gms | German Medical Science

GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Nationallizenzen: Konzept, Umsetzung und Perspektiven eines Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Lizenzierung von digitalen Textsammlungen für den Wissenschaftsstandort Deutschland: 10 Fragen von Bruno Bauer an Berndt Dugall, Direktor der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main und Vertreter einer der neun den Ankauf der Nationallizenzen organisierenden Informationseinrichtungen

National licenses: concept, implementation and prospect of a scheme of the German Research Foundation to licence digital text collections for the scientific community of Germany: Bruno Bauer presents 10 questions to Berndt Dugall who is head of the university library at Frankfurt on the Main and agent of one out of nine institutions which act jointly in order to organise the purchase of national licenses

Interview

Search Medline for

  • corresponding author Berndt Dugall - Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland
  • author Bruno Bauer - Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, Wien, Österreich External link

GMS Med Bibl Inf 2007;7(2):Doc31

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/mbi/2007-7/mbi000083.shtml

Published: December 10, 2007

© 2007 Dugall et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.en). You are free: to Share – to copy, distribute and transmit the work, provided the original author and source are credited.


Zusammenfassung

Das Programm der Nationallizenzen (http://www.nationallizenzen.de/) wurde 2004 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) entwickelt. Ziel ist es, bundesweit geltende Lizenzvereinbarungen mit Fachgesellschaften, Verlagen und anderen Informationsanbietern abzuschließen und dadurch Wissenschaftlern, Studierenden und wissenschaftlich interessierten Privatpersonen in ganz Deutschland den kostenlosen Zugang zu Datenbanken, digitalen Textsammlungen und elektronischen Zeitschriften zu ermöglichen.

Das aktuelle Interview mit Berndt Dugall informiert über das Konzept der Nationallizenzen, dessen Finanzierung, das organisatorische Umfeld sowie das Procedere von der Auswahl bis zur Lizenzierung einzelner elektronischer Ressourcen.

Zuletzt werden auch die Bedeutung der Nationallizenzen für den Wissenschaftsstandort Deutschland sowie die Zukunft der Bibliotheken angesichts der rasanten technischen Entwicklungen auf dem Informationssektor angesprochen.

Schlüsselwörter: Nationallizenz, Deutsche Forschungsgemeinschaft, elektronische Ressource, Lizenzierung, Interview

Abstract

In 2004 the German Research Foundation (DFG) drafted a plan for national licenses (http://www.nationallizenzen.de/). License agreements with scholarly societies, comercial publishers and other information providers should be valid for the whole area of Germany. Hence scientists, students and people with interest in science should be able to access databases, digital text collections and e-journals free of charge within Germany.

In this interview Berndt Dugall informs on the concept of a national license and talks about its funding and its organisational environment. He will explain the course from picking an electronic resource to licensing it. Finally the significance of national licenses for science in Germany will be discussed and the future of libraries will be reviewed in the light of the fast-paced development in the information industry.

Keywords: national license, German Research Foundation (DFG), electronic resource, licensing, interview


Interview

1. Entwicklung der Nationallizenzen

B. Bauer: Das Schlagwort „Nationallizenzen“ bereichert seit 2004 die deutsche BID-Landschaft. Besonders bemerkenswert an diesem neuen Konzept der Lizenzierung von elektronischen Ressourcen ist die Tatsache, dass nunmehr Lizenzen für bibliographische Datenbanken, elektronische Zeitschriften und elektronische Bücher auf Bundesebene verhandelt werden. Dies war bisher, abgesehen von einzelnen GASCO-Projekten – Stichwort: Nature bzw. Science – in Deutschland im Bereich der Bibliothekskonsortien nicht üblich, sondern als Akteure traten bisher fast ausschließlich die regionalen Bibliothekskonsortien, wie das von Ihnen geleitete HeBIS-Konsortium auf.

Wie würden Sie nun den Terminus „Nationallizenzen“ beschreiben? Welche Motive waren ausschlaggebend für die Entwicklung des Konzepts der Nationallizenzen – und insbesondere die Verlagerung der Verhandlungsführung für die Lizenzierung von e-Ressourcen von der Landes- auf die Bundesebene?

B. Dugall: Das Konzept der „Nationallizenzen“ ist zunächst einmal als Weiterentwicklung des seit vielen Jahrzehnten bestehenden Sondersammelgebietsprogramms zu verstehen. Dort ging es schon immer darum, die wissenschaftlich relevante Literatur zumindest an einer Stelle in Deutschland so umfassend wie möglich zu sammeln und – ganz wichtig – auch überregional zur Verfügung zu stellen.

Nun zeigte sich aber, dass dieses Konzept gerade nicht 1:1 auf digitale Informationsquellen zu übertragen ist, da die üblicherweise abgeschlossenen Lizenzverträge in aller Regel eine über die jeweilige Institution hinausgehende Nutzung nicht zulassen. So ist das Programm Nationallizenzen zunächst einmal eine Antwort auf diesen Sachverhalt; es bedeutet also die kurioserweise gerade bei den digitalen Informationsressourcen bestehen Nutzungseinschränkungen durch eine andere Art der Vertragsgestaltung zu überwinden.

Da die Umsetzung der Idee auf die Sondersammelgebietsbibliotheken konzentriert wurde, was sich letztlich aus dem Förderansatz der DFG ableitet, bietet sich eine „nationale“ Verhandlungsführung an. Erheblich gestützt wird diese Vorgehensweise aber durch die massiven Fördermittel der DFG.

2. Finanzierung der Nationallizenzen

B. Bauer: Die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) hat demnach eine entscheidende Rolle für das Konzept der Nationallizenzen.

Welche Zielsetzung steht hinter dieser DFG-Fördermaßnahme? Welche Beträge hat die DFG bisher zur Finanzierung der Nationallizenzen eingesetzt, und welche Beträge sind für die nächsten Jahre für den weiteren Ausbau der Nationallizenzen von der DFG bereits zugesagt?

B. Dugall: Die Zielsetzung besteht darin, Wissenschaft und Forschung, soweit sie keinen kommerziellen Zwecken dient, mit zeitgemäßen Formen und Inhalten an Information deutschlandweit in gleicher Weise zu versorgen. Damit werden Unterschiede in der Finanzkraft einzelner Institutionen bewusst „eingeebnet“. Das Credo lautet, die Basisinfrastruktur (hier Information) allen Einrichtungen in gleicher Weise und möglichst komfortabel zur Verfügung zu stellen.

Die bisher eingesetzten Beträge lagen 2004 bei etwa 9 Millionen Euro, danach für die Jahre 2005 bis 2007 bei jährlich ca. 19 Millionen Euro, und es ist Beschlusslage, dieses Programm grundsätzlich bis 2012 fortzuführen.

Die positiven Erfahrungen schon in der Anfangsphase haben in diesem Jahr zudem dazu geführt, neben der dauerhaften Beschaffung abgeschlossener Produkte zusätzlich einen Einstieg in die Beschaffung laufender Zeitschriften zu realisieren. Hier wurde eine dreijährige Testphase beschlossen, um zu erkunden, inwieweit ein solcher erweiterter Ansatz ebenfalls umsetzbar ist. Dafür stehen für die Jahre 2007-2009 zunächst etwa 12 Millionen Euro zur Verfügung, wobei diese von der DFG bereitgestellte Summe eine Teilfinanzierung beinhaltet.

3. Übernahme zentraler Aufgaben für die Nationallizenzen

B. Bauer: Wenn man an das Procedere – von der Auswahl über die Verhandlungsführung bis zur Verwaltung der lizenzierten Produkte – denkt, so wird ersichtlich, dass bei der Vielzahl der am Markt befindlichen Ressourcen und Anbieter ein enormer Arbeitsaufwand für die Umsetzung des Konzepts der Nationallizenzen zu leisten ist. Umso erstaunlicher ist es, dass keine Geschäftsstelle für die Nationallizenzen eingerichtet wurde.

Warum wurde auf eine eigene Geschäftsstelle verzichtet? Wer leistet die entsprechenden Arbeiten – von der Koordination der verschiedenen Akteure, die im Zusammenhang mit den Nationallizenzen eine Rolle spielen, bis zum Webauftritt und zum Marketing?

B. Dugall: Die Realisierung „zündender“ Ideen – und das Programm Nationallizenzen ist als eine solche anzusehen – kann auf zwei Arten verwirklicht werden.

1.
Es setzen sich wenige Interessierte zusammen, überlegen einen Lösungsansatz und beginnen mit der Arbeit. Genau dieser Weg wurde hier eingeschlagen
2.
Es wird ein im guten Sinne administrativer, im weniger guten Sinne bürokratischer Überbau geschaffen, der dann aller Erfahrung nach zunächst das primäre Interesse hat, sich selbst zu genügen.

Bei der Realisierung der Nationallizenzen hätte die Wahl des 2. Weges bedeutet, dass eine solche Institution nicht nur erst hätte geschaffen werden müssen, sondern zunächst wäre es notwendig gewesen, die Klärung der Finanzierung eines solchen Gebildes abzuwarten. Die DFG hätte eine solche zentrale Geschäftsstelle nicht getragen. Von daher war es schon folgerichtig, auf vorhandenen regionalen Strukturen aufzusetzen und die Verhandlungsführung denjenigen zu überlassen, die eigentlich auf Grund ihrer Erfahrung wissen mussten, wie ein solches Vorhaben angegangen werden konnte. Bisher sind alle Aufgaben in Arbeitsteilung realisiert worden und alle notwendigen „Beigaben“ vom Web-Auftritt über die Einzelfreischaltung bis hin zum Statistikserver stehen auf der Basis einer arbeitsteiligen Kooperation zur Verfügung. Ob einzelne Komponenten jetzt von München, Göttingen oder Frankfurt eingebracht werden, ist für die Nutzer letztlich nicht so ganz spannend.

4. Auswahl von Produkten

B. Bauer: Es ist wohl davon auszugehen, dass die Zahl der Wünsche für die Nationallizenzen im Falle einer vollständigen Realisierung die zugegebener Maßen beträchtlichen Fördermitteln der DFG deutlich übersteigen würde. Umso mehr Bedeutung kommt den Mechanismen zu, um jene Produkte identifizieren zu können, die im Rahmen der Nationallizenzen erworben werden sollen.

Welches Procedere hat sich hier seit den ersten Verhandlungen im Herbst 2004 entwickelt? Wer ist in das Vorschlagsverfahren für die Auswahl der zu lizenzierenden Produkte eingebunden? Wer trifft die Entscheidung, welche Produkte in die engere Auswahl genommen werden? Wer führt die Verhandlungen mit den Verlagen und wer ist für den konkreten Vertragsabschluss letztendlich verantwortlich?

B. Dugall: Das Vorschlagsrecht, wenn dieser Begriff in dem hier zu diskutierenden Zusammenhang verwendet werden soll, liegt zunächst bei den Sondersammelgebietsbibliotheken. Diese definieren für ihre Fachgebiete einschlägige Produkte, welche beschafft werden sollen. Eine Sichtung und Bewertung wird dann zunächst durch eine AG Nationallizenzen durchgeführt, wobei grundsätzliche Rahmenbedingungen festgelegt und die Vorschläge dann daraufhin überprüft werden, inwieweit sie in dieses Rahmenkonzept passen. Anschließend wird, wenn man so will, in dieser Arbeitsgruppe die Arbeit dahingehend verteilt, als aufgrund bereits vorhandener Erfahrungen festgelegt wird, wer für welche Produkte zunächst Angebote einholt. Bei diesem Prozess fallen dann weitere Produkte heraus, weil z.B. die Anbieter gar nicht gewillt sind, eine Nationallizenz abzuschließen (bisher z.B. JSTOR) oder weil die Vertragsbedingungen der Zielsetzung des Programms widersprechen oder auch, weil das Produkt schlicht zu teuer ist. Wenn man sich die bisher realisierten Lizenzen anschaut, so fällt doch sicherlich auf, dass man das eine oder andere Produkt dort (noch) nicht findet, obwohl man es eigentlich erwarten würde. Das hängt dann beispielsweise mit den finanziellen Forderungen zusammen.

Die nach diesem 2. Schritt als aussichtsreich eingestuften Produkte werden dann bis zu einem „vorläufigen Endergebnis“ weiter verhandelt. Dieses Ergebnis fließt dann für jedes einzelne Produkt in einen umfassenden und detailliert ausgearbeiteten Antrag. Alle Anträge durchlaufen ein zweistufiges Begutachtungsverfahren. Die dann von den Gutachtern aus inhaltlichen und finanziellen Gründen für geeignet eingestuften Produkte können, nachdem auch der Hauptausschuss der DFG die notwendigen Finanzmittel abschließend bewilligt hat, konkret beschafft werden.

Den Vertragsabschluss tätigt dann letztlich diejenige Institution, welche auch die Verhandlungen geführt hat und deren Antrag von der DFG positiv beschieden wurde.

[Anmerkung der Redaktion: Derzeit sind folgende neun Informationseinrichtungen mit der Organisation des Ankaufs der Nationallizenzen beauftragt: Bayerische Staats bibliothek München, Deutschen Zentralbibliothek für Medizin (Köln), Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften (Kiel), GESIS/Informationszentrum Sozialwissenschaften, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Staatsbibliothek zu Berlin, Technische Informationsbibliothek/TIB (Hannover), Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main und Universitäts- und Stadtbibliothek Köln.]

5. Nachweis der lizenzierten e-Ressourcen

B. Bauer: Elektronische Ressourcen müssen nicht nur lizenziert werden, sondern die für teures Geld erworbenen Datenbanken, elektronischen Zeitschriften und elektronischen Bücher müssen auch adäquat an interessierte Benutzerinnen und Benutzer vermittelt werden.

In welchen Katalogen bzw. Zugangsplattformen werden die über die Nationallizenzen lizenzierten Ressourcen nachgewiesen? Muss jede interessierte Bibliothek selbst die entsprechenden Daten eingeben, oder gibt es hier bereits standardisierte Verfahren zur automatischen Verarbeitung der entsprechenden Metadaten?

B. Dugall: Der Nachweis ist natürlich ein aufwändiger und komplexer Prozess. Zunächst ist vertraglich jeweils zugesichert, dass alle Metadaten in lokale oder Verbundkataloge jeglicher Art – sofern sie nicht kommerziellen Zwecken dienen – eingespielt werden können. Praktisch läuft dies so ab, dass Zeitschriftendaten in der ZDB und der EZB verankert sind. Darüber hinaus stehen sie auch in den Verbundkatalogen zur Verfügung. Die Metadaten komplexer Produkte (Sammlungen von Einzeltiteln, Aufsätze …) werden in der GBV Zentrale „gesammelt“, in eine MAB Struktur überführt und können dann von dort ebenfalls abgerufen werden.

6. Lizenzierte e-Ressourcen

B. Bauer: Im bisher realisierten Konzept der Nationallizenzen war ausschließlich die Lizenzierung von „abgeschlossenen“ Produkten vorgesehen, bei denen mit einem einmaligen Kauf „immerwährende Rechte“ erworben werden. Abgesehen von diesem Aspekt des Fehlens aktueller Literatur in den ursprünglichen Förderprogrammen wurde gelegentlich Kritik daran geäußert, dass bestimmte Disziplinen durch die Nationallizenzen besser bedient werden als andere.

Ist dieser Vorwurf der ungleichen fachlichen Literaturversorgung gerechtfertigt? Wie viele elektronische Ressourcen wurden bisher lizenziert? Welche davon sind aus Ihrer Sicht die Highlights?

B. Dugall: Wie ich bereits an früherer Stelle ausgeführt habe, ist das Programm mittlerweile versuchsweise auch auf laufende Produkte erweitert worden. Die ersten Pakete werden ab 2008 in „Nationallizenzen“ überführt. Allerdings ist dieser Prozess vom Arbeitsaufwand der Realisierung ungleich aufwändiger, so dass offen bleiben muss, ob gerade laufende Zeitschriften und Datenbanken ein Feld für Nationallizenzen sind.

Die ungleiche fachliche Berücksichtigung ist natürlich zutreffend. Die Kritiker, oder sollte ich besser sagen Kritikaster dieser Entwicklung, müssen sich jedoch einmal mit den Gründen dafür befassen. In manchen Disziplinen gibt es eben hoch relevante, technisch ausgereifte und auch finanzierbare Produkte, in anderen aber nicht.

Auf die Frage nach den Highlights möchte ich bewusst nicht antworten. Die bisher zur Verfügung stehenden Produkte richten sich an völlig unterschiedliche Nutzergruppen. Es gibt kleine Wissenschaftscommunities, für die ein Nischenprodukt bedeutsamer sein kann, als ein vielgenutztes Paket in einer Disziplin, in der die schiere Zahl der dort aktiven Forscher die Zahl der Nutzungen nach oben treibt.

7. Nutzung der Nationallizenzen

B. Bauer: Bei dem enormen Mitteleinsatz der DFG-Förderinitiative für die Nationallizenzen – in den Jahren 2004 bis 2007 wurden bereits 84 Millionen Euro eingesetzt – stellt sich natürlich die Frage nach dem Erfolg dieses Konzeptes, der wohl am besten über die Statistiken zu messen sein wird.

Liegen bereits fundierte Untersuchungen über die Nutzung der bisherigen Angebote vor?

B. Dugall: Statistische Daten über die Nutzung werden seit diesem Jahr erhoben. Meine eigene Bibliothek hat dafür einen Server entwickelt, auf dem diese Daten gesammelt und ausgewertet werden. Es ist aber im Rahmen eines solchen Programms, in dem ja auch gerade die so genannte Spitzenversorgung ihren Platz haben soll unredlich, immer nur auf Quantitäten zu schauen. Von daher muss mit den Nutzungsdaten auch sensibel umgegangen werden. Wir fordern ja auch nicht die Schließung von Feinschmeckerlokalen, weil ohnehin die allermeisten zu McDonald's laufen.

8. Auswirkungen der Nationallizenzen auf den Dokumentenlieferdienst

B. Bauer: Sie sind auch Vorsitzender von subito, Dokumente aus Bibliotheken e.V. Subito ist ein schneller und unkomplizierter Dienst der Bibliotheken, der den Kunden Kopien von Zeitschriftenaufsätzen liefert. Dieser Dienst kommt durch das neue Urheberrecht, das voraussichtlich mit 1. Januar 2008 in Kraft treten wird, in eine kritische Phase.

Wie beurteilen Sie die Zukunft des Document Delivery? Können die Nationallizenzen die zu erwartende Beeinträchtigung des Document Delivery in den nächsten Jahren kompensieren?

B. Dugall: Auf die Dokumentlieferung in bisheriger Form wird das Konzept der Nationallizenzen natürlich einen erheblichen Einfluss ausüben. Allerdings dürfte das Programm nur eine Ursache für die zurückgehenden Aktivitäten sein. Veränderte gesetzliche Grundlagen sowie die zunehmende Open Access Bewegung tragen ebenso dazu bei, dass die klassische Dokumentlieferung von Jahr zu Jahr an Bedeutung verlieren wird. Spätestens in 10 Jahren wird ihr das gleiche Schicksal beschieden sein, welches vor 10 Jahren die Deutschen Zentralkataloge ereilte. Sie wird überflüssig.

9. Bedeutung der Nationallizenzen für Wissenschaftsstandort Deutschland

B. Bauer: Es ist eine traditionelle Aufgabe der DFG, im Rahmen ihrer Strukturmaßnahmen für wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme das System der Sondersammelgebiete zu fördern. In dieses System konnten elektronische Publikationen nur unzureichend einbezogen werden, weshalb die DFG in einer Pressemitteilung vom 19. Mai 2005 konstatierte: „Die Versorgungslage in Deutschland drohte damit hinter die anderer Länder, etwa Großbritannien und Frankreich, zurückzufallen, in denen es eigene Programme zum Erwerb nationaler Lizenzen gibt.“

Mittlerweile wurden die Fördermaßnahmen 2004 bis 2006 bereits umgesetzt, die Fördermaßnahme 2007 steht unmittelbar vor der Realisierung. Haben diese Maßnahmen dazu beigetragen, dass Deutschland in der wissenschaftlichen Literaturversorgung bereits zu den international führenden Ländern aufgeschlossen hat, oder fehlen noch viele Nationallizenzen für essentielle elektronische Ressourcen? Wäre in diesem Zusammenhang, wenn man die DFG-Strategie konsequent zu Ende denkt, nicht die Lizenzierung etwa für rezente elektronische Zeitschriften oder für wichtige Datenbanken, wie Web of Knowledge oder Scopus, der nächste logische Schritt zur Stärkung des Wissenschaftsstandortes Deutschland?

B. Dugall: Das Programm ist ja – wie bereits ausgeführt wurde – in 2007 noch einmal verbreitert worden. Wir haben in Deutschland mit den Nationallizenzen eine Entwicklung angestoßen, die inzwischen auch international große Aufmerksamkeit und Beachtung findet. In einer Studie von JISC aus dem Jahr 2006 wird festgehalten, dass die flächendeckende Informationsversorgung in Deutschland gerade durch die Nationallizenzen eine Qualität und einen Umfang erreicht hat, der deutlich höher bewertet wird, als etwa in den USA, oder in Großbritannien.

Es wäre sicherlich verfehlt anzunehmen, dass wir über die Nationallizenzen nun alles abdecken können Wir müssen neben anderen, bereits genannten Aspekten, auch sehr genau darauf achten, dass wir mit unserer Vorgehensweise nicht einen gewiss nicht erwünschten Effekt befördern. Wir dürfen die kommerziellen Monopole der globalen Informationsindustrie nicht noch durch Einbeziehung zusätzlich stärken. Von daher ist es bei aller Begeisterung für das Programm auch eine wichtige Aufgabe, nicht jedes Produkt, was möglich sein könnte, in das Programm einzuschließen.

10. Zukunft der Bibliotheken

B. Bauer: Mit den Nationallizenzen wurde die Lizenzierung wichtiger elektronischer Ressourcen von der Länderebene auf die Bundesebene transferiert, nicht zuletzt mit dem Ziel, für ganz Deutschland einen einheitlichen Qualitätsstandard der wissenschaftlichen Literaturversorgungs- und Informationssysteme anbieten zu können. Nunmehr gibt es Bestrebungen, länderübergreifende Lizenzmodelle, etwa mit Dänemark (DEF), den Niederlanden (SURF) oder mit Großbritannien (JISC) zu entwickeln.

Herr Dugall, Sie sind als Leiter der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main für eine große wissenschaftliche Bibliothek verantwortlich. Wenn man den oben skizzierten Weg konsequent weiterdenkt, so steht am Schluss dieser Entwicklung, unabhängig vom jeweiligen Standort, der Prototyp einer ideal versorgten wissenschaftlichen Bibliothek, die ein identisches Angebot aufweist.

Welche konkreten Aufgaben bleiben bei einer solchen Entwicklung den einzelnen Bibliotheken vor Ort? Wo sehen Sie in Zukunft Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten für die wissenschaftlichen Bibliotheken?

B. Dugall: Ob das Programm Nationallizenzen tatsächlich ein Transfer von der Länderebene auf die Bundesebene darstellt, möchte ich offen lassen. Verantwortlich sind für die Umsetzung bisher konkret lokale Bibliotheken. Eine neue, für mich nicht wünschbare Qualität würde erst ins Spiel kommen, wenn eine Art nationaler Lizenzagentur geschaffen würde.

Natürlich könnte der Prototyp einer „ideal versorgten wissenschaftlichen Bibliothek“ am Ende stehen. Aber warum wird dann eigentlich die Bibliothek versorgt? Versorgt werden letztlich doch Nutzer, und für den Zugriff auf die Nationallizenzen z.B. benötigen sie doch gar keine Bibliothek vor Ort. Die hier aufgeworfene Frage kann nur in einem viel breiteren Kontext beantwortet werden. Was wird sein, wenn erst einmal alle von Google digitalisierten Bücher im Internet zur Verfügung stehen? Dann werden wir eine ganz neue Qualität in der Diskussion haben, welche Rolle lokale Bibliotheken noch spielen können oder sollen. Wir erleben ja heute schon, dass viele unserer Berufskollegen die Vermittlung von Informationskompetenz als ihre neue Aufgabe sehen. Ob dieses Konzept trägt, ist auch kaum vorherzusehen. Vor 25 Jahren war der Weisheit letzter Schluss die „professionelle Datenbankrecherche“. Heute können viele 10-Jährige schon besser recherchieren, als damals manche gestandene Bibliothekare. Dies liegt aber an der immensen Weiterentwicklung der Werkzeuge und nicht an der Unfähigkeit der damaligen Berufskollegen. Informationskompetenz wird vielleicht zukünftig in der Schule ebenso vermittelt werden, wie Schreiben und Rechnen. Und dann?

Eine entscheidende Aufgabe der wissenschaftlichen Bibliotheken wird es in den nächsten 10 Jahren sein, den Spagat zwischen dem effektiven Umgang mit konventionellen und mit digitalen Ressourcen zu bewältigen. Sie sind nun einmal in einer Situation, (noch) sehr heterogene Formen der Nutzung abdecken zu müssen.

In meiner eigenen Bereichsbibliothek Medizin reduzieren wir in regelmäßigen Abständen die Buchstellflächen zugunsten weiterer Arbeitsplätze. Vor 10 Jahren hatten wir dort noch 850 laufende Zeitschriften in gedruckter Form. Heute sind es weniger als 100, aber es stehen fast 1600 weitere Titel elektronisch zur Verfügung. Nur, die sieht man in der Bibliothek nicht mehr. Jetzt beginnt gerade der Prozess, das klassische Lehrbuch, statt es in 20 oder 30 Exemplaren vorzuhalten, als elektronische Lernressource anzubieten. Es wird also der Tag kommen, an dem das letzte Buch vielleicht in feierlicher Prozession aus dem Haus getragen wird, um es in einem diffusen Speichermagazin zu archivieren. Ob das, was dann übrig bleibt, noch die Bezeichnung Bibliothek verdient, mögen andere entscheiden.


Kontakt und biographische Daten

Dipl.-Chem. Dipl.-Bibl. Berndt Dugall

Abbildung 1 [Abb. 1]

Kontakt

Universitätsbibliothek Frankfurt am Main
Bockenheimer Landstr. 134-138
60325 Frankfurt am Main
Tel: +49 69/ 798-39 229 /230
Fax: +49 69/ 798-39 062
E-Mail: b.dugall@ub.uni-frankfurt.de

Biographische Daten

1973 Abschluss des Chemie-Studiums
1974-1976 Vorbereitungsdienst für die Laufbahn des Höheren Dienstes an wiss. Bibliotheken
1977-1983 Fachreferent an der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main
1983-1986 Stellvertretender Direktor der Universitätsbibliothek Marburg
1986-1988 Direktor der Universitätsbibliothek Gießen
seit 1988 Direktor der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main
1989-2006 Mitglied der Bibliothekskommission des Wissenschaftsrats
1991-1997 Mitglied des Bibliotheksausschusses der DFG
seit 1991 Chefredakteur von ABI Technik
seit 2004 OCLC Member Council
seit 2004 einer der Verhandlungsführer der Nationallizenzen
seit 2006 Vorsitzender von subito e.V.

Publikationen (in Auswahl)

Dugall B. Aktuelle Tendenzen bei der Umstrukturierung von Hochschulbibliotheksystemen in der Bundesrepublik Deutschland. Universitätsreform und Medienrevolution: Beiträge der intern. Fachtagung in Bozen, 28. und 29. September 2000. Florenz: Casalini Libri; 2001. S. 39-48.

Dugall B. Automatisierte Katalogkonversion einer Leihverkehrsregion. ABI-Technik. 2001;21(2):112-24.

Dugall B. Die digitale Hochschulbibliothek: Dienstleistungen, Strukturen, Kooperationsformen. ABI-Technik. 2001;21(4):318-25.

Wiesner M, Dugall B. Lizenzierung elektronischer Informationsquellen im Konsortium: Kosten und Nutzen am Beispiel des HeBIS Konsortiums. ABI-Technik. 2002;22(1):12-24.

Fladung RB, Dugall B. Entscheidungsorientierte Kostenbetrachtung für den Bezug elektronischer Zeitschriften im konsortialen Rahmen anhand ausgewählter Beispiele. ABI-Technik. 2002;22(4):316-38.

Dugall B, Fladung RB. Innerkonsortiale Verrechnungsmethoden für elektronische Informationsressourcen. ABI-Technik. 2003;23(3):196-213.

Dugall B. L’íntegrazione tra risorse elletroniche e risorse tradizionali: Strategie e problemi aperti La bibliotheca ibrida: verso un servizio informativo integrato. A cura di Ornella Foglieni Milano: Editrice Bibliographica; 2003:79-87. (Übersetzung aus dem Englischen: Allesandra Sorbello-Staub.)

Fladung RB, Dugall B, König W. Ökonomie der elektronischen Literaturversorgung – Optimale Tarifwahl beim Bezug elektronischer Zeitschriften. Wirtschaftsinformatik. 2004;46(4):265-72.

Dugall B. Nutzungsstatistiken elektronischer Zeitschriften: Entscheidungsgrundlage oder Spielwiese? ABI-Technik. 2004;24(1):32-42.

Dugall B. Deutsche Universitäten und ihre Bibliotheken: eine (un)endliche Geschichte. In: Kolding Nielsen E, Saur KG, Ceynowa K, Hrsg. Die innovative Bibliothek: Elmar Mittler zum 65. Geburtstag. München: Saur; 2005. S. 19-28.

Dugall B. Kooperation und Vernetzung. In: Heidenreich B, Hrsg. Hessen: Kultur und Politik – die Bibliotheken. Stuttgart: Kohlhammer; 2005. S. 265-84.

Bernius S, Hanauske M, Fladung RB, Dugall B. Determinanten des Zeitschriftenpreises. ABI-Technik. 2006;26(1):38-54.

Dugall B. Fernleihe, Dokumentlieferung und Zugriff auf digitale Dokumente. ABI Technik. 2006;26(3):162-78.

Dugall B. OCLC und WorldCat: eine (un)endliche Erfolgsgeschichte. ABI Technik. 2007;27(1):10-9.

Hanauske M, Bernius S, Dugall B. Quantum Game Theory and Open Access Publishing. Physica. 2007;A382:650-64.