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25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 14.09.2008, Düsseldorf

Bayerisches Modellprojekt Neugeborenen-Hörscreening in der Oberpfalz und Oberfranken

Vortrag

  • corresponding author Uta Nennstiel-Ratzel - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim, Deutschland
  • author presenting/speaker Inken Brockow - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim, Deutschland
  • author Jürgen Strutz - HNO-Klinik der Uni Regensburg, Regensburg, Deutschland
  • author Rüdiger von Kries - Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der LMU, München, Deutschland
  • author Manfred Wildner - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Düsseldorf, 12.-14.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. Doc08dgppV09

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2008/08dgpp09.shtml

Veröffentlicht: 27. August 2008

© 2008 Nennstiel-Ratzel et al.
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Zusammenfassung

Von einer angeborenen beidseitigen therapiebedürftigen Hörstörung ist etwa 1 von 1000 Neugeborenen betroffen. Ein universelles Neugeborenen-Hörscreeningprogramm soll sicherstellen, dass alle Neugeborenen mit geeigneten Testmethoden gescreent und alle Befunde abgeklärt werden (Tracking), um so eine vollständige und frühzeitige Erkennung der Hörstörungen und einen adäquaten Therapiebeginn möglichst im ersten Lebenshalbjahr zu gewährleisten. Ein Modellprojekt mit geeigneten logistischen Strukturen wurde in der Oberpfalz 2003 etabliert und 2006 auf Oberfranken ausgeweitet. In allen Geburts-und Kinderklinken in der Modellregion wird ein dreistufiges OAE- und BERA-Screening durchgeführt. Ein Screeningzentrum am Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) in Oberschleißheim übernimmt die Koordination des Screeningprozesses, die Sicherstellung der Vollständigkeit, das Tracking der auffälligen Befunde und die Qualitätssicherung. Insgesamt wurden 56.554 Neugeborene (etwa 95%) gescreent. Die Referrate bei Entlassung lag bei 2,0% (0,6% beidseitig). Über 97% der auffälligen Befunde wurden abgeklärt, 48% erst nach Intervention durch das Screeningzentrum. 38 Kinder (0,7‰) mit einer hochgradigen beidseitigen Hörstörung wurden in einem Durchschnittsalter von 5,5 Monaten diagnostiziert und die Therapie mit 5,9 Monaten begonnen. Die in dem Modellprojekt etablierten logistischen Strukturen ermöglichen ein effektives universelles Neugeborenen-Hörscreening.


Text

Einleitung

Von einer angeborenen, beidseitigen, therapiebedürftigen Hörstörung ist ca. 1 von 1000 Neugeborenen betroffen. Die Therapie (z.B. Versorgung mit einem Hörgerät) sollte bis zum 6. Lebensmonat begonnen werden, um eine regelrechte Sprachentwicklung zu ermöglichen [1]. In vielen Geburtskliniken in Deutschland wird schon seit längerer Zeit ein Neugeborenenhörscreening durchgeführt. Der Zeitpunkt der Diagnosestellung konnte nach einer bundesdeutschen Erhebung durch diese apparative Ausstattung alleine jedoch nicht gesenkt werden und liegt derzeit zwischen 21-47 Monaten [2]. Der wesentliche Grund sind fehlende logistische Strukturen zur Sicherstellung der Vollständigkeit und der Kontrolle auffälliger Screeningbefunde (Tracking). Um ein effektives und umfassendes Hörscreening zu erreichen, wurde im Mai 2003 in der Oberpfalz ein Modellprojekt eingeführt, das zu Beginn des Jahres 2006 auf den Regierungsbezirk Oberfranken ausgeweitet wurde.

Methode

Das Modellprojekt beruht auf einer engen Kooperation der Geburts- und Kinderkliniken, dem Screeningzentrum im Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) und den pädaudiologischen Einrichtungen in der Oberpfalz und in Oberfranken. Dabei wurden die Empfehlungen der interdisziplinären Konsensuskonferenz für das Neugeborenenhörscreening (IKKNHS) in vollem Umfang umgesetzt [1]. Wesentliche Elemente des Modellprojektes sind:

Zweistufiges Screening noch in der Geburtsklinik, d.h. otoakustische Emissionen (OAE)-Screening bei allen Neugeborenen mit Kontrollscreening bei auffälligem Befund mittels Screening-BERA (brainstem electric response audiometry). Durch die Kombination der beiden Methoden wird eine Sensitivität von >90% und eine Spezifität von ca. 98% erreicht [2]. Bei Kindern mit erhöhtem Risiko für therapiebedürftige Hörstörungen wie Frühgeburten oder Kindern mit postnataler Antibiotikatherapie soll primär eine BERA durchgeführt werden. Auffällige Befunde werden zunächst beim Kinder- oder HNO-Arzt kontrolliert (2. Stufe) und endgültig von Pädaudiologen oder HNO-Arzt mit phoniatrisch-pädaudiologischer Fachkompetenz abgeklärt (3. Stufe).

Übernahme der Logistik aus dem Stoffwechselscreening zur Sicherung hoher Prozessqualität durch das Screeningzentrum: Nach Aufklärung und Einwilligung der Eltern erfolgt die Sicherstellung der Vollständigkeit des Screenings durch Abgleich der Screeninglisten mit den Geburtsmeldungen in den Gesundheitsämtern, sofern die Eltern einer Datenübermittlung zugestimmt haben. Sehr wichtig ist das Tracking der auffälligen Befunde bis zur Diagnosesicherung oder bis zum definitiven Ausschluss einer therapierelevanten Hörstörung.

Projektbegleitend wird die Prozessqualität im LGL durch Erhebung der Screeningrate, Referrate, Rate der abgeklärten Befunde, Diagnosealter und notwendige Trackingmaßnahmen evaluiert. Für die Evaluation der Ergebnisqualität werden die im Modellprojekt entdeckten Kinder mit einer therapiebedürftigen angeborenen Hörstörung im Rahmen einer Langzeitstudie beobachtet.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 56.170 Kinder gescreent (etwa 95% der Neugeborenen). Nach Abschluss des Screenings waren die Befunde von 1121 (2,0%) Kindern kontrollbedürftig, 318 davon beidseitig (0,57%). Die Rate der kontrollbedürftigen Befunde war bei Niedergelassenen deutlich höher als bei einem stationären Screening (bds.: 5,9% vs. 0,5%). Bei 156 (48,1%) Kindern war ein individuelles Nachgehen des Screeningzentrums zur Abklärung des beidseitig kontrollbedürftigen Befundes mit telefonischer und schriftlicher Kontaktaufnahme (1184mal) bis hin zu Hausbesuchen durch das zuständige Gesundheitsamt (27mal) und Jugendamt (5mal) erforderlich. Dieses Vorgehen führte zur Abklärung von 98,2% der Befunde. Bei 37 Kindern (0,7‰) konnte beidseits eine therapiebedürftige Hörstörung nachgewiesen werden. Der Median lag bei endgültiger Diagnosestellung bei 4,6 Monaten (Spannweite 1-16, Mittelwert 5,4 Monate) und Therapiebeginn bei 5,6 Monaten (Spannweite 1-14, Mittelwert 5,9 Monate). Im Mittel vergehen 52 Tage (Spannweite 0 – 214 Tage) nach dem Screening bis das Kind zur Kontrolluntersuchung vorgestellt wird und drei weitere Monate bis zur Diagnosestellung. Ist die Diagnose gestellt, so wird die Therapie rasch begonnen (s. Abbildung 1 [Abb. 1]).

Diskussion

Das Ziel eines universellen Neugeborenen-Hörscreeningprogrammes ist es allen Neugeborenen das Screening anzubieten (Vollständigkeit) und alle therapierelevanten beidseitigen Hörstörungen frühzeitig zu diagnostizieren und einer adäquaten Therapie zuzuführen (Tracking). Diese Ziele konnten im Rahmen des Modellprojekts erreicht werden. Die Screeningrate mit insgesamt 95,3% der Neugeborenen ist in Anbetracht der vielen Randbezirke des Modellprojektes sehr hoch und ist im Laufe der Jahre konstant geblieben. Die Rate der kontrollbedürftigen Befunde (Refer-Rate) sind mit 2,0% (beidseitig 0,6%) durch das zweistufige Erstscreening niedrig. Allerdings ist die Referrate bei Niedergelassenen etwa 10mal so hoch wie bei einem stationären Screening. 37 Kinder (0,7‰) mit einer beidseitigen therapiebedürftigen Hörstörung wurden entdeckt. Dies entspricht in etwa der Prävalenz in anderen Modellprojekten (2). Obwohl der Zeitraum zwischen Krankheitsverdacht im Screening und Kontrolluntersuchung und endgültiger Diagnosestellung zu lang ist, konnte bei den meisten Kindern ein Therapiebeginn vor dem 6. Monat erreicht werden. Die Durchführung der notwendigen Kontrolluntersuchungen erfolgte in 48% der Fälle erst nach Aufforderung durch das Screeningzentrum. Das heißt, ohne ein Tracking durch ein Screeningzentrum könnten ein Drittel der betroffenen Kinder trotz eines universellen Hörscreenings nicht frühzeitig therapiert werden.


Literatur

1.
Interdisziplinäre Konsensuskonferenz für das Neugeborenen-Hörscreening. Universelles Hörscreening bei Neugeborenen: Empfehlungen zur Organisation und Durchführung des universellen Neugeborenen-Screenings auf angeborene Hörstörungen in Deutschland. HNO. 2004;52(11):1020-7.
2.
IQWiG. Früherkennungsuntersuchungen von Hörstörungen bei Neugeborenen. Abschlussbericht S05-01. Köln: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG); Februar 2007.