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51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (gmds)

10. - 14.09.2006, Leipzig

Prävalenz, Morbidität und Mortalität der schweren Sepsis auf deutschen Intensivstationen: Ergebnisse einer bundesweiten Querschnittserhebung des Kompetenznetzes Sepsis

Meeting Abstract

  • Christoph Engel - Universität Leipzig, Leipzig
  • Frank Martin Brunkhorst - Universität Jena, Jena
  • Konrad Reinhart - Universität Jena, Jena
  • Markus Löffler - Universität Leipzig, Leipzig

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (gmds). 51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. Leipzig, 10.-14.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06gmds148

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/gmds2006/06gmds011.shtml

Veröffentlicht: 1. September 2006

© 2006 Engel et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung

Die schwere Sepsis ist eine durch Infektion ausgelöste, generalisiert verlaufende Entzündungsreaktion des Körpers mit exzessiver Aktivierung von endogenen Entzündungs- und Gerinnungsmediatoren und Beeinträchtigung vitaler Parameter bis hin zum Multiorganversagen und der Notwendigkeit intensivmedizinischer Behandlung. Die schwere Sepsis ist die Haupttodesursache auf nichtkardiologischen Intensivstationen (ITS). Aktuelle Daten aus den USA zeigen, daß etwa 215.000 Patienten jährlich an den Folgen einer Sepsis versterben (Mortalitätsrate 28,6%) [1]. Der Begriff Sepsis wurde 1992 durch die ACCP/SCCM-Konsensuskonferenz neu definiert [2]. Diese Definition unterscheidet sich erheblich von den mikrobiologisch orientierten Definitionen der CDC in den USA, sowie von der ICD-10-Klassifikation. Eine einheitliche Definition ist jedoch unverzichtbar für die Beurteilung und den Vergleich von Ergebnissen aus Therapiestudien und epidemiologischen Studien. Für Deutschland existieren bislang keine zuverlässigen epidemiologischen Daten zur Sepsis. Um diese Lücke zu schließen, hat das Kompetenznetz Sepsis (SepNet) bundesweit eine prospektive Beobachtungsstudie auf Intensivstationen in repräsentativ ausgewählten Krankenhäusern durchgeführt. Primäres Ziel war die Schätzung von Prävalenz, Morbidität und Mortalität der schweren Sepsis und des septischen Schocks. Weitere Ziele umfaßten die Erhebung und Auswertung von Daten zur Struktur der behandelnden Einrichtungen, zu allgemeinen Gewohnheiten in Diagnostik und Therapie der Sepsis, sowie zu patientenbezogenen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen.

Material und Methoden

Es handelte sich um eine prospektive, querschnittliche Ein-Tages-Beobachtungsstudie mit partiellem Follow-up in einer repräsentativen Stichprobe von Krankenhäusern in Deutschland. Die Grundgesamtheit wurde auf der Basis des deutschen Krankenhausverzeichnisses sowie zusätzlicher ITS-bezogener Informationen ermittelt und umfaßte 1380 Krankenhäuser (488.727 Betten) mit 2075 ITS (19.084 Betten). Rehabilitationseinrichtungen und pädiatrische ITS wurden ausgeschlossen. Die Krankenhäuser wurden in 5 Strata separiert: Die Strata 1-4 umfaßten alle nicht-universitären Einrichtungen mit ≤200, 201-400, 401-600, bzw. >600 Betten, Stratum 5 umfaßte alle universitären Einrichtungen. In einem einstufigen Cluster-Sampling-Verfahren wurden 333 Krankenhäuser zufällig ausgewählt (mit "Zurücklegen"), wobei die Ziehungswahrscheinlichkeit proportional zur ITS-Bettenzahl des Krankenhauses war ("Probability proportional to size with replacement", PPSWR-Sampling). Die Stichprobe umfaßte 300 verschiedene Krankenhäuser (269, 29 und 2 Krankenhäuser wurden ein-, zwei-, bzw. dreimal gezogen). Die Leiter der ausgewählten ITS wurden schriftlich und telefonisch um Studienteilnahme angefragt. Im Falle der Ablehnung erfolgte ein Ersatz der ITS durch erneute Zufallsauswahl (gleiche Fachrichtung und Stratum). Die Teilnahmerate betrug 77% nach der ersten Ziehung und 21% nach 1-4 Ersatzziehungen. Den teilnehmenden Krankenhäusern wurde ein zufälliger Stichtag innerhalb eines Jahres (15.1.2003 und 14.1.2004) zugewiesen. Die ITS dieser Krankenhäuser wurden durch speziell geschulte und intensivmedizinisch erfahrene Ärzte aus den 18 bundesweit angesiedelten Regionalzentren des Komptenznetzes Sepsis zeitnah nach dem Stichtag aufgesucht und die Daten durch Befragung des ortsansässigen ärztlichen Personals papierbasiert erhoben. Aus der Stichprobe konnten insgesamt 402 ITS in 278 Krankenhäusern besucht und Daten erhoben werden. Alle Patienten, die am Stichtag auf die ITS aufgenommen wurden oder dort bereits anwesend waren, wurden nach Aktenlage auf das Vorliegen von Infektion, SIRS (Severe Inflammatory Response Syndrom) und Organdysfunktionen gemäß Konsensus-Definition des "American College of Chest Physicians" und der "Society of Critical Care Medicine" (ACCP/SCCM) untersucht. Nur bei Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock erfolgte eine weitere Detaildokumentation sowie ein Follow-up des Vitalstatus nach 90 Tagen. Alle erhobenen Daten wurden in einer zentralen Datenbank am KKSL Leipzig erfaßt und während der Erhebungsphase regelmäßig durch einen erfahrenen Intensivmediziner auf systematische Fehler geprüft. Die unverzerrte Schätzung der Prävalenz erfolgte mit dem Hansen-Hurwitz-Schätzer, welcher die ungleiche Sampling-Wahrscheinlichkeit des PPSWR-Verfahrens durch eine entsprechende Gegengewichtung berücksichtigt [3]. Es erfolgte ferner eine Korrektur der durch das querschnittliche Design verursachten Verzerrung der Liegedauer-Verteilung ("length-biased sampling") [4]. Prädiktoren für die schwere Sepsis oder das Überleben wurden mit Hilfe multivariater logistischer Regressionsmodelle analysiert. Der zur Auswertung herangezogene Datenbestand umfaßte 454 ITS in 310 Krankenhäusern, da mehrfach gezogene Krankenhäuser entsprechend mehrfach gewertet wurden.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 3.877 Patienten mit einem medianen Alter von 67 Jahren auf das Vorliegen einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks untersucht. Eine Infektion lag bei 34,8% dieser Patienten vor. Von diesen hatten 39,1% eine ambulant erworbene Infektion, 13,8% eine nosokomial auf Normalstation erworbene und 32,9% eine nosokomial auf ITS erworbene Infektion. Die Kriterien des SIRS waren bei 40,8% der Patienten erfüllt. In 11,9% der Patienten lag mindestens eine infektionsassoziierte Organdysfunktion vor. Gemäß ACCP/SCCP-Definition lag bei 473 Patienten eine Sepsis und bei 415 Patienten eine schwere Sepsis oder ein septischer Schock vor. Die mittlere Liegedauer aller Patienten betrug 8,5 Tage. Patienten in größeren Krankenhäusern (höheren Strata) waren signifikant jünger, häufiger männlich, hatten häufiger Infektionen, erfüllten häufiger die SIRS-Kriterien und wiesen eine größere Liegedauer auf als Patienten in kleineren Krankenhäusern. Innerhalb der Patientengruppe mit Infektion (n = 1.348) waren ITS-erworbene Infektionen und Organdysfunktionen in größeren Krankenhäusern signifikant häufiger anzutreffen. Die geschätzte Prävalenz in Deutschland betrug 12,4% (95%CI: 10,9% - 13,8%) für die Sepsis und 11,0% (95%CI: 9,7% - 12,2%) für die schwere Sepsis und den septischen Schock. Die Prävalenz der schweren Sepsis stieg mit der Krankenhausgröße (Strata) signifikant an (6,6% in Stratum 1, 18.9% in Statum 5). In der multivariaten logistischen Regressionsanalyse waren die Krankenhausgröße, das Vorliegen eines mikrobiologischen Infektionsnachweises sowie auf ITS erworbene Infektionen positiv mit der Häufigkeit einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks korreliert, jedoch nicht das Alter und Geschlecht. Innerhalb der Gruppe der Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock (n = 415) hatten 45,8% einen septischen Schock. Häufigste Lokalisationen der Infektion waren die Lunge (62,9%) und der Bauchraum (25,3%). Häufigste Organdysfunktionen betrafen das Herz-Kreislaufsystem (53,0%), die Lunge (52,0%) und die Niere (42,2%). Die mittlere Liegedauer der Patienten mit schwerer Sepsis / septischem Schock betrug 12,3 Tage und war signifikant höher in größeren Krankenhäusern. Die 90-Tage-Krankenhausmortalität betrug 55,2%. Die Mortalität und Morbidität (APACHE-II Score) zeigten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Krankenhaus-Strata. In der multivariaten Analyse waren der APACHE-II-Score und eine renale Dysfunktion unabhängige Prädiktoren für die Mortalität, nicht aber Geschlecht, Alter, Ursprung der Infektion oder andere Organdysfunktionen. Die Prävalenz der schweren Sepsis und des septischen Schocks zeigte in den 12 Monaten der Beobachtungsperiode eine starke unsystematische Variabiliät. Demgegenüber zeigte die Prävalenz signifikante Unterschiede über Wochentage mit Maximum am Mittwoch (14,0%) und einem Minimum am Freitag (8,2%).

Diskussion

Mit dieser Studie sind in Deutschland erstmals repräsentative Daten zur Häufigkeit, Morbidität und Mortalität der Sepsis auf der Basis der ACCP/SCCM-Konsensuskriterien verfügbar. Wesentliche Stärken gegenüber bisherigen ausländischen Studien betreffen die Methode der Stichprobenbildung durch größengewichtete Zufallsauswahl, die Beurteilung der Sepsis-Kriterien und Datenerfassung durch externe geschulte Ärzte, sowie die Berücksichtigung jahreszeitlicher Fluktuationen. Die unterschiedliche Prävalenz der schweren Sepsis zwischen den Strata ist möglicherweise auf eine gerichtete Verlegung der Patienten von kleineren in größere Einrichtungen bedingt. Diese Verlegungspraxis maskiert auch möglicherweise vorhandene Unterschiede in Mortalität und Morbidität zwischen den Strata. Zur Klärung dieser Frage sind detaillierte Erhebungen des Zuweisungsverhaltens und dessen Determinanten erforderlich.

Unter Zuhilfenahme von externen Daten zur Krankheitsdauer der Sepsis lassen sich aus den ermittelten Prävalenzen Rückschlüsse auf die jährlichen Neuerkrankungsraten ziehen. Es wird demnach abgeschätzt, daß die jährliche Neuerkrankungsrate für die Sepsis zwischen 85 und 116 und für die schwere Sepsis zwischen 76 und 110 Fällen pro 100.000 Einwohner liegt. Diese Abschätzungen liegen in der Größenordnung longitudinaler ausländischer Studien, sind aber weitaus größer als die vom Statistischen Bundesamt berichtete Rate auf der Basis von ICD-10 kodierten Entlassungsdiagnosen. Diese Diskrepanz ist auf die unzureichende Abbildung der Sepsis als infektionsbedingtes systemisches Inflammationssyndrom im ICD-10 zurückzuführen. Um künftig eine adäquatere Abbildung zu erreichen, wurde im ICD-10 GM Version 2005 eine entsprechende Zusatzkodierung (R65!) aufgenommen.

Danksagung

Diese Studie wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF, Förderkennzeichen 01 KI 0106) und die Firma Lilly Deutschland GmbH, Bad Homburg, finanziell unterstützt.


Literatur

1.
Angus DC, Linde-Zwirble WT, Lidicker J, Clermont G, Carcillo J, Pinsky MR. Epidemiology of severe sepsis in the United States: analysis of incidence, outcome, and associated costs of care. Crit Care Med 2001;29(7):1303-10.
2.
American College of Chest Physicians/Society of Critical Care Medicine Consensus Conference: definitions for sepsis and organ failure and guidelines for the use of innovative therapies in sepsis. Crit Care Med 1992;20(6):864-74.
3.
Freeman J, Hutchison GB. Prevalence, incidence and duration. Am J Epidemiol 1980;112(5):707-23.
4.
Hansen HP, Hurwitz WN. On the theory of sampling from finite populations. Ann Math Stat 1943;14:333-362.