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67. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie
89. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie
44. Tagung des Berufsverbandes der Fachärzte für Orthopädie

11. bis 16.11.2003, Messe/ICC Berlin

Pathophysiologische Grundlagen und Definitionen

Kurzbeitrag (DGU 2003)

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  • corresponding author Ralf Erik Hilgert - Klinik für Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel , Arnold-Heller-Straße 7, 24105 Kiel

Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie. Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie. Berufsverband der Fachärzte für Orthopädie. 67. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, 89. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie und 44. Tagung des Berufsverbandes der Fachärzte für Orthopädie. Berlin, 11.-16.11.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. Doc03dguA25-1

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgu2003/03dgu0145.shtml

Veröffentlicht: 11. November 2003

© 2003 Hilgert.
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Gliederung

Text

Einleitung, Definitionen, Problemstellung

Die strukturierte Erstuntersuchung eines schwerverletzten Patienten im Schockraum ermöglicht es in der Regel, innerhalb der ersten Minuten einen Überblick über den Gesamtzustand des Patienten und das Verletzungsmuster der meisten wichtigen Körperregionen und Organsysteme zu gewinnen. Klinische Untersuchung, die Überprüfung der Beatmungsparameter und die orientierende abdominelle Sonographie sind dafür geeignete Mittel, ergänzt durch die ebenfalls frühzeitig verfügbaren üblichen Laborwerte. Anhand üblicher Polytrauma-Algorithmen wird danach entschieden, wie groß die Dringlichkeit akuter Interventionen ist, und in welchem Ausmaß weitere Diagnostik erfolgen kann / muß.

Schwere Beckenverletzungen sind in dieser Hinsicht nicht unproblematisch. Die Frage, ob ein Patient durch eine Beckenfraktur in eine akut lebensbedrohliche Lage gebracht wird, entscheidet sich nicht primär nach der knöchernen Situation. Das Ausmaß einer Instabilität des Beckenringes gibt zwar einen Anhalt für die Verletzungsschwere, entscheidend für die Lebensbedrohlichkeit einer Verletzung ist aber vielmehr, welche Begleitverletzungen vorliegen. Zu Beginn soll auf wenige Begriffsdefinitionen und Erläuterungen eingegangen werden, die für das Thema relevant werden.

Beckenringfraktur Typ A: Unter physiologischer Belastung stabile Situation des Beckenringes, insbesondere Stabilität der lasttragenden Anteile des hinteren Beckenringes.

Beckenringfraktur Typ B: Partiell instabiler hinterer Beckenring mit unter physiologischer Belastung horizontaler Dislokationsgefahr im Sinne von aufklappenden oder sich übereinanderschiebenden Frakturanteilen.

Beckenringfraktur Typ C: Komplett instabiler Beckenring, zur Instabilität vom Typ B zusätzlich Gefahr der Vertikalverschiebung der Beckenringhälften zum Sacrum oder gegeneinander.

Polytrauma: Verletzung mehrerer Organsysteme, die einzeln oder in Kombination lebensbedrohlich sind.

Becken-Komplextrauma: Verletzung des Beckenringes und / oder Acetabulums mit Begleitverletzung lokaler pelviner Organe.

Unter einem Komplextrauma des Beckens verstehen wir eine Verletzung des Beckenringes in Verbindung mit einer Zusatzverletzung pelviner Organsysteme. Der Begriff des Organsystems beinhaltet in diesem Fall die inneren Organe des kleinen Beckens (Urogenitalsystem, Darm), die Muskulatur / Weichteile der Region sowie die das Gebiet durchziehenden Nerven und Blutgefäße. Alle Systeme können durch Funktionsstörungen zu schweren Beeinträchtigungen der Lebensqualität führen, die Frage der lebensbedrohlichen Situation entscheidet sich aber in erster Linie durch Blutungskomplikationen. Die akute Gefährdung entsteht für den Patienten durch hohen Blutverlust, Schock und Schockfolgezustände.

Mechanisch instabile Verletzungstypen ohne Begleitverletzungen erfordern „nur" ein gutes unfallchirurgisches Wissen für eine exakte Diagnose- und Indikationsstellung der knöchernen Verletzungen. Oft besteht ausreichend Zeit, entsprechende Schritte zu planen. Bei den Komplextraumen ist das vielfach nicht der Fall. Sie sind in den meisten Fällen keine isolierten Verletzungen, sondern treten in hoher Zahl in Verbindung mit anderen schweren Verletzungen als Teil eines Polytraumas auf. Problematisch ist hierbei, dass die akute Bedrohung durch Schädel-Hirn-Trauma, Thoraxtrauma oder abdominelle Blutungen entweder offensichtlich ist oder die entsprechenden Befunde leicht und schnell zu erhalten sind, während dies für das Vorhandensein pelviner Begleitverletzungen nicht gilt. Somit besteht die Gefahr, die Gefährdung des Patienten durch die Beckenverletzung zu unterschätzen und das Einsetzen adäquater Maßnahmen zu verschleppen.

Die Inzidenz des Komplextraumas bei instabilen Beckenringfrakturen

Seit 1998 laufen innerhalb der Arbeitsgruppe Becken II der DGU aktuelle Untersuchungen verschiedener Fragestellungen. Bisher sind 2569 Fälle eingebracht, darunter 227 Fälle (9%) von Komplextrauma mit einer Letalität von 22%.

Es liegen derzeit umfangreiche noch nicht publizierte Daten über die ersten 340 Patienten mit instabilen Beckenringverletzungen der Typen B und C vor. Die Daten zeigen, dass von 173 B-Verletzungen ungefähr jede neunte (12%, n=21) im Rahmen eines Komplextraumas auftritt, unter 167 C-Verletzten etwa jede dritte Beckenverletzung (34%, n=57). Die betroffenen Organe dieser 78 Fälle sind in Tab. 1 aufgelistet. Die Inzidenzen von 12% bzw. 34% liegen im Vergleich mit anderen Studien hoch und kommen wesentlich dadurch zustande, dass in dieser Statistik die stabilen A-Verletzungen nicht berücksichtigt sind. Auf der anderen Seite besteht der Großteil der A-Verletzungen aus harmlosen Frakturen, bei denen ernsthaft ein Komplextrauma auch nicht zu erwarten ist. Wenn man also davon ausgeht, dass ein Komplextrauma in der Regel mit einer instabilen Beckenverletzung vergesellschaftet ist, so zeigen diese Zahlen doch, in welcher Häufigkeit mit Komplextraumata bei den instabilen Verletzungstypen zu rechnen ist.

Die Lebensbedrohlichkeit eines Komplextraumas ergibt sich aus akuten Blutungskomplikationen, diese traten bei zumindest der Hälfte der Patienten auf, wenn man alleine die Kategorien „pelvine Gefäße" und „retroperitoneales Hämatom" zusammenfaßt.

Bei 39% der C-Verletzungen (65/167) und 21% der B-Verletzungen (21/173) wurden Notfalltherapien der Beckenverletzungen durchgeführt, die zum größten Teil aus Notfallstabilisierungen mittels Beckenzwinge oder Fixateur externe sowie Notfall-Laparotomien bei intraabdominellen oder intrapelvinen Begleitverletzungen bestanden. [Abb. 1]

Relevanz und Diagnostik der pelvinen Blutung

Die Primärbehandlung Schwerstverletzter muß sich unter anderem auf die Eindämmung bedrohlicher Blutungen und die Vermeidung eines Blutungsschocks fokussieren. Um in der konkreten Situation die richtige Entscheidung zu treffen, steht man vor dem Problem, die Blutungsschwere beim Beckentrauma korrekt einzuschätzen. In der Literatur werden verschiedene Definitionen für behandlungspflichtige Blutungsschwere angegeben, unter anderem bestimmte Mengen für den Gesamtblutverlust oder bestimmte Blutungsmengen pro Zeiteinheit (Trunkey 1983, Bone 1992). Beides ist nicht praktikabel, da bei größeren äußerlichen Blutungen die Menge ebenso schlecht zu schätzen ist wie bei nicht sicher messbaren Blutungen im Körperinneren. Die Abdomensonographie als Blutungsscreening hat bei der pelvinen Blutung nur begrenzten Wert. Die Blutung aus dem kleinen Becken ist primär nicht als freie intraabdominelle Flüssigkeit zu erkennen. Zu 90% entsteht die Blutung aus den venösen Venenplexus und/oder den Frakturflächen des hinteren Beckenringes. Durch verletzungebedingte Zerreißung der Kompartmentgrenzen breitet sich die Blutung primär im Retroperitonealraum sickernd nach proximal aus, bis sie sich von hier aus im weiteren Verlauf in das Abdomen durchwühlt und als intraabdominelle Flüssigkeit zu erkennen ist. Wenn man sich auf diesen Blutungsnachweis verlässt, bedeutet das, dass wichtige Zeit verloren gegangen ist. Alternativ kann sich durch die nicht gestillte Blutung auch das Bild eines Becken- und abdominellen Kompartmentsyndroms entwickeln [1]. Der angiographische Blutungsnachweis ist vielfach ebenfalls nutzlos. Prinzipiell bietet die Angiographie zwar die Option, auf angiographischem Wege blutende Gefäße zu embolisieren, jedoch sind arterielle Blutungen nur in 10% für schwere Blutungen aus dem kleinen Becken verantwortlich, und selbst in diesen Fällen ist die Methode nicht sicher effektiv. Dazu kommen ebenfalls der Zeitverlust bis zur Diagnose und die eingeschränkte Verfügbarkeit der Untersuchung.

Letztlich ist der direkte Blutungsnachweis apparativ schwierig zu erbringen, der konkrete Blutverlust kaum zu bestimmen. Wenn erst Transfusionsbedarf besteht, ist oft schon viel wertvolle Zeit verstrichen. Cryer wies in einer Untersuchung an 245 Fällen nach, dass alleine das Vorliegen einer laut Rö-Beckenübersicht instabilen C-Verletzung mit 90%iger Wahrscheinlichkeit bedeutete, dass 30 - 50% der Patienten mehr als 10 Blutkonserven benötigen würden [2]. Aus anderen retrospektiven Auswertungen ist bekannt, dass sich hinsichtlich der Letalität eine beckenringbedingte Blutung mit einem Hb < 8 mg/dl als prognostisch relevant erwiesen hat [3]. Weiterhin ist bekannt, dass eine Beckenringstabilisierung das Beckenvolumen und somit das potentielle Einblutungsvolumen reduziert (Zitat Vrahas). Das Ziel unserer Bemühungen muß daher sein, solche Beckenfrakturen früh einer stabilisierenden und blutungsstillenden Therapie zuzuführen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit größeren pelvinen Blutungen einhergehen.

Entscheidungsfindung in der Akutsituation

Bei der insgesamt selbst in größeren Zentren im klinischen Alltag doch geringen Absolutzahl von Becken-Komplextraumata und der Heterogenität der Begleitverletzungen eines derartigen Patientengutes ist es kaum vorstellbar, in prospektiven randomisierten Studien unterschiedliche Behandlungsschemata zu evaluieren. Aus klinischem Wissen und retrospektiven Studien heraus lassen sich bestimmte Schlussfolgerungen ableiten, die zu einem abgestuften Therapiekonzept führen:

- Unter 340 Patienten mit instabilen Beckenringfrakturen aus der aktuellen Auswertung der AG Becken II der DGU wurden in 23% der Fälle Komplextraumata dokumentiert. Das Vorliegen einer partiell (Typ B) oder insbesondere einer komplett instabilen Beckenringfraktur (Typ C) ist grundsätzlich in einem hohen Prozentsatz mit einer Verletzung pelviner Weichteilstrukturen vergesellschaftet.

- Die unmittelbare Bedrohung des Patienten bei schweren Beckenverletzungen entsteht aus pelvinen Begleitverletzungen, insbesondere Blutungskomplikationen. Die Blutung entsteht in kleinen Becken und wühlt sich erst sekundär nach proximal und intraabdominell.

- Die pelvine Blutung entsteht nur in ca. 10 - 20% der Fälle arteriell, in 80 - 90% aus den Venenplexus und/oder den Frakturflächen.

- Für die Letalität einer Beckenverletzung hat sich in Studien hinsichtlich der Blutungsschwere retrospektiv eine beckenringbedingte Blutung mit einem Hb < 8 mg/dl als prognostisch relevant erwiesen.

- Verzögerte Indikationsstellung durch methodisch bedingt verspäteten Blutungsnachweis bei instabilen Beckenverletzungen ist für den Patienten vital bedrohlich.

- Das Vorgehen bei einer instabilen Beckenringverletzung richtet sich primär nach gängigen Polytrauma-Algorithmen. Unter Berücksichtigung anderer Blutungsquellen besteht bei mechanischer Instabilität des Beckens und hämodynamischer Instabilität die Indikation zum kombinierten Vorgehen. Sinnvoll ist die frühzeitige mechanische Stabilisierung des Beckenringes (in der Regel Beckenzwinge oder Fixateur externe, ggfs. auch ORIF, Extension) in Verbindung mit einer chirurgischen Blutungskontrolle [4] (Bauchtuch-Tamponade kleines Becken und selektive Blutstillung)


Literatur

1.
Trentz O, Bühren V, Friedl H (1989): Beckenverletzungen. Chirurg 60: 639 - 648.
2.
Cryer HM, Miller FB, Evers BM, Rouben LR, Seligson DL (1988): Pelvic fracture classification: correlation with hemorrhage. J Trauma 28 (7): 973 - 980.
3.
Pohlemann T, Culemann U, Gänsslen A, Tscherne H (1996): Die schwere Beckenverletzung mit pelviner Massenblutung: Ermittlung der Blutungsschwere und klinische Erfahrung mit der Notfallstabilisierung. Unfallchirurg 99 (10): 734 - 743.
4.
Pohlemann T, Gänsslen A, Bosch U, Tscherne H (1995): The technique of packing for control of hemorrhage in complex pelvic fractures. Tech Orthop 9 (4): 267 - 270.