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25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 14.09.2008, Düsseldorf

Einsatz von AABR-Verfahren im Neugeborenen Hörscreening (NHS) in Marburg – Erfahrungen und Perspektiven

Use of AABR-systems for Newborn Hearing Screening (NHS) in Marburg – Experiences and Perspectives

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Düsseldorf, 12.-14.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. Doc08dgppV08

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2008/08dgpp08.shtml

Veröffentlicht: 27. August 2008

© 2008 Berger et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Im Rahmen von Studien wurden in Vorbereitung zur Einführung eines NHS unterschiedliche Screening Geräte durch Mitarbeiter der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie in Geburtskliniken erprobt. Diese Untersuchungen erfolgten mit dem Ziel, Empfehlungen für die flächendeckende Einführung eines NHS aussprechen zu können. Dazu erfolgten Bewertungen unterschiedlicher AABR-Verfahren bezüglich der Handhabung, zur Bearbeitungs- und Messzeit sowie Berechnungen zur Spezifität. Mit dem von uns erprobten AABR-Verfahren MB11 mit BERAphon konnte beim 1. Messdurchgang eine Spezifität von 98% ermittelt werden, die Messzeit betrug im Durchschnitt 30 sec. Diese Ergebnisse waren die Grundlage für den routinemäßigen Einsatz dieses AABR-Verfahrens im NHS.

Inzwischen können wir auf eine über 7-jährige Erfahrung in der Durchführung des NHS verweisen. Von ca. 2500 Kindern liegen Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Hörfähigkeit vor. Zusätzlich können wir zu möglichen prä-, peri-, und postpartalen Risikofaktoren Angaben vorweisen, die durch Erhebung entsprechender anamnestischer Daten ermittelt wurden.

Durch eigene Studien wollen wir anhand der Parameter Messzeit, Reizpegel und Reizsignal die fortschreitende Entwicklung im Einsatz von AABR-Verfahren darstellen.

Ein qualitätsgesichertes Hörscreening erfordert eine Datenanbindung an ein Screening-Zentrum. Damit kann die Ermittlung einer exakten Diagnostik sowie die Einleitung, der sich daraus ergebenen rehabilitativen Maßnahmen, kontrolliert werden. In jüngster Zeit wurde bei dem von uns benutzten AABR-Verfahren die Datenanbindung an das Screeninig-Zentrum erprobt. Die Datenweiterleitung erfolgte problemlos, bei insgesamt leicht zu bedienender Technik.


Text

Die vom September 2002 bis Februar 2003 durchgeführte Studie, diente der Erprobung eines BERA Screening-Verfahrens für den Einsatz im Neugeborenen Hörscreening. Innerhalb von 4 Tagen nach der Geburt wurden insgesamt 168 Kinder beidohrig gescreent. Diese Untersuchung ergab, dass sich der 2. Tag nach Geburt für das NHS am besten eignet. Die in dieser Studie ermittelte Spezifität von 97,8% beim 1. Messdurchgang war Grundlage für die Entscheidung zum routinemäßigen Einsatz des MB11 mit BERAphon. Seit dem Jahre 2003 führen wir ein systematisches NHS durch, was anfänglich nur in der Universitäts-Frauenklinik stattfand, seit 2006 auch in der Neonatologie der Universitäts-Kinderklinik. Die Wahl, ein AABR Verfahren zu nutzen, hat sich als richtig erwiesen, denn inzwischen besteht weltweit Einigkeit darüber, dass bei der alleinigen Anwendung von otoakustischen Emissionen Kinder mit auditorischen Neuropathien nicht erfasst werden können.

Unsere interne Statistik belegt, dass die Akzeptanz für das NHS von Jahr zu Jahr verbessert werden konnte. Dies lässt sich an Hand der von uns gescreenten Kinder zu den Geburtszahlen der Stadt Marburg belegen. So wurden im Jahre 2003 20% der geborenen Kindern von uns gescreent (379 von 1901 Geburten), fortlaufend erhielten 2004 35% (666 von 1938 Geburten), 2005 65% (1249 von 1854 Geburten) und im Jahre 2006 68%, also von 1854 geborenen Kindern 1265 Babys ein Hörscreening. Bis August 2007 wurden 73% der Neugeborenen gescreent. (Statistik beinhaltet ausschließlich Kinder, die in der Geburtsklinik der Universität Marburg geboren wurden). Inzwischen haben über 4500 Neugeborene ein NHS mit dem MB11 mit BERAphon erhalten.

Die Messzeiten des Hör-Screenings betrugen im Jahr 2002 im Durchschnitt 45 sec für jedes Ohr, bei einer Gesamt-Untersuchungszeit für beide Ohren von 7,30 min. Bis Februar 2006 wurde das Hör-Screening mit einem Reizpegel von 40 dB durchgeführt, ab März 2006 wird routinemäßig mit 35 dB gescreent. Trotz geringerem Reizpegel hat sich die Untersuchungszeit nicht verlängert, sondern sogar auf durchschnittlich 30 sec verkürzt. Diese schnellen Untersuchungszeiten lassen sich auf die neuen Chirp-Reize (CE-ChirpTM Stimulus (CECTM) zurückführen.

Im Konsensuspapier unserer Fachgesellschaft wird gefordert, dass bis zum dritten Monat nach Geburt eine Diagnose gestellt werden soll. Wir haben unsere interne Datenbank nach diesem Kriterium überprüft (systematische Datenerhebung erfolgt seit 2005). Von den 2345 gescreenten Babys, die im Rahmen des Follow up vorgestellt wurden, konnte bei allen Kindern die Diagnose vor Ablauf von 3 Monaten gesichert werden. In der vorgestellten Statistik befinden sich zu einem kleinen Anteil auch Kinder, bei denen wir das NHS als „Primärscreening“ durchführten.

  • <10 Tagen 1429 Kinder;
  • <30 Tagen 172 Kinder;
  • <60 Tagen 268 Kinder;
  • <85 Tagen 476 Kinder.

Bei 404 dieser Kinder war bei Erstuntersuchung ein auffälliges Ergebnis ermittelt worden. Davon hatten 145 Kinder einen gesicherten Hörverlust. In unserem Patientengut konnten also innerhalb der letzten 3 Jahre 6,2% schwerhörige Kinder durch das NHS frühzeitig diagnostiziert werden. Die Anzahl der schwerhörigen Kinder entspricht damit der bisher nur geschätzten Häufigkeit von angeborenen Hörstörungen. Durch das NHS wird es möglich schneller als bisher auch Kinder mit gering- und mittelgradigem Hörverlust zu erfassen. Auf Grund der Diagnosestellung unter 3 Monaten werden rehabilitative Maßnahmen zeitiger eingeleitet.

Die ermittelten Schwerhörigkeiten teilen sich in unterschiedliche Schweregrade und Formen auf, 116 Kinder mit Schallempfindungsschwerhörigkeiten und 29 Kinder mit Schalleitungsschwerhörigkeiten bei teilweise syndromalen Störungen. Der Schweregrad des ermittelten Hörverlustes umfasst: 4 Resthörigkeiten, 49 hochgradige Schwerhörigkeiten, 59 mittelgradige Schwerhörigkeiten und 33 geringgradige Schwerhörigkeiten. 93 Kinder erhielten eine Hörgeräteversorgung, die Kinder mit Resthörigkeit wurden ein- oder beidseitig mit CI’s versorgt.

Im Rahmen einer weiteren Studie, die von September 2005-April 2006 durchgeführt wurde, ermittelten wir bei high risk und risk-Babys Risikofaktoren, von denen wir ursächliche Zusammenhänge für erworbene Hörstörungen erwarteten.

Von insgesamt 151 Kindern wurden komplette Datensätze zur Hörfähigkeit und der vorliegenden Risikofaktoren ausgewertet. Die Risiko-Faktoren wurden hinsichtlich der prä-, peri-, und postpartalen Risikofaktoren erfasst.

1.
pränatal: 1. Blutungen während der Schwangerschaft, 2. Infektionskrankheiten der Mutter (Toxoplasmose, Röteln CMV, Herpes), 3. Medikamenteneinnahme (Antibiotika, Hypertonika, Antidiabetika, Schilddrüsenpräparate, Virustatika, Tokolyse).
2.
perinatal: 1. Art der Geburt vaginal/Sectio, 2. Geburtstermin (<32. SSW, => 32. SSW–37.SSW), 3. Apgar bei 1, 5, 10 min., 4. Asphyxie (Bewertung erfolgte aus dem ph Wert des Nabelschnurblutes (Norm von 7,22); ph <7,10 entspricht einer schweren Asphyxie), 5. Geburtsgewicht: extrem untergewichtig <1000 g (extremely low birth infants (ELBW) ); sehr untergewichtig <1500 g (very low weight infants (VLBW)); untergewichtig <2500 g (low birth weight infants (LBW)), 6. Fototherapie in Tagen infolge erhöhter Serumbilirubinwerte, 7. Atemnotsyndrom (respiratory distress syndrom (RDS)), 8. Hirnblutung, 9. Neugeboreneninfektion (NGI) bis 9.Tag, 10. Antibiotikagabe, 11. maschinelle Beatmung in Tagen.
3.
postpartal: 1. Infektionen (Meningitis, Sepsis, sonstiges), 2. Medikamentengabe >10Tage, 3. Syndromerkrankung Kind

Zusätzlich wurden Angaben zu familiärer angeborener oder syndromaler Hörstörung erhoben

30% der von uns untersuchten „high risk babies“ wurden unter der 32 SSW geboren und waren entsprechend sehr untergewichtig (VLBW)“ bzw. extrem untergewichtig (ELBW). Als mögliche Ursachen einer Frühgeburt werden neben Infektionen im Zusammenhang mit vorzeitigem Wehenbeginn auch Mehrlings-Schwangerschaften oder eine Zervix-Insuffizienz diskutiert. In unserem Patientengut wurden 30% der Mütter wegen vorzeitiger Wehen medikamentös behandelt und bei15% lag eine Virusinfektion während der Schwangerschaft vor. Bei insgesamt 4 der Kinder (2%) ergab sich ein gesicherter Hörverlust bds. Bei diesen Kindern mussten die Mütter während der Schwangerschaft mit Medikamenten behandelt wurden bzw. erhielten eine Tokolyse. Des weiteren zeigte sich, dass die Kindern mit Schwerhörigkeit wegen einer Neugeboreneninfektion mit Antibiotika behandelt werden mussten, dass eine Fototherapie wegen eines erhöhten Bilirubinwerts erfolgte und dass ein extrem niedriges Geburtsgewicht zu finden war. Weitere Untersuchungen zur Abklärung ursächlicher Zusammenhänge sind erforderlich.

Im Rahmen von aktuellen Studien zur Erprobung neuer Chirp Reize konnte nachgewiesen werden, dass die Untersuchungszeiten zwischen 30–40 sec bei sehr hoher Spezifität lagen. Diese Ergebnisse haben dazu beigetragen, dass nun das MB11 routinemäßig mit den neuen Reizen ausgestattet werden konnte.

Um die Vorgaben eines qualitätsgesicherten Hörscreenings zu erfüllen ist die Datenanbindung an ein Screening- und Trackingzentrum erforderlich. Das MB11 bietet über Hi-track und mittels Internetschnittstelle eine Möglichkeit der Datenweiterleitung an. Die Erprobung der Datenübermittlung gestaltete sich problemlos, bei insgesamt leicht zu bedienende Technik.


Literatur

1.
Berger R, Müller J, Stürzebecher E, Cebulla M. Einsatz des objektiven BERA-Verfahrens (MB11) beim Neugeborenen-Hörscreening in Marburg. Suppl.7. Jahrestagung DGA Leipzig; 2004. ISBN 3-9809869-3-4
2.
Berger R, Stegmann H, Müller J, Hanschmann H. AABR-Screening bei Hochrisiko-und Risikokindern mit dem ALGO® 3i-System. In: Aktuelle phoniatrisch pädaudiologische Aspekte Bd.13; 2006. Externer Link
3.
Cebulla M, Stürzebecher E, Elberling C, Müller J. Click-like Stimuli for Hearing Testing. J Am Acad Audiol. 2007;(18):727-40.