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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Ist die Hörgeräteversorgung bei einseitiger Schwerhörigkeit notwendig bzw. sinnvoll?: Ergebnisse einer retrospektiven Studie bei 132 Patienten mit einer einseitigen Schwerhörigkeit

Vortrag

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  • author presenting/speaker Katja Schultz-Coulon - Klinik für Kommunikationsstörungen, Mainz, Deutschland
  • Annerose Keilmann - Klinik für Kommunikationsstörungen, Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV21

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2004/04dgpp41.shtml

Veröffentlicht: 9. September 2004

© 2004 Schultz-Coulon et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Das Therapiekonzept für einseitige Schwerhörigkeit bei Kindern wandelt sich. Anhand von 132 Patientenakten und 93 von Eltern ausgefüllten Fragebögen prüften wir, wie die Kinder versorgt sind und welche Probleme sie haben. In 92 Fällen bestand eine Schallempfindungsschwerhörigkeit (SESH), bei 40 Fällen eine Schallleitungs- (SLSH) bzw. kombinierte Schwerhörigkeit .

50% der SESHgen waren hörrestig. Weitere 28% wiesen eine schwere Hörstörung auf. Bei Kindern mit SLSH oder kombinierter Schwerhörigkeit zeigten sich insgesamt leichtere Hörstörungen.

In nur 14% der Fälle wurde die einseitige SESH in den ersten 2 LJ festgestellt. Der Hauptanteil (55,6%) wurde im 5.-7. LJ diagnostiziert, 7,6% im 9.-10. LJ und immerhin 3,3% erst im Alter von 11-13 Jahren. 48 dieser Patienten mit SESH wurden mit einen Hörgerät versorgt sowie 5 weitere, die das Hörgerät heute nicht mehr tragen. Die meisten Anpassungen (41,5%) erfolgten im 7.-8. LJ, weitere 24,5% im 10.-11. LJ, meist entsprechend dem Zeitpunkt der Diagnosestellung, der wiederum von der Zunahme der Anforderungen an die Kinder abhängt.

Hauptproblempunkte der Kinder waren Richtungshören, Probleme im Lärm und bei Gesprächen mit Mehreren. In der Gruppe mit SESH zeigten viele aber auch Konzentrationsprobleme in der Schule. Durch eine HG-Versorgung nahmen die Probleme in vielen Fällen ab. Eindeutiger waren die Fortschritte in der Gruppe mit SESH zu erkennen.


Text

Einleitung

Seit einigen Jahren wird über das Therapiekonzept bei Kindern mit einseitiger Schwerhörigkeit nachgedacht. Die Frage ist, ob eine einseitige HG-Versorgung das Richtungshören, Verstehen im Lärm und die Konzentrationsfähigkeit bessert und damit diese Kinder einen Leistungsvorteil haben. Bereits frühere Autoren haben darauf hingewiesen, dass eine einseitige Hörstörung einen merklichen Einfluss auf die Leistungsentwicklung und die auditive Aufmerksamkeit hat [4], [5], [3], [1].

Methode

Die Daten von 132 Kindern, die in den letzten 20 Jahren in unserer Klinik wegen einer einseitigen Schwerhörigkeit untersucht worden waren, wurden analysiert. Zu vielen Kindern hatten wir jedoch nur einmaligen Kontakt.

An die Eltern der 132 Kinder verschickten wir einen Fragebogen, der die Leistungsentwicklung und die Probleme wie erschwertes Richtungshören oder Verstehen im Lärm ohne Hörgeräte (HG) und nach der HG-Versorgung umfasste. Wie erhielten insgesamt 93 Antworten (70,5%), 65 von Kindern mit Innenohrschwerhörigkeit (IOSH) und 28 von Kindern mit Mittelohrschwerhörigkeit (MOSH) oder kombinierter Schwerhörigkeit.

Von den Kindern mit IOSH waren 41 mit einem HG versorgt worden, 6 allerdings trugen die HG derzeit nicht mehr. 24 dieser Kinder hatten nie ein HG. 12 Kinder mit MOSH wurden ebenfalls mit einem HG versorgt, 5 davon tragen ihr HG derzeit nicht mehr, 16 erhielten kein HG.

Ergebnisse

Bei den 65 Kindern mit IOSH handelte es sich in 47,7% (n = 31) um eine Hörrestigkeit, in 13,8% (n=9) um eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit, in 7,6% (n=7) um eine hochgradige an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit, in 15,4% (n=10) um eine hochgradige oder mittel - bis hochgradige Schwerhörigkeit. Die übrigen 8 Kinder hatten leichtere Hörstörungen.

Bei der MOSH bzw. kombinierten Schwerhörigkeit, in sehr vielen Fällen mit einer Gehörgangsatresie oder - stenose verbunden (85,7%), handelte es sich nur in 7,1% (n=2) um eine Hörrestigkeit, in 35,7% (n=10) zeigte sich eine an Taubheit grenzende, in 14,8% (n=4) eine hochgradige an Taubheit grenzende und in 28,6% (n=8) eine hochgradige Schwerhörigkeit. Nur in einem Fall hatte das Kind eine gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit. In 13 Fällen stütze sich die Klassifikation des Hörverlustes überwiegend auf die Hirnstammaudiometrie.

Ein früher Zeitpunkt der Diagnosestellung in den ersten 2 Lebensjahren war, wie klinisch zu erwarten, bei nur 11 Kindern (17%) mit IOSH möglich gewesen. Bei weiteren 11 Kindern wurde die Diagnose im 3.-4. Lebensjahr (LJ) festgestellt. Der Hauptanteil mit 54% (n=35) wurde um die Zeit der Einschulung im 5.-7. LJ diagnostiziert. Die späte Diagnosestellung bei IOSH wird durch frühere Studien bestätigt [7]. Nur bei wenigen Kindern fand die Diagnosestellung zu einem späteren Zeitpunkt statt. Bei den MOSH war der Zeitpunkt der Diagnosestellung aufgrund der häufig ersichtlichen Fehlbildungen in der Regel sehr früh. Bis zum 2. LJ war bereits bei 23 Kindern (82,1%) die einseitige Schwerhörigkeit bekannt.

Die Hörgeräteversorgung erfolgte bei der IOSH am häufigsten im 6.-7. LJ (43,9%, n=18), eine weitere Spitze mit 26,8% (n=11) zeigte sich im 9.-10. LJ. Bei der MOSH erfolgte die Anpassung in 50% (n=6) bereits in den ersten 2 LJ, davon trägt allerdings nur noch ein Kind sein HG. Die später versorgten Kinder tragen ihr HG noch alle.

12 Kinder ( 10 mit IOSH, 2 mit MOSH) wurden mit einem Luftleitungs-Gerät, 3 Kinder mit MOSH mit einem Knochenleitungsgerät und 17 Kinder ( 16 mit IOSH, 1 mit MOSH) mit einem CROS-Gerät versorgt. Bei den übrigen Kindern machten die Eltern keine Angaben zur Art der Versorung.

Die Tragezeiten der HG verteilten sich in den beiden Gruppen ähnlich, soweit die Eltern hierzu Angaben gemacht haben. Die meisten Kindern trugen das HG zwischen 4-8 Stunden und hauptsächlich während der Schulzeiten. Nur eine sehr geringe Anzahl trug das HG unter 1 Stunde am Tag. Ähnliche Ergebnisse fand Shagdarsuren, S. et al. [7].

Zur Beurteilung einer Leistungsverbesserung durch eine Hörgeräteversorgung bei einseitiger Schwerhörigkeit (IOSH und MOSH zusammengefasst) wurde nach der Orientierung im Raum und der Lokalisationsfähigkeit gefragt, ebenso nach dem Sprachverstehen und dem Verstehen im Lärm und nach der Schulleistung. Nicht alle Eltern antworteten zu jeder Frage, so dass nicht immer die volle Anzahl der Kinder in der Auswertung einzelner Fragen eingeschlossen werden konnte. 31 Kindern mit einem HG hatten Probleme im Richtungshören vor der HG-Versorgung, 20 gaben keine Probleme diesbezüglich an. Nach der HG-Versorgung wurde bei 21 der Kinder eine Verbesserung angegeben, 10 hatten unveränderte Probleme und 1 gab eine Verschlechterung an. Probleme beim Sprachverstehen im Lärm wurden bei 24 Kindern vor der Versorgung beobachtet, 20 gaben keine Schwierigkeiten an. Nach der Versorgung zeigte sich, dass bei 21 Kindern weniger Probleme, bei 12 keine Veränderung und bei 2 Kindern eine Verschlechterung bemerkt wurde. Bei ähnlichen Fragen wie Problemen im Gespräch mit Vielen und beim Durcheinanderreden zeigte sich bezüglich der Verteilung der auffälligen Kinder vor der Versorgung, dass hier sogar noch mehr Eltern Schwierigkeiten des Kindes bemerkt hatten. Von den Kindern mit HG mussten vor der Versorgung 18 Kinder häufiger nachfragen, 21 zeigten diesbezüglich keine Auffälligkeiten. Nach der Versorgung fragten 12 weniger nach, 17 Kinder gleich viel und 4 Kinder mehr nach. Etwa die Hälfte der mit HG versorgten Kinder (19 von 37) litten vor der Versorgung unter Konzentrationsproblemen. Nach der Versorgung war bei 9 Kindern eine Verbesserung zu bemerken gewesen, 17 Kinder zeigten keine Veränderung und 1 Kind hatte mehr Probleme bei der Konzentrationsfähigkeit. Bei der Frage, ob die Kinder einen HG-Ausfall bemerken würden, antworteten immerhin 10 mit „nein".

Das Leistungsverhalten im Gruppenvergleich - Kinder nach der HG-Versorgung und der Gruppe der Kinder, die nicht versorgt worden waren - gaben 32 von den 41 Kindern ohne HG Probleme im Richtungshören an, die restlichen 9 Kinder ohne Hörgerät hatten hier keine Probleme. Hingegen waren es bei 31 Kindern mit einem HG nur 13 Kinder, bei denen eine diesbezügliche Verbesserung durch die Versorgung ausblieb. 21 der Kinder, die nie ein HG hatten, litten unter Problemen im Lärm. 24 der Kinder, die HG-versorgt waren, hatten Probleme im Lärm vor der HG- Versorgung, nach der Versorgung nur noch 14 Kinder. 24 Kinder, die kein HG erhielten, fragten vermehrt nach. Bei den Kindern mit HG besserte sich dies bei 12 von 18 Kindern. Bei 14 Kinder, die kein HG erhielten, lagen Konzentrationsprobleme vor, durch eine HG-Versorgung konnte bei 9 von vorher 19 Kindern mit Konzentrationsproblemen eine Verbesserung erzielt werden.

Diskussion

Trotz der deutlichen Heterogenität der Gruppe der Hörgeräte- versorgten Kinder (Art der Hörstörung, Zeitpunkt der Diagnosestellung und der HG-Versorgung, Art der HG-Versorgung) und der doch inkompletten Beantwortung der Fragen durch die Eltern, weisen unsere Ergebnisse auf die Vorteile der einseitigen Hörgeräteversorgung bzgl. der Leistungsverbesserung und der auditiven Aufmerksamkeit hin und bestätigen damit die Meinung anderer Autoren [7], [6], [4], [1]. Anhand unserer Daten lässt sich nicht belegen, dass eine einseitige Schwerhörigkeit in jedem Fall einer Hörgeräteversorgung bedarf, weil die vorgestellte Klientel zu heterogen ist und die Entscheidung zur Therapie wesentlich von den Eltern mitgetragen wurde, sodass nicht auszuschließen ist, dass die Eltern, die sich für eine Versorgung entschieden, dieser auch im Nachhinein positiver gegenüberstanden.

Bemerkenswert ist, dass gerade Kinder, die mit einer MOSH jung versorgt wurden, sich später häufiger gegen die Versorgung entschieden, obwohl man sich gerade bei ihnen erhoffen würde, dass sie mit einer frühzeitigen Versorgung das Richtungshören erlernen. Möglicherweise wurden unter den 5-6 Jährigen eher diejenigen mit einer MOSH versorgt, die zuvor deutliche Probleme verspürten, sodass sie auch eher von einer Versorgung profitierten.

Letztendlich können nur prospektive - wenn möglich randomisierte - Studien hier Klärung bringen.


Literatur

1.
Bess, F.H., Tharpe, A.M.: An introduction to unilateral sensorineural hearing loss in children. Ear and Hearing 7 (1), 3-13 (1986)
2.
Bess, F.H.: The unilateral hearing-impaired child: A final comment. Ear and Hearing 7 (1), 52-54 (1986)
3.
Brookhouser, P.E., Worthington, D.W., Kelly, W.J.: Unilateral hearing loss in children. Laryngoscope 101, 1264-1272 (1991)
4.
Hildmann A: Möglichkeiten der apperativen Versorgung junger Säuglinge bei neonatalen Hörstörungen. Leohnhardt, A (Hrsg). Ausbildung des Hörens- Erlernen des Sprechens (1998)
5.
Möhring, L., Braun, F., Wirth, G.: Aussagewert der Prüfung von Lokalisationsfähigkeit und Sprachverständnis bei einseitiger Schwerhörigkeit im Kindesalter. Sprache-Stimme-Gehör 19, G.Thieme Verlag, Stuttgart-N.Y. 28-34 (1995)
6.
Niehaus, H.H., Olthoff, A., Kruse, E.: Früherkennung und Hörgeräteversorgung unilateraler kindlicher Schwerhörigkeiten. Laryngo-Rhino-Otol. 74, G.Thieme Verlag, Stuttgart-N.Y. 657-662 (1995)
7.
Shagdarsuren, S. : Das einseitig schwerhörige Kind. Kommunikationsstörungen bei einseitiger Schwerhörigkeit. Inaugural-Dissertation, Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum (2002)