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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Rezeptive und produktive Sprachentwicklungsleistungen frühgeborener Kinder im Alter von 2 Jahren

Vortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV39

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2004/04dgpp66.shtml

Veröffentlicht: 9. September 2004

© 2004 Kiese-Himmel.
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Zusammenfassung

Ziel war die normbezogene Bestimmung rezeptiver und expressiver Sprachverarbeitungsfähigkeiten frühgeborener Kinder im Alter von 2 Jahren.

Stichprobe: 39/66 hörgesunde Frühgeborene (Geburtsjahrgang 1999), die postnatal im Rahmen eines neonatologischen Konsils zur Hördiagnostik a. d. Abt. Phoniatrie/Pädaudiologie überwiesen u. als normalhörig befundet worden waren (Geburtsgewicht: 390 - 2590 g; Gestationsalter: zw. 26 u. 36 Wochen).

Methode: Erhebung soziodemografischer Daten, Entwicklungsanamnese, Elternschätzurteil des Umfangs des produktiven Lexikons, Sprachentwicklungstest für 2-jährige Kinder (SETK-2, [1]).

Ergebnisse: Durchschnittl. Sprechbeginn (erste Worte) mit 14.9 (SD 3.8), Zwei-Wort-Satz mit 21.2 (SD 4.3) Monaten. Die mittl. Sprachtestleistungen lagen in der Norm mit Ausnahme der Satzproduktion (T-W: 39.9 (SD 9.8). Wortverstehen war im Durchschnitt am besten ausgebildet: T-W: 52.7 (SD 12.7); Satzverstehen: T-W: 48.1 (SD 12.4); Wortproduktion: T-W: 43.6 (SD 12.9). Biologische Parameter der Frühgeburt wie Geburtsgewicht oder Gestationsalter korrelierten nicht signifikant mit den Testergebnissen. Extremgruppen- und Split-Half-Vergleiche nach Geburtsgewicht bzw. Gestationsalter zeigten ebenfalls keine signifikanten Leistungsunterschiede im SETK-2, hingegen bzgl. des Zeitpunkts des freien Laufens und des Zwei-Wort-Satzbeginns.

Fazit: Variationen im Ausmaß der Frühgeburtlichkeit gehen nicht zwangsläufig mit defizitären Leistungen in der Sprachentwicklung einher.


Text

Einleitung

Frühgeborene entwickeln sich in vielen Bereichen langsamer, u.a. hinsichtl. der komplexen Hirnleistungen des primären Sprech- und Spracherwerbs. So stellte Grimm [1] an einer sehr kleinen Stichprobe frühgeborener Kinder fest (n=5 mit extrem niedrigen, n=6 mit sehr niedrigem Geburtsgewicht), dass diese sich gegenüber Termingeborenen in der Satzproduktion signifikant unterschieden; dies ging in erster Linie auf die Minderleistungen der Kinder mit extrem niedrigem Geburtsgewicht zurück. Anliegen der vorliegenden Studie war die normbezogene Sprachentwicklungsstandbestimmung eines definierten Kollektivs frühgeborener, junger Kinder, da evidenzbasierte Informationen zum Sprachentwicklungsstand an deutschsprachig aufwachsenden Kindern spärlich sind, insbesondere solche mit psychometrischen Verfahren erhoben.

Methodik

Im Herbst 2001 wurden alle Mütter angeschrieben, deren Kinder (Geburtsjahrgang 1999) im Rahmen eines neonatologischen Konsils bzgl. ihres peripheren Hörvermögen in der Abt. Phoniatrie/Pädaudiologie (Klinikum der Georg-August-Universität Göttingen) untersucht wurden, ausgenommen Mütter Frühgeborener mit bekannten, schweren neurologischen Störungen, Syndromen, unklarem Hörbefund oder bilingualem Lebenskontext, um andere Kovariablen bzgl. der Sprachentwicklung zu eliminieren. Übrig blieben 66 Kinder, die postnatal als hörgesund befundet worden waren (Kriterium: Hörschwelle in der Click-BERA beidseits 20 dB). Von den 66 Kindern gingen 36 in die Studie ein sowie 3 frühgeborene Mehrlingsgeschwisterkinder mit nachgewiesener Normakusis, die die Eltern zum Vorstellungstermin mitbrachten.

Die Nachuntersuchung fand durchgängig im 2. Altersjahr der Frühgeborenen statt (Oktober 2001 bis einschl. Februar 2002). Neben sozio-demografischen Daten wurde eine Anamnese zur frühkindlichen Entwicklung erhoben, und die Eltern wurden um ein Schätzurteil zum aktuellen produktiven Wortschatzumfang ihrer Kinder gebeten. Des Weiteren wurde der Sprachentwicklungstest für 2-jährige Kinder (SETK-2) zur Diagnose rezeptiver und produktiver Sprachverarbeitungsfähigkeiten durchgeführt [1].

Stichprobe

Die 39 Kinder (20 Jungen, 19 Mädchen) wurden im Gestationsalter von durchschnittlich 30.46 Wochen geboren, das mittl. Geburtsgewicht betrug 1342.18 Gramm.

Elf Kinder hatten ein extrem niedriges (bis 1100 g) und 17 Kinder ein sehr niedriges Geburtsgewicht (1101 - 1499 g); 11 Kinder waren schwerer (Max 2590 g). Ein Kind hatte eine Zerebralparese, was in der Krankenakte nicht vermerkt worden war. Geschwisterstatus: 9 Einzelkinder, 19 Zwillingskinder, 6 Drillingskinder, 5 Kinder mit älteren bzw. jüngeren Geschwistern.

22 Kinder waren zum Untersuchungszeitpunkt in der ersten Hälfte, 17 in der zweiten Hälfte des 2. Altersjahrs. Das aktuelle mittl. Lebensalter betrug 28.8 Monate (SD 2.3; Min 24, Max 33).

Ergebnisse

Alle Kinder mit Ausnahme des zerebralparetischen Kindes konnten frei laufen, im Durchschnitt mit 14.9±2.4 Monaten (Min 11, Max 20). 5/39 Kinder waren tagsüber sauber, 1/5 auch nachts. Alle Kinder sprachen; im Mittel hatten sie ihre ersten Worte mit 14.7±3.8 Monaten (Median 13.5) gebildet (Min 9, Max 21). 6/39 Kinder sprachen noch keine 2-Wort-Sätze, die restlichen hatten dieses gem. Elternangabe im Mittel mit 21.2±4.3 Monaten (Median 21) begonnen (Min 15, Max 29; 14 missing data).

Gut 20 % der Eltern hatten den Eindruck, dass das produktive Vokabular ihres Kindes zum Untersuchungszeitpunkt sehr klein war (< 20 Wörter), etwa ein Drittel gaben es mit 100 bis 200 Wörtern an, und 23 % meinten, dass ihr Kind mehr als 200 verschiedene Wörter spreche.

Die SETK-2-Verstehenstests fielen in höherer Zahl altersgemäß bzw. besser aus (Wortverstehen: 84 %; Satzverstehen: 70 %) als die Produktionstests. Während in der Wortproduktion mehr als die Hälfte der Testergebnisse unauffällig war, war es bei der Satzproduktion nur noch etwa ein Drittel. Mit einem durchschnittl. T-Wert von 52.7 präsentierte sich das Wortverstehen altersgemäß (Min 23, Max 69), des gleichen das Satzverstehen mit einem durchschnittl. T-Wert von 48.1, wenn auch leicht unter dem Normmittel (T-W 50, SD 10) gelegen (Min 22, Max 65). Die Wortproduktion lag mit einem durchschnittl. T-Wert von 43.6 im unteren Normbereich (Min 23, Max 73). Individuell war die Satzproduktion am häufigsten altersabweichend, der durchschnittl. T-Wert betrug 37.9 (Min 23, Max 63).

Im nächsten Schritt wurde das Kollektiv bzgl. seines Geburtsgewichts [GG] in zwei Extremgruppen geteilt: GG<1100 g (n=11) vs. GG>1500 g (n=11), das Geburtsgewicht trennte beide Gruppen signifikant. Die statistische Prüfung ergab keinen überzufälligen Gruppenunterschied in den mittl. Sprachtestleistungen, jedoch bzgl. des durchschnittl. Laufbeginns sowie des 2-Wort-Satzbeginns. Kinder mit niedrigerem Geburtsgewicht lernten deutlich später laufen (mittl. Laufalter 17.0, SD 1.5) und 2-Wort-Verbindungen zu formen (M=24.2, SD 4.3) als Kinder mit einem GG>1500g (mittl. Laufalter 13.8, SD 1.9; 2-Wort-Verbindungen im Mittel mit 18.3, SD 3.5 Monaten). Eine andere Gruppenbildung i.S. eines signifikanten Split-Half-Vergleichs (GG<1300 g vs. GG>1300 g; jeweils n=19) zeigte das gleiche Ergebnisbild.

Ein Extremgruppenvergleich wurde ebenfalls nach dem Gestationsalter durchgeführt: 25.-29. SSW (n=12) vs. 32.-36.SSW (n=14), dieses trennte beide Gruppen signifikant. Auch bei dieser Gruppenbildung ließen sich die Kinder nicht statistisch bedeutsam in ihren rezeptiven und produktiven Sprachtestleistungen unterscheiden, wiederum jedoch bzgl. der Anamneseangaben zum „freien Laufen" (M=17.0, SD 1.7 vs. M=13.2, SD 1.9) und zum „2-Wort-Satzbeginn" (M=25.3, SD 3.5 vs. M=19.2, SD 4.2). Analog war es bei einem Split-Half-Vergleich, bei dem das Gestationsalter beide Gruppen signifikant trennte: 25.-30. SSW vs. 31.-36. SSW.

Verkürzte Gestationsdauer und niedriges Geburtsgewicht gingen nicht linear mit einem verspäteten Auftreten erster Worte bzw. niedrigen Sprachtestleistungen einher, wie aus den sehr niedrigen, insignifikanten Korrelationen ersichtlich ist. Lediglich der Zeitpunkt des freien Laufens sowie der Beginn der Äußerung von 2-Wort-Sätzen standen in einer ausgeprägten und statistisch bedeutsamen Beziehung zu den beiden biologischen Parametern; je niedriger der Reifestatus war (operationalisiert durch GG und Tragezeit), desto später erfolgte der Einstieg in die Syntax.


Literatur

1.
Grimm, H. (2001). Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2). Göttingen: Hogrefe Grimm (2000).