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53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

15. bis 18.09.2008, Stuttgart

Multiple Classification Ripple Down Rules (MCRDR) zur computergestützten Arzneimittel-Substitution

Meeting Abstract

  • Andreas Beck - Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland
  • Reinhold Sojer - Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland
  • Sabine Krebs - Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland
  • F. Dörje - Apotheke des Universitätsklinikums Erlangen, Erlangen, Deutschland
  • Hans-Ulrich Prokosch - Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. 53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (gmds). Stuttgart, 15.-19.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. DocSTUD1-4

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/gmds2008/08gmds248.shtml

Veröffentlicht: 10. September 2008

© 2008 Beck et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung

Eine adäquate und verträgliche Pharmakotherapie setzt eine regelmäßige Überprüfung der Arzneimitteltherapie eines Patienten unter Berücksichtigung seiner Diagnosen, Befunde und Anwendungsprobleme voraus. Die regelmäßige Überprüfung leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung in der Arzneimitteltherapie. Neuralgische Punkte sind in diesem Zusammenhang Aufnahme und Entlassung im Krankenhaus, an denen durch Einführung eines systematisierten Überprüfungsvorganges die Inzidenz von Medikationsfehlern und arnzneimittelbezogenen Problemen reduziert werden kann [1].

In einem Projekt auf einer chirurgischen Station des Universitätsklinikums Erlangen (UKER) wird diese Überprüfung der Arzneimitteltherapie und die Umstellung auf die klinikübliche Medikation derzeit bei Krankenhausaufnahme von einem Pharmazeuten der Klinikumsapotheke durchgeführt. Neben der Reduktion von kostentreibenden Sonderbestellungen ergab eine Zwischenauswertung während der Pilotphase des Projektes, dass bei 241 Patienten ca. 50% der Medikamente aut-idem substituiert, bei 38% die Medikamente ünverändert übernommen und in knapp 36% der Fälle arzneimittelbezogene Probleme wie z.B. falsche Dosierung, falsches Arzneimittel oder fehlende Indikation gelöst werden konnten. Der zeitliche Aufwand für die Patienteninterviews und Recherche der Arzneimittelanamnese inklusive Erarbeitung des Arzneimittelempfehlungen ist jedoch hoch und beträgt zum Beispiel bei 5 Patienten bis zu 4 Stunden. Dieser Zeitaufwand soll durch die Anzeige gezielter, für die Substitution relevanter Informationen im Patientenkontext, sowie durch den Einsatz eines wissensbasierten Systems für einen automatisierten Substitutionsvorschlag reduziert werden. Die Wissensakquisition soll interaktiv und ohne Hinzunahme eines Wissensingeneurs erfolgen.

Material und Methoden

Eine nahtlose Integration des Werkzeugs ins klinische Arbeitsplatzsystem (KAS) ist Grundvoraussetzung für seine Akzeptanz und erfordert aus technischer Sicht den Zugang und die Integration verschiedener Datenbank- und Informationssysteme.

Patientenbezogene Daten, Befunde und Verordnungen werden aus der Datenbank des KAS (Soarian) entnommen. Arzneimittelinformationen verschiedener Anbieter sind über ein am UKER implementiertes Webservice-Framework von verschiedenen Systemen abrufbar (ABDA, Gelbe Liste – OntoDrug®). Ferner wird ein Zugriff auf die Hausliste der Apotheke realisiert, um bei einer Substitution Präparate auf dieser Liste zu favorisieren.

Der Substitutionsvorschlag wird vom System auf Basis von Ripple Down Rules (RDR) generiert – einem regelbasiertem Ansatz, der bereits erfolgreich in einem Projekt zur automatisierten Medikationsüberwachung angewendet wurde [2]. Der Experte kann sukzessive bei jeder Korrektur die Wissensbasis verfeinern, indem er die Entscheidungskriterien für seine Abweichung hinreichend genau durch Ausnahmeregeln formalisiert und so einen Präzedenzfall schafft. Das System wird bei der nächsten ähnlichen Situation dieses Wissen aus dem eben geschaffenen Präzedenzfall anwenden und ein anderes Substitut vorschlagen, sofern die Regeln diesen Fall als ähnlich klassifizieren.

Diese sogenannten „cornerstone-Cases“, die zu jeder Ausnahmeregel mit gespeichert werden, dienen im Weiteren dazu, die Wissensbasis konsistent zu halten und liefern die Diskriminatoren vom aktuellen Fall zu anderen Fällen in der Wissensbasis.

Wird keine Ausnahmeregel unterhalb der Wurzel des RDR-Baumes erfüllt, wird immer der „default“-Fall angenommen und die algorithmisch überschaubare Aut-Idem-Substitution basierend auf Wirkstoff, Darreichungsform, Stärke und Freisetzungsverhalten angestoßen. (Abbildung 1 [Abb. 1])

Ergebnisse

Das wissensbasierte Substitutionswerkzeug wurde ins Formularwesen des web-basierten, klinischen Arbeitsplatzsystems Soarian integriert und kann vom Apotheker beim Eintreffen eines Arzneimittelkonzils von Station im Patientenkontext aufgerufen werden. Die Anwendung vereint alle relevanten Patientendaten (Befunde, Anamnesen) und bisherige Arzneimittelanamnese visuell in einem Fenster.

Liefert das System keine zufriedenstellende Antwort, kann der Apotheker über eine ebenfalls integrierte Präparatesuche und Auswahlfunktion ein anderes Medikament substituieren. Er hat dabei die Möglichkeit, über eine Differenzen-Liste eine Ausnahmeregel zu definieren, welche erklärt, warum der aktuelle Fall mit seiner Substitution von dem vom System vorgeschlagenen Präzedenzfall abweicht. Berücksichtigt werden im RDR-Regelwerk Kriterien wie Alter, Geschlecht, Diagnosen, Stoffwechselfunktionen und Begleitmedikation.

Diskussion und Ausblick

RDR eignen sich für die Verwendung bei der Substitution, da insbesondere komplexes pharmakologisches Wissen präzise und konsistent abgebildet werden kann. Die Wissensbasis ist damit keine „Black-Box“ wie bei Wahrscheinlichkeits-basierten Ansätzen und ermöglicht die Validierung des gespeicherten Wissens bezüglich Leitlinienkonformität. Durch die sukzessive und interaktive Verfeinerung der Regeln entfällt außerdem der hohe Pflegeaufwand der Wissensbasis durch einen Wissensingenieur [3], wie er zum Beispiel zur Feinabstimmung der Ähnlichkeitsfunktion beim fallbasierten Schließen (Case Based Reasoning) erforderlich wäre.

Die Anwendung wurde prototypisch umgesetzt, eine Analyse hinsichtlich Sensitivität und Spezifität ist in Vorbereitung. Die Ergebnisse werden zur Tagung vorliegen und dann präsentiert.


Literatur

1.
Pronovost P. Medication Reconciliation: A Practical Tool to Reduce the Risk of Medication Errors. Journal of Critical Care 2003; 18: 201-5.
2.
Himmel W. Drug changes at the interface between primary and secondary care. International Journal of Critical Pharmacology and Therapeutics 2004; 42: 103-9.
3.
Bindoff IK. An Intelligent Decision Support System for Automated Medication Review. In: Advances in Knowledge Acquisition and Management 2006. Berlin: Springer; 2006: 120-31.