den Themen „Versuchsplanung und -durchführung".

Lange Zeit jedoch war die Anwendung komplexer statistischer Methoden, obgleich sie theoretisch schon lange bekannt waren, wegen der sehr begrenzten Rechenkapazitäten praktisch stark eingeschränkt. Die Entwicklung hochleistungsfähiger Rechner und benutzerfreundlicher Softwarepakete in den vergangenen Jahren hat wesentlich dazu beigetragen, dass heute komplexe und rechenintensive statistische Verfahren in den Natur-, Sozial- und Biowissenschaften routinemäßig eingesetzt werden.


Die Methodik in der Medizin

Philosophische Betrachtungen

Die Medizin und die Statistik entwickelten sich Jahrtausende lang ohne Berührungspunkte. In der Antike gab es zwei unterschiedliche Ansätze bezüglich therapeutischer Verfahren: den theoretischen und den empirischen [12]. Der Theoretiker suchte nach den Krankheitsursachen und leitete daraus durch logisch-konsequente Schlussfolgerungen die seiner Meinung nach korrekte Therapie her. Diese dogmatische Methode basierte auf unverrückbaren, nie zuvor überprüften Grundannahmen. Ob eine Therapie im Einzelfall erfolgreich oder nicht erfolgreich war, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Falls Erfolge eintraten, sah man die Theorie bestätigt. Andernfalls suchte und fand man Argumente, um Misserfolge zu eliminieren. Daher erschien es nicht notwendig, die Grundüberzeugungen in Frage zu stellen oder sich gar kritisch mit ihnen auseinander zu setzen.

Der Empiriker ging anders vor: Er gründete seine Entscheidungen auf persönliche Erfahrungen und überprüfte in jedem Einzelfall, ob die von ihm empfohlene therapeutische Maßnahme zum Erfolg führte. Gegebenenfalls revidierte er seine zuvor getroffene Entscheidung. Die dadurch gewonnenen, neuen Erkenntnisse waren allerdings ungeregelt und in gewisser Weise subjektiv, da sie lediglich auf einzelnen, zufällig gemachten Beobachtungen beruhten.

Die Autoritäten der beiden griechischen Ärzte Hippokrates von Kos (ca. 450-370 v. Chr.) und Galen aus Pergamon (130-201) bewirkten, dass die dogmatische Vorgehensweise bis ins 16. Jahrhundert hinein allgemein anerkannt war. Hippokrates hielt die empirische Methode für täuschend und demzufolge für unzulässig. Auch Galen brachte die Empiriker in Verruf, indem er sie mit Quacksalbern verglich. Die Autoritätsgläubigkeit, die sowohl Ärzten als auch Patienten in der damaligen Zeit zu eigen war, führte zu einer vermeintlichen Sicherheit, in der die Weisheit der Alten und die göttliche Vorhersehung zu den entscheidenden Kriterien für Wissenschaftlichkeit hochstilisiert wurden. So wagte es beispielsweise Jahrhunderte lang niemand, den Nutzen des Aderlasses, der auf der antiken Säftelehre basierte, in Zweifel zu ziehen.

Noch ein weiteres Kriterium war für den Fortschritt hinderlich: Ein Arzt war in früherer Zeit kein Spezialist für zahlreiche Kranke, sondern ein persönlicher Ratgeber für einzelne Patienten, die zumeist aus der Oberschicht stammten. Deshalb konnten sich über Jahrtausende hinweg keine bevölkerungsbezogenen Ansätze entwickeln. Es gab demzufolge auch keine Möglichkeit, auf die verheerenden Epidemien des Mittelalters wie die Pest, die Cholera oder die Pocken Einfluss zu nehmen. Des Weiteren erwies sich diese Medizin als untauglich, den Nutzen, das Risiko oder die Schädlichkeit therapeutischer Maßnahmen zu erkennen oder gar zu bewerten. Krankheiten wurden als eine Strafe Gottes verstanden. Eine moderne Wissenschaft im heutigen Sinne konnte auf diese Weise nicht entstehen.

Die Entwicklung der Medizin zu einer modernen Wissenschaft

Die Basis für die Wissenschaftlichkeit der Medizin wurde im 16. Jahrhundert von Galileo Galilei gelegt. Dieser herausragende Wissenschaftler war weniger aufgrund seiner Einzelleistungen auf den Gebieten der Mathematik, Physik und Astronomie bedeutend, sondern vielmehr dadurch, dass er die Naturwissenschaften auf objektiven Beobachtungen und nachvollziehbaren Experimenten aufbaute. Naturvorgänge wurden fortan nicht mehr philosophisch oder theologisch erklärt, sondern aus Naturgesetzen hergeleitet. Diese neue Methode begründete eine rasante Entwicklung der Physik und der Chemie, was sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte segensreich auf die Medizin auswirken sollte.

Die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse führten rasch zu einem umfangreicheren Wissen bezüglich der Vorgänge im menschlichen Körper und damit zu einem besseren Verständnis der Körperfunktionen beim kranken und beim gesunden Menschen. Darauf basierend wurden technische Instrumente entwickelt, die eine exakte Messung physiologischer Parameter ermöglichten. An die Stelle von subjektiven Sinneseindrücken traten objektive Messwerte. Die Erkenntnisse, die man auf diese Weise gewinnt, sind nachvollziehbar und reproduzierbar.

Nachdem man erkannt hatte, dass sich alle medizinischen Phänomene theoretisch auf naturwissenschaftliche Gesetze zurückführen lassen, glaubten im 17. Jahrhundert einige Ärzte euphorisch, dass man bald in der Lage sein würde, die Ursachen aller Krankheiten zu ergründen und wirksame Therapien zu entwickeln. Es setzte sich dann jedoch recht schnell die Erkenntnis durch, dass physikalisches und chemisches Grundwissen dafür bei weitem nicht ausreichen. So besann man sich auf eine Methode zur Erkenntnisgewinnung, die bereits ein Jahrhundert zuvor von dem englischen Philosophen Francis Bacon (1561-1626) propagiert worden war. Demnach sind zur Erkenntnisgewinnung die geplante Beobachtung zahlreicher vergleichbarer Einzelfälle, die lückenlose Dokumentation aller erhobenen Informationen und deren rechnerische Analyse notwendig. Diese Vorgehensweise beinhaltete einen Wechsel von einem ehemals theoretisch-dogmatischen hin zu einem empirischen Ansatz.

Bacons Forderung stand jedoch entgegen, dass sich die Medizin bis dahin traditionellerweise nur mit einzelnen Patienten befasste. Dies änderte sich jedoch zur Zeit der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert von England ausging: Erstmals gab es Ärzte, die sich um das Wohl größerer Bevölkerungsgruppen sorgten. In der folgenden Zeit entstanden in europäischen Hauptstädten wie etwa in Wien oder Paris Krankenhäuser, die ebenfalls die Beobachtung größerer Kollektive ermöglichten.

Damit waren zwei Voraussetzungen für den Einsatz der Statistik in die Medizin geschaffen. Erstens konnte man mit modernen Instrumenten quantitative Messwerte erhalten. Zum zweiten war es möglich, hinreichend viele Patienten zu beobachten, deren Daten zu erheben und auszuwerten. Dennoch sollte es noch bis weit ins 20. Jahrhundert dauern, ehe die Statistik in der medizinischen Wissenschaft allgemeine Anerkennung fand. Dies hatte juristische und politische Gründe; es lag nicht zuletzt an der Statistik selbst. Geeignete Verfahren, die man heute routinemäßig einsetzt, wurden - wie oben bereits erwähnt - größtenteils erst im 20. Jahrhundert entwickelt.


Anwendungen der Statistik in der Medizin

Wurzeln in England

Bacons neuer Erfahrungsbegriff war grundlegend dafür, dass klinische Studien durchgeführt und die daraus erhobenen Daten statistisch analysiert werden konnten. Er kam im 18. Jahrhundert in England, wenn auch zunächst sehr zögerlich, zur Anwendung. Der Londoner Polikliniker John Millar (1733-1805) hielt 1777 unter Berufung auf Bacon pragmatisch fest: „The test of arithmetic calculation should not be evaded." Ähnlich äußerte sich der einflussreiche Mediziner Thomas Percival (1740-1804), als er 1803 in seinem „Code of Ethics" empfahl, sich nicht auf erfolgreiche Einzelfälle zu verlassen, sondern die Effizienz einer Behandlungsmethode statistisch zu überprüfen [12].

Jahrhunderte alte, überlieferte Methoden wie etwa Brechmittel oder Aderlass wurden plötzlich in Frage gestellt und überprüft, indem man die althergebrachten Behandlungsmethoden mit dem natürlichen Krankheitsverlauf oder mit einer neuen Behandlung verglich. Ferner stellten britische Ärzte in den neu gegründeten Krankenhäusern alte und neue Behandlungsmethoden einander gegenüber, etwa bei geburtshilflichen Eingriffen oder Amputationen. Derlei Studien wurden überwiegend retrospektiv, teilweise auch prospektiv durchgeführt. Sogar Placebo- und Blindstudien sind aus jener Zeit bekannt. Am Einsatz von nachweisbar wirksamen Maßnahmen waren nicht zuletzt staatliche Institutionen und insbesondere Krankenhäuser interessiert, die sich für die Gesundheit größerer Bevölkerungskreise verantwortlich fühlten und ihre Nützlichkeit auch gegenüber ihren Geldgebern nachzuweisen hatten.

Aufgrund dieser Entwicklungen ist es nicht erstaunlich, dass die ersten medizinischen Publikationen, die statistische Analysen beinhalteten, in England erschienen. Im Jahre 1798 veröffentlichte der Landarzt Edward Jenner (1749-1823) seine Entdeckung der prophylaktischen Wirkung der Kuhpockenimpfung, die er mit statistischen Methoden abgesichert hatte. Der Rechtsanwalt Edwin Chadwick (1800-1890) befasste sich mit der Gesundheit der arbeitenden Klassen und gab damit der Hygienebewegung wesentliche Impulse. Seine Daten gründeten sich auf die statistischen Analysen von William Farr (1807-1883), der eine Abhandlung über Todesursachen in England publiziert hatte. Die erste groß angelegte epidemiologische Studie wurde von John Snow (1813-1858) durchgeführt. Er entdeckte, dass das Cholera-Risiko in London von der Qualität des Trinkwassers abhing.

Freilich waren die verwendeten statistischen Verfahren nicht zu vergleichen mit den heute gebräuchlichen Methoden. Es handelte sich um einfache arithmetische Operationen, mit denen die Überlegenheit einer therapeutischen Maßnahme überprüft wurde. Dennoch war diese Vorgehensweise geeignet, die theoretisch-dogmatische Medizin langfristig grundlegend zu reformieren und in ihrer Methodik den Naturwissenschaften gleichzustellen.

Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete der bereits erwähnte Sir Ronald Aylmer Fisher. In den von ihm herausgegebenen Klassikern [5], [6] wurden neben varianzanalytischen Methoden auch die Themen Versuchsplanung und -auswertung ausführlich behandelt. Diese Bücher entwickelten sich zu Standardwerken für Naturwissenschaftler und Mediziner im gesamten angelsächsischen Raum.

Einen originären Beitrag zur Entwicklung der medizinischen Statistik vor dem zweiten Weltkrieg leistete der englische Statistiker und Epidemiologe Sir Austin Bradford Hill (1897-1991) [7]. Darin beschrieb er die methodischen Grundlagen einer klinischen Studie und insbesondere die Randomisation als Basiselement des Therapievergleichs. Die erste randomisierte, doppelblinde Studie, in der die beiden Therapien „Streptomycin" und „Bettruhe" zur Behandlung der Lungentuberkulose verglichen wurden, ist eng mit Hills Namen verbunden; sie wurde 1948 durchgeführt [1]. Ferner waren die Schriften von Abraham Wald (1902-1950) über Sequentialanalyse [13] und von David Cox (geboren 1924) über spezielle Regressionsmodelle für die Analyse von Überlebenszeiten [4] wegweisend.

England war lange Zeit führend auf dem Gebiet der medizinischen Statistik. In den angelsächsischen Ländern war die Biometrie seit jeher stärker verwurzelt und ist es auch noch heute. Insbesondere die moderne klinisch-kontrollierte Therapiestudie ist ein englischer Beitrag zur medizinischen Wissenschaft.

Auswirkungen auf andere Länder

Der Wechsel zu einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin vollzog sich langsam. Der neue Ansatz konnte nicht von heute auf morgen die althergebrachte Vorgehensweise in ganz Europa ablösen. Die oben genannten Vergleichsstudien blieben zunächst minoritär und auf England beschränkt. Dies war nicht zuletzt darin begründet, dass es an allgemein akzeptierten Richtlinien bezüglich der Durchführung klinischer Therapiestudien mangelte. Außerdem waren damals nur wenige therapeutische Möglichkeiten, die man mit herkömmlichen Verfahren hätte vergleichen können, bekannt. Infolgedessen gab es zahlreiche Skeptiker gegen die Anwendung der Statistik in der medizinischen Forschung.

Offensichtlich wurde diese Opposition bei einem Kongress der Pariser Académie Royale de Médecine im Jahre 1835 [11]. Man argumentierte, dass durch Gruppenvergleiche die Patienten ihre Individualität verlören, und dass eine Wahrscheinlichkeit bei der Behandlung eines einzelnen Patienten keine Sicherheit bieten könne. In diesem Sinne äußerte sich auch der angesehene Physiologe Claude Bernard (1813-1878). Drastischer drückte sich der Pariser Kliniker Armand Trousseau (1801-1867) aus, der in der Einleitung zu seinem Werk ‚Clinique médicale de l'Hôtel-Dieu de Paris' schrieb: „Diese Methode ist die Geißel der Intelligenz ... sie degradiert den Arzt zum Buchhalter." Allerdings muss man hinzufügen, dass auch Bernard in seinem 1865 veröffentlichten Werk die Auffassung vertrat, dass die Wirkung einer Behandlung nicht ohne einen adäquaten Vergleich nachzuweisen sei.

Jedoch standen nicht alle Ärzte des 19. Jahrhunderts der Statistik ablehnend gegenüber. Der französische Kliniker und Pathologe Pierre Charles Alexandre Louis (1787-1872) vertrat eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin, in der sich ein Arzt nicht ausschließlich auf seine Intuition verlassen sollte. Er setzte sich vehement für die Einführung statistischer Methoden ein und gilt als der Begründer der klinischen Statistik. Bekannt wurde er durch seine Ablehnung des Aderlasses. Nachdem er zahlreiche Krankengeschichten auswertet hatte, konnte er nachweisen, dass diese Methode nutzlos und teilweise sogar schädlich bei der Behandlung der damals sehr häufig anzutreffenden Lungenentzündung war.

Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für die Anwendung der Statistik aus jener Zeit lieferte der Gynäkologe Philipp Ignaz Semmelweis (1818-1865). Seine Untersuchungen des Kindbettfiebers sind legendär geworden; ebenso die Weigerung der zuständigen Behörden, hygienische Maßnahmen zu ergreifen, mit denen die Sterblichkeitsrate der Mütter auf einfachste Weise hätte drastisch gesenkt werden können. Semmelweis hatte jedoch nicht nur mit dem Widerstand der Behörden, sondern auch mit dem seiner Kollegen zu kämpfen. - Etwa zur gleichen Zeit stellte der Augustinermönch Gregor Johann Mendel (1822-1884) seine Vererbungsgesetze vor, die er ebenfalls mit statistischen Methoden verifiziert hatte. Auch diese Erkenntnisse stießen zunächst in Wissenschaftlerkreisen nur auf mäßiges Interesse.

Ähnlich wie in der Antike gab es auch im 19. Jahrhundert zwei Sichtweisen des ärztlichen Berufs, die unvereinbar schienen [12]. Während Ärzte wie Louis oder Semmelweis sich nicht ausschließlich auf ihr Gefühl verlassen und statt dessen ihre Entscheidung auf der Basis objektiv hergeleiteter Wahrscheinlichkeiten treffen wollten, lehnten Mediziner wie Bernard oder Trousseau die Statistik in der Medizin ab. Verständlich wird diese Skepsis, wenn man sich vor Augen hält, dass die Statistik zur damaligen Zeit als zutiefst unwissenschaftlich galt. Man empfand es emotional als Nachteil, dass sie im Einzelfall nur eine Wahrscheinlichkeit, jedoch keine Gewissheit zu bieten vermag. Hier wird das Festhalten an der althergebrachten, dogmatischen Vorgehensweise und dem deterministischen Ideal deutlich.

Die Entwicklung in Deutschland

Im 18. Jahrhundert gab es auch in Deutschland zumindest Ansätze zu einer Kollektivmedizin, die etwa gute Wasserversorgung und prophylaktische Maßnahmen für breite Bevölkerungskreise als Schutz gegen Krankheiten forderten. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Hauptwerk des Arztes Johann Peter Frank (1745-1821) mit dem Titel „System einer vollständigen medizinischen Polizey" (Abbildung 3 [Abb. 3]).

Der Staat sah sich im Sinne der Aufklärung und im Zuge der französischen Revolution in der Pflicht, für die Gesundheit seiner Untertanen zu sorgen. Allerdings erhielt diese Entwicklung im 19. Jahrhundert einen empfindlichen Rückschlag. Deutschland stand damals unter dem Einfluss einer romantischen Naturphilosophie. Stellvertretend für die Mediziner jener Zeit sei Carl Gustav Carus (1789-1869) genannt, der als Professor in Dresden tätig war, sich auch als Maler einen Namen machte und wie die meisten seiner Kollegen eine umfassende, kosmologische Naturphilosophie vertrat. Dabei stand das Individuum im Vordergrund; eine bevölkerungsbezogene und naturwissenschaftlich orientierte Medizin sowie der dafür erforderliche Einsatz der Statistik konnten sich bei dieser Grundeinstellung kaum durchsetzen.

Angesichts einer bis dahin nie dagewesenen Wissensvermehrung und der damit einhergehenden Spezialisierung der Medizin in diverse Fachrichtungen strebte man nach einem einheitlichen Weltbild. Mit der von Rudolf Virchow (1821-1902) begründeten Zellularpathologie wurde die Jahrtausende alte Kontroverse zwischen Humoral- und Solidarpathologie beendet. Mit Virchows Theorie, die die Zelle als die kleinste morphologische und funktionelle Lebenseinheit definierte, war ein Konzept gefunden, das die gesamte damals bekannte Medizin integrierte. Obwohl Virchow als Pathologe mit dem massenhaften Auftreten von Puerperalsepsis in besonderer Weise konfrontiert war, und obwohl er sich auch als Sozialpolitiker große Verdienste erworben hatte (von ihm stammt der Satz: „die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen"), stand er den Ideen von Semmelweis äußerst skeptisch gegenüber. Die Erkenntnis von Semmelweis hatte sich rasch ausgebreitet und war auch den Gynäkologen in Würzburg bekannt, wo Virchow zwischen 1847 und 1856 lehrte und arbeitete. Virchows öffentlich geäußerte, ablehnende Haltung hatte mehrere Gründe. Einer davon dürfte gewesen sein, dass Semmelweis' Lehre schwer mit seiner Theorie der Zellularpathologie in Einklang zu bringen war. Als tragische Folge von Virchows Anschauung und seinem Einfluss auf die deutschen Gynäkologen (sein Schwiegervater Carl Mayer war Vorsitzender der Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe) verstarben im Jahre 1858 in der Berliner Charité (wo Virchow seit 1856 tätig war) bis zu 20% der Wöchnerinnen an Kindbettfieber.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr die Bevölkerungsmedizin in Deutschland einen Aufschwung. Sozialen Krankheitsursachen wie schlechten Wohn- und Arbeitsverhältnissen, hygienischen Missständen und einseitiger Ernährung wurde große Aufmerksamkeit geschenkt. So konnten auf Bevölkerungsgruppen bezogene Krankheiten systematisch beschrieben und darauf basierend Maßnahmen zu deren Prävention und Bekämpfung entwickelt werden. Medizinische Statistik und Nationalökonomie wirkten so interdisziplinär zusammen. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden diese Disziplinen durch die Vererbungswissenschaft ergänzt. Der Medizinhistoriker Friedrich Prinzing forderte im Jahre 1906 in seinem Handbuch der medizinischen Statistik, dass die Entwicklung einer Bevölkerung nach ihrem „Wert zu verfolgen" sei, und dass „seine Entartung" zu bekämpfen sei. Der Werdegang von einer bevölkerungspolitisch ausgerichteten Sozialmedizin zur Rassenhygiene im Nationalsozialismus zeichnete sich bereits ab. Diese Entwicklung sollte die Akzeptanz der medizinischen Statistik in Deutschland noch lange Zeit negativ beeinflussen.

Die in England durchgeführten Studien und die damit verbundenen modernen Evaluationsmethoden, die in englischsprachigen Zeitschriften publiziert wurden, nahmen deutsche Ärzte kaum zur Kenntnis. Es gab Kommunikationsprobleme nicht nur sprachlicher, sondern auch fachbezogener Art. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857-1939) und der deutsche Internist Paul Martini (1889-1964; Abbildung 4 [Abb. 4]) übten heftige Kritik an der damals praktizierten Medizin [3], [10]. Insbesondere Martinis Werk trug wesentlich dazu bei, dass die von England ausgehenden Ideen auch im deutschen Sprachgebiet bekannt wurden. Allerdings war Martinis Buch bereits bei seiner Erstveröffentlichung im Vergleich zu Fishers Büchern insofern veraltet, als es die Randomisation nicht berücksichtigte. - Am Rande sei vermerkt, dass sich ein deutscher Chemiker namens Behrens (1903-1963), der sich mit agrarwissenschaftlicher Versuchsforschung befasste, in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unabhängig von Fisher mit varianzanalytischen Problematiken auseinander setzte [2].

Den deutschen Statistikern Arthur Linder (1904-1993) und Erna Weber (1897-1988) ist es letztlich zu verdanken, dass sich Fishers Ideen in Deutschland durchsetzten. Deren Bücher waren lange Zeit Standardwerke im deutschsprachigen Raum [9], [8], [14].

Die praktische Umsetzung verlief allerdings schleppend. Dabei geriet die unter dem Nationalsozialismus propagierte Rassenlehre verstärkt ins Blickfeld; Diskussionen über Statistik in der Medizin wurden teilweise sehr polemisch geführt. Ethische Bedenken, die (allerdings von grundlegend falschen Annahmen ausgehend) in Anbetracht der Menschenversuche unter dem Naziregime bis in die 1970er Jahre hinein diskutiert wurden, haben lange Zeit die Anwendung der Statistik in der Humanmedizin beeinträchtigt. Andererseits haben sie dazu geführt, dass Diskussionen auf breiter Ebene geführt wurden, und dass die Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisiert wurde.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert unter den Medizinern Skepsis und möglicherweise auch Bequemlichkeit, sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung auseinander zu setzen, überwogen. Dabei ging es nicht nur um die Methode an sich, sondern auch um das ärztliche Selbstverständnis. Schließlich verlangt das Orientieren an den Forschungsergebnissen anderer Kollegen von einem Arzt, auch sein eigenes Tun und Handeln kritisch zu überdenken.

Diese unter Ärzten vorherrschende Einstellung änderte sich langsam in den 1960er Jahren. Paul Martini war damals beteiligt an den Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland. Darin wurde gefordert, dass jede medizinische Fakultät einen Lehrstuhl für Biometrie erhalten sollte. Dies hatte zur Folge, dass 1970 in der Approbationsordnung für Ärzte erstmals ein entsprechender Pflichtunterricht für Studenten verlangt wurde. Diese Entwicklung wurde geprägt durch die Neufassung des Arzneimittelrechtes aus dem Jahre 1976, in dem die klinische Prüfung von Arzneimitteln erstmals gesetzlich vorgeschrieben wurde. In der öffentlichen Diskussion setzte sich schließlich der Trend durch, dass bei neu erforschten Arzneimitteln ein objektiver Wirksamkeitsnachweis zu erfolgen habe. Im Jahr 1964 wurden vom Weltärztebund in der Deklaration von Helsinki Richtlinien für die Forschung am Menschen erlassen. In revidierter Form bildet diese Deklaration heute die juristische und ethische Grundlage bei Studien und Experimenten, die an Menschen durchgeführt werden. Ethikkommissionen wachen darüber, dass diese Vorgaben eingehalten werden.


Schlussfolgerungen

Die Anwendung statistischer Verfahren in der medizinischen Forschung geht in erster Linie auf den Einfluss des englischen Wissenschaftlers Sir Ronald Aylmer Fisher zurück. Die von ihm zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts postulierte Forderung, die Forschung in der Medizin auf nachvollziehbaren Experimenten und objektiven Daten zu gründen, war aber damals keineswegs neu. Pierre Charles Alexandre Louis hatte bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Ansicht vertreten, dass diagnostische und therapeutische Entscheidungen auf der Grundlage von Statistiken zu treffen seien. Entscheidungen im ärztlichen Alltag sollten nach seiner Ansicht nicht auf unsystematischen, individuellen Erfahrungen oder persönlichen Vorlieben beruhen, sondern auf objektiven Fakten gründen. Dies beinhaltete eine Abkehr von der bis dahin autoritär gesteuerten Medizin.

Die Methode von Louis mutete seinerzeit geradezu revolutionär an. Heute würde man sie mit dem modernen Begriff „Evidenzbasierte Medizin" bezeichnen. Diese von David Sackett (geboren 1934) neu ins Leben gerufene Vorgehensweise fordert, jede ärztliche Entscheidung aufgrund wissenschaftlicher Belege, die auf dem neuesten Stand der Forschung basieren, zu treffen. Leider entspricht das Vorgehen in der ärztlichen Praxis bei weitem nicht immer diesem Idealbild. Offensichtlich ist noch 150 Jahre nach Louis und Semmelweis und 100 Jahre nach der Publikation von Fishers Standardwerk ein Widerwille zu spüren, Entscheidungen in der Medizin auf statistisch verifizierten Erkenntnissen zu gründen. Es kommt erschwerend hinzu, dass es für einen Arzt mit einem erheblichen (meist nicht realisierbaren) Zeitaufwand verbunden wäre, wollte er alle relevanten Publikationen lesen, um permanent über den aktuellen Wissensstand seines Fachgebiets informiert zu sein.

Das Streben nach Sicherheit liegt offenbar in der Natur des Menschen. Daher sind die Vorbehalte, die von Ärzten wie Bernard oder Trousseau im 19. Jahrhundert vorgetragen wurden, teilweise heute noch spürbar. Es ist zwar korrekt, dass eine Erfolgsrate oder ein Mittelwert keine sichere Aussage bezüglich eines konkreten Einzelfalles zulässt. Daraus zu schlussfolgern, dass statistische Analysen generell nutzlos seien, wäre jedoch grundlegend falsch. Die Statistik kann zwar nicht garantieren, dass eine medizinische Maßnahme im Einzelfall immer richtig ist, sie kann jedoch das damit verbundene Risiko berechenbar machen und auf ein Minimum reduzieren. Sowohl die behandelnden Ärzte als auch die Patienten müssen sich immer wieder vergegenwärtigen, dass jede medizinische Entscheidung - auch wenn sie nach den Richtlinien der evidenzbasierten Medizin getroffen wird und auf dem neuesten Stand der Forschung basiert - mit einer gewissen Unsicherheit behaftet ist.

Ärztliches Handeln muss auf Wissen basieren; ansonsten würden wir Zufällen und Halbwahrheiten verfallen. Dies wäre unter ethischen, medizinischen und ökonomischen Aspekten nicht vertretbar. Neues Wissen in der Medizin kann nur unter Anwendung von statistischen Verfahren gewonnen werden. Auch wenn persönliche Erfahrungen nach wie vor eine wichtige Säule des ärztlichen Entscheidungsprozesses darstellen, sind die Kenntnis biometrischer Methoden und die Fähigkeit, die damit gewonnenen Ergebnisse sinnvoll zu interpretieren und in die Praxis umzusetzen, unabdingbar.


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