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100 Jahre Phoniatrie in Deutschland
22. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
24. Kongress der Union Europäischer Phoniater

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

16. bis 18.09.2005, Berlin

Oralmotorische Fähigkeiten und Auffälligkeiten bei Frühgeborenen und Neugeborenen im Vergleich

Orofacial abilities and disabilities comparing premature infants and healthy neonates

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Oliver Goldschmidt - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen am Universitätsklinikum der RWTH Aachen, Aachen, Deutschland
  • author Jana Mündelein - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen am Universitätsklinikum der RWTH Aachen, Aachen, Deutschland
  • author Klaus Willmes - Lehr- und Forschungsgebiet Neuropsychologie am Universitätsklinikum der RWTH Aachen, Aachen, Deutschland
  • author Christiane Neuschaefer-Rube - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen am Universitätsklinikum der RWTH Aachen, Aachen, Deutschland

100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05dgppV07

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2005/05dgpp061.shtml

Veröffentlicht: 15. September 2005

© 2005 Goldschmidt et al.
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Zusammenfassung

Die pränatale Entwicklung des Saugens beginnt ab der 9. Gestationswoche (GW) mit Bewegungen des Mundes und des Unterkiefers. Trinken von Fruchtwasser gelingt dem Foetus ab der 12. GW, erstes Saugen zeigt sich ab der 24. GW, eine funktionelle Koordination des Saugens ist ab der 32. GW möglich. Postnatal unterscheidet man nahrungsbezogenes und nicht nahrungsbezogenes Saugen. In Deutschland steht im Vergleich zum angloamerikanischen Raum nur wenig Literatur und kein einheitliches Diagnostik- bzw. Therapiekonzept zur Beurteilung von frühkindlichen Essstörungen zur Verfügung. Anhand eines modifizierten Beobachtungsbogens von M. Meyer Palmer, der "Neonatal Oralmotor Assessment Scale" (NOMAS 1993), wurden am Universitätsklinikum Aachen Videoaufnahmen des Saugvorgangs bei einer Gruppe von je 25 Neu- (Gestationsalter bei Geburt 37-42 Wochen) und 25 Frühgeborenen (<25-36 Wochen) beurteilt und ausgewertet. Ergebnisse: Das Gestations- und Lebensalter sowie die allgemeinen Pathologien der Kinder hatten keinen Einfluss auf das Saugverhalten. Unterschiede im Saugverhalten ließen sich bzgl. der Ernährungsart (Trinkflasche, Brust) und des Geschlechtes der Kinder aufzeigen. Dabei fielen die frühgeborenen Mädchen vor allem im Vergleich zur weiblichen Kontrollgruppe wie auch im Vergleich zu den frühgeborenen Jungen durch vermehrte arrhythmische Kieferbewegungen auf. Bei den frühgeborenen Jungen zeigte sich im Vergleich zu den Jungen der Kontrollgruppe ein häufigeres Ermüden beim Saugen.


Text

Einführung

Im phoniatrisch-logopädischen Alltag fallen in der Diagnostik immer wieder Kinder mit Störungen bei der Nahrungsaufnahme auf (orofaziale Dysfunktion, sensorisch-bedingte Essstörungen). In dieser Patientengruppe sind die ehemals frühgeborenen Kinder überrepräsentiert. Die moderne intensivmedizinische Versorgung lässt in der Zukunft eher eine Zunahme der Überlebensrate in dieser Risikogruppe und somit eine Häufung der mit der Frühgeburtlichkeit verbundenen Spätfolgen erwarten. In der vorliegenden Studie sollten deswegen die Unterschiede des Saugverhaltens bei Frühgeborenen zu reifen Neugeborenen und mögliche Einflussfaktoren, die zu oralmotorischen Auffälligkeiten, führen analysiert werden, da in Deutschland (im Vergleich zum angloamerikanischen Raum) nur wenig Literatur und kein einheitliches Diagnostik- bzw. Therapiekonzept zur Beurteilung von frühkindlichen Essstörungen zur Verfügung stehen. Das fetale Schlucken beginnt mit oralmotorischen Bewegungen, die bereits in utero beim Feten nachgewiesen werden können. Die pränatale Entwicklung der dem späteren Saugvorgang zugrunde liegenden motorischen Fähigkeiten zeigt sich ab der 9. Gestationswoche (GW) mit Öffnungs- und Schließ-Bewegungen des Mundes und des Unterkiefers. Trinken von Fruchtwasser gelingt dem Fötus ab der 12. GW und erstes Saugen zeigt sich ab der 24. GW. Eine funktionelle Koordination von Saug- und Schluckbewegungen ist erst ab der 32. GW möglich (Trinken von Fruchtwasser). Es bestehen somit Hinweise, dass bereits vor Abschluss der Reifung ein intrinsisches oralmotorisches Programm zur Steuerung von Saug- und Schluckvorgängen existiert, welches durch eine vorzeitige Geburt und die unnatürlichen technisch-medizinischen Umgebungsbedingungen in seinen natürlichen Optimierungsprozessen unterbrochen werden kann. Postnatal erkennt und unterscheidet man zudem bei allen Neugeborenen nahrungsbezogenes (Ernährung) und nicht nahrungsbezogenes Saugen (Beruhigung, Anregung der gastrointestinalen Funktionen, Befriedigung der oralen Reflexe).

Material und Methoden

Für die Studie fanden auf der Geburts- bzw. Frühgeborenenstation des Universitätsklinikums der RWTH Aachen im Zeitraum vom 01.08.2004 bis zum 09.11.2004 die Untersuchungen von insgesamt 50 Probanden während der regulären postnatalen Klinikaufenthalte statt. Anhand eines ins Deutsche übersetzten und teilweise zur Erleichterung der statistischen Auswertung modifizierten Beobachtungsbogens in Anlehnung an die „Neonatal Oralmotor Assessment Scale" (NOMAS 1993) von M. Meyer Palmer [16] wurden digitale Videoaufnahmen des Saugvorgangs bei einer Gruppe von je 25 Neugeborenen (Gestationsalter bei Geburt 37-42 Wochen) und 25 Frühgeborenen (Gestationsalter bei Geburt 25-36 Wochen) beurteilt (Abbildung 1 [Abb. 1]). Zur Objektivierung der Ergebnisse wurden diese Videoaufnahmen durch drei Beurteiler unabhängig von einander ausgewertet. In den Videoaufnahmen wurde das Trinkverhalten während der ersten 3-5 Minuten des Fütterns aufgenommen, wobei vorrangig Mundpartie und Sauger bzw. Brust herangezoomt wurden, um möglichst identisches und vergleichbares Filmmaterial zu erhalten. Zur statistischen Auswertung der Ergebnisse wurden mehrere prüfstatistische Verfahren eingesetzt, bei denen es sich vorwiegend um nichtparametrische Methoden (Mann-Whitney U-Test, Fisher-Test, Rangkorrelation) sowie um Varianzanalysen handelt. Alle Berechnungen wurden mittels des Softwareprogramms SPSS 12.0 für Windows durchgeführt.

Ergebnisse

Die Ausgangshypothese, dass sich die oralmotorischen Bewegungsmuster von Früh- und reifen Neugeborenen unterscheiden, konnte gestützt werden. Generell zeigten die Frühgeborenen häufiger unrhythmische Kieferbewegungen und ermüdeten öfter beim Saugen als die reifen Neugeborenen. Das (korrigierte) Gestations- und Lebensalter sowie die allgemeinen Pathologien der Kinder hatten keinen Einfluss auf das Saugverhalten. Bzgl. der allgemeinen Pathologien ließen sich bei den untersuchten Kindern anhand der Anamnese oder als noch akut bestehende Erkrankungen z.B. Hyperbilirubinämie, pulmonale Anpassungsstörungen, persistierender fetaler Blutkreislauf, Apnoen und Respirationsprobleme häufiger in der Gruppe der Frühgeborenen als bei den Kontrollprobanden dokumentieren. Unterschiede im Saugverhalten ließen sich bzgl. der Ernährungsart (Trinkflasche vs. Brust) und des Geschlechtes der Kinder aufzeigen. Dabei zeigten sich Einflüsse der Art der Ernährung (Flasche, Brust, ergänzende Sondenernährung) auf die oralmotorisch untersuchten Fähigkeiten derart, dass die gestillten Studienprobanden im Vergleich zu den anderen Kindern weniger Fehlerpunkte im Beobachtungsbogen NOMAS erreichten. Bzgl. des Geschlechts der Kinder fielen die frühgeborenen Mädchen sowohl im Vergleich zur weiblichen Kontrollgruppe als auch im Vergleich zu den frühgeborenen Jungen durch vermehrte unrhythmische Kieferbewegungen auf. Bei den frühgeborenen Jungen zeigte sich im Vergleich zu den Jungen der Kontrollgruppe ein häufigeres Ermüden beim Saugen. Innerhalb der Kontrollgruppe ergaben sich bis auf eine Tendenz, dass Mädchen in der Bewertung mit dem Beobachtungsbogen NOMAS eher mehr Fehlerpunkte bzgl. Kieferbewegung und Ermüdung aufwiesen, keine statistisch besonders hervorzuhebenden geschlechtsspezifischen Unterschiede.

Diskussion

Die vorgestellte Aachener Studie konnte wie auch die Arbeitsgruppen um Bu'Lock et al. 1990 [5], Meyer Palmer und VandenBerg 1998 [17] und Gewolb et al. 2001 [7] nachweisen, dass frühgeborene Kinder im Vergleich zu reifen Neugeborenen in ihrer oralmotorischen Entwicklung Schwächen (unrhythmische Kieferbewegungen und Ermüdung beim Saugen) zeigen (Abbildung 2 [Abb. 2]). Bzgl. des Gestations- und Lebensalters und den oralmotorischen Parametern bestehen in der Fachliteratur Kontroversen darüber, welche oralmotorischen Fähigkeiten postnatal erlernt werden bzw. angeboren sind [15], [11]. Bei unseren Probanden konnten wir diesbezüglich keine statistisch zu belegenden Korrelationen bzw. Unterschiede aufzeigen. Probleme bei der Nahrungsaufnahme durch Vorliegen allgemeiner Pathologien konnten im Gegensatz zu anderen Studien [1], [18] nicht nachgewiesen werden, wobei die Aachener Probanden - entsprechend der gewählten Einschlusskriterien - zum Zeitpunkt der Untersuchung als medizinisch stabil galten und keine zusätzlichen schwerwiegenden (insbesondere keine neurologischen) Diagnosen aufwiesen. In der entsprechenden Literatur wird von den meisten Autoren bzgl. der Art der Ernährung das Stillen favorisiert. Bessere oralmotorische Fähigkeiten konnten auch bei unseren gestillten Probanden festgestellt werden, wobei diese Kindern vor allem der gesunden, reifen Kontrollgruppe zuzuordnen waren. Im Vergleich mit der Literatur gibt es Übereinstimmungen bzgl. des Saugverhaltens, dass die Sensomotorik bei Mädchen prä- und postnatal ausgeprägter ist [20], [10]. Vergleichend mit unseren Ergebnissen wäre als Begründung für dieses Phänomen die hormonbedingt stärkere, schneller ermüdende Muskulatur bei den Jungen (Testosteron) im Gegensatz zur Hypotonie und gesteigerten Sensorik mit überschießenden, unrhythmischen Bewegungen bei den Mädchen (Östrogene) ein nach wie vor in Folgestudien zu belegender Erklärungsansatz.


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