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100 Jahre Phoniatrie in Deutschland
22. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
24. Kongress der Union Europäischer Phoniater

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

16. bis 18.09.2005, Berlin

Die Moderierung elterlichen Belastungserlebens im Laufe der kindlichen Hör- und Sprachrehabilitation

The mediating of parental distress in the course of children's hearing and speech rehabilitation

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Thorsten Burger - Universitätsklinik Freiburg, Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO, Freiburg, Deutschland
  • author Susanne Eißele - Universitätsklinik Freiburg, Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO, Freiburg, Deutschland
  • author Claudia Spahn - Universitätsklinik Freiburg, Psychosomatik und Psychotherapie, Freiburg, Deutschland
  • author Bernhard Richter - Universitätsklinik Freiburg, Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO, Freiburg, Deutschland
  • author Erwin Löhle - Universitätsklinik Freiburg, Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO, Freiburg, Deutschland

100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05dgppP03

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2005/05dgpp057.shtml

Veröffentlicht: 15. September 2005

© 2005 Burger et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Die empirischen Befunde zum Ausmaß, der Art und der Moderierung der elterlichen Belastung im Kontext der kindlichen Schwerhörigkeit sind bislang uneinheitlich und zum Teil widersprüchlich. Dafür wird als wichtigste Ursache betrachtet, dass lediglich querschnittliche Untersuchungen vorliegen.

Auf den letzten Jahrestagungen der DGPP stellten wir Zwischenergebnisse einer mehrjährigen Längsschnittuntersuchung vor, in deren Rahmen die psychische Belastung der Eltern und eventuell moderierende Variablen im Kontext der unterschiedlichen Behandlungsphasen der Kinder untersucht werden. Belastung, Lebensqualität, soziale Unterstützung und Familienmerkmale wurden anhand standardisierter Instrumente erhoben. Es konnten von 66 Eltern CI-versorgter Kinder und von 55 Eltern hörgeräteversorgter Kinder Daten gewonnen werden. Die wichtigsten Endergebnisse:

Zusammenfassend betrachtet wurde gefunden, dass Theoriemodelle zur Krankheitsbewältigung des Einzelnen auch auf die familiäre Verarbeitung kindlicher Schwerhörigkeit übertragbar sind: Sowohl personale wie auch soziale und familiäre Ressourcen vermögen im Laufe der kindlichen Behandlung Lebensqualität zu erhöhen und Belastung zu reduzieren.

Daraus können wichtige Konsequenzen für den Versorgungs- und Beratungsalltag abgeleitet werden.


Text

Einleitung

Die Diagnose einer kindlichen Hörstörung kann als kritisches Lebensereignis aufgefasst werden, das auch von den Eltern einen Prozess der Verarbeitung erfordert.

In dem Krankheitsfolgenmodell der WHO [1] wird die Auswirkung einer Gesundheitsschädigung auf die Aktivität und die gesellschaftliche Partizipation theoretisch verankert. Im darauf aufbauenden „Theoriemodell der Rehabilitation" (Gerdes & Weis, 2000) werden die Beeinflussungsfaktoren stärker fokussiert und dabei der Bewältigungsprozess konzeptionalisiert. Dieser wird von psychischen und sozialen Ressourcen- bzw. Moderatorvariablen geprägt.

Die Modelle zur familiären Behinderungsverarbeitung (vgl. [2]) entsprechen im Grunde einer Erweiterung dieser individuumszentrierten Sicht auf eine familiäre Betrachtungsweise - verkürzt dargestellt: Die Behinderung eines Kindes korrespondiert mit psychischer Belastung der Eltern. Die Ausprägung wird durch verfügbare Ressourcen (sozial bzw. innerpsychisch) moderiert.

Die empirische Befundlage im Kontext der kindlichen Schwerhörigkeit ist hierzu bislang wenig eindeutig. Es gibt Hinweise für den Einfluss der sozialen Unterstützung [3] und elterlichen Selbstwertgefühls [4] auf die psychische Belastung; hinsichtlich des Copings und familiärer Merkmale sind die Befunde widersprüchlich.

Methode

Ziele: Es soll der Zusammenhang zwischen theoretisch postulierten potentiellen Moderatorvariablen und der elterlichen psychischen Belastung und Lebensqualität untersucht werden.

Durchführung und Stichprobe: Es wurden über 18 Monate zwei Untersuchungsgruppen konsekutiv rekrutiert: Eltern, deren Kind als hörgeschädigt diagnostiziert und mit Hörgeräten (HG) erstversorgt wurde und Eltern, die sich mit ihrem Kind zur Cochlea-Implant (CI)-Voruntersuchung vorstellten.

Insgesamt konnten von N=68 Elternteilen (von N=37 CI-Kindern) und N=56 Elternteilen (von N=31 HG-Kindern) Daten gewonnen werden. Die Geschlechtsverteilung der Eltern ist in beiden Gruppen homogen (CI: Mütter: 53%; HG: Mütter: 52%).

Messinstrumente: Die psychische Belastung der Eltern wurde anhand der SCL-90-R [5] und die Lebensqualität anhand des Fragebogens ALLTAG [6] erhoben.

Als Moderatorvariable wurde das elterliche Coping bzw. die Krankheitsverarbeitung mittels des „Freiburger Fragebogens zur Krankheitsverarbeitung; FKV" [7] und des „Coping Health Inventory for Parents; CHIP" [8] erhoben. Die soziale Unterstützung wurde mittels des F-SOZU [9] erfasst; die familiären Merkmale wurden durch den „Familien-Identifikations-Tests; FIT" [10] und die „Familienklimaskalen; FKS" [11] erhoben.

Auswertungsstrategien: Für die Fragestellung, welche Moderatorvariablen einen signifikanten Varianzanteil an der psychischen Belastung bzw. der Lebensqualität aufklären, wurden multiple Regressionsanalysen berechnet. Dabei wurde jeweils getrennt nach Untersuchungsgruppe die psychische Belastung bzw. die Lebensqualität als Kriteriumsvariable und sämtliche Moderatorvariablen (die Einzelskalen der eingesetzten Instrumente) als Prädiktorvariablen eingegeben.

Ergebnisse

Die CI-Eltern: Zur Varianzaufklärung der psychischen Belastung tragen die Variablen „soziale Unterstützung" und die Skala „FIT-Selbstkongruenz" signifikant (p<0.01) bei. Insgesamt können 63% der Varianz aufgeklärt werden.

Diese beiden Variablen klären auch die Varianz der Lebensqualität mit signifikantem Anteil auf. Insgesamt können 40% erklärt werden. Die Vorzeichen der Beta-Gewichte zeigen, dass hohe Selbstkongruenz und gute soziale Unterstützung mit niedriger psychischer Belastung und höherer Lebensqualität korrespondieren.

Die HG-Eltern: „FKV-Depressives Coping" klärt mit 31% als einzige Variable einen signifikanten Varianzanteil elterlicher psychischer Belastung auf; die Selbstkongruenz mit 22% einen signifikanten Anteil der Lebensqualität. Die Vorzeichen der Beta-Gewichte zeigen, dass erhöhtes depressives Coping mit höherer psychischer Belastung und höhere Selbstkongruenz mit höherer Lebensqualität korrespondieren.

Diskussion

Insgesamt bestätigen die Ergebnisse die oben beschriebenen Theoriemodelle mit der Bedeutung der sozialen Unterstützung und psychischen Ressourcen für die Krankheits- bzw. Behinderungsverarbeitung. Auffallend ist allerdings, dass die soziale Unterstützung für die Eltern der HG-Kinder eine geringere Rolle spielt. Als mögliche Erklärung wird vermutet, dass für diese Versorgungsgruppe die Diagnose noch vergleichsweise frisch ist und damit noch keine (eventuellen) Veränderungen oder Reorganisationen in den sozialen Bezügen der Familien stattfinden konnten.

Zusätzlich geben sie Hinweise für mögliche Inhalte psychosozialer Unterstützungsangebote für Eltern hörgeschädigter Kinder. Die Bedeutung der Selbstkongruenz verdeutlicht die Wichtigkeit, Eltern in ihrem Kompetenzerleben und ihrer wahrgenommenen Selbstwirksamkeit zu unterstützen. Die Bedeutung der sozialen Unterstützung veranlasst, Anzeichen von beginnender sozialer Isolierung zu erkennen und gegebenenfalls entsprechend zu intervenieren und Netzwerkbildungen - evt. unter Mitbetroffenen - zu fördern.


Literatur

1.
WHO. International Classification of Functioning, Disability and Health. Genf: 54th WHO Assembly, May 2001.
2.
Thompson, R. J., Gustafson, K. E., Hamlett, K. W. & Spock, A. (1992). Stress coping and family functioning in the psychological adjustment of mothers of children and adolescents with cystik fibrosis. Journal of Pediatric Psychology, 17, 573-585.
3.
Quittner, A. L., Glueckauf, R. L. & Jackson, D. N. (1990). Chronic parenting stress: moderating versus mediating effects of social support. Journal of Personality and Social Psychology, 59, 1266-1278.
4.
Konstantareas, M. M. & Lampropoulou, V. (1995). Stress in greek mothers with deaf children. American Annals of the Deaf, 140, 3, 264-270.
5.
Franke, G. H. (2002). SCL-90-R. Die Symptom-Checkliste von Derogatis - Deutsche Version - Manual, 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Beltz.
6.
Bullinger, M., Kirchberger, I., Steinbüchel, v.N. (1993). Der Fragebogen Alltagsleben - ein Verfahren zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Zeitschrift für medizinische Psychologie, 3, 121-131.
7.
Muthny, F. A. (1988). Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung - Manual. Göttingen: Beltz.
8.
McCubbin, H. I. (1987). CHIP - Coping Health Inventory for Parents. In: H. I. McCubbin (ed.): Family assessment inventories for research and practice. (S. 175-192), Madison: University of Wisconsin/Madison.
9.
Sommer, G. & Fydrich, T. (1998). Soziale Unterstützung - Diagnostik, Konzepte, F-SOZU. Tübingen: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie.
10.
Remschmidt, H. & Mattejat, F. (1999). Familien-Identifikations-Test. Göttingen: Hogrefe.
11.
Schneewind, K.A., Beckmann, M. & Hecht-Jackl, A. (1985). Das FK-Testsystem Testmanual. Forschungsbericht 8.1. Institut für Psychologie, Universität München.