gms | German Medical Science

20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Ätiologie und Prävalenz permanenter kindlicher Hörstörungen in Deutschland

Vortrag

  • corresponding author Maria Elisabeth Spormann-Lagodzinski - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, Fabeckstr. 62, 14195 Berlin, Tel. 030-8445 2435
  • Karsten Nubel - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, Fabeckstr. 62, 14195 Berlin
  • Ovidiu König - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, Fabeckstr. 62, 14195 Berlin
  • Manfred Gross - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, Fabeckstr. 62, 14195 Berlin

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocV37

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2003/03dgpp085.shtml

Veröffentlicht: 12. September 2003

© 2003 Spormann-Lagodzinski et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Permanente Hörstörungen bei Kindern haben in den letzten Jahren bezüglich Ätiologie und Prävalenz einen deutlichen Wandel erlebt. In den westlichen Industrienationen ist sie auf 1 bis 3 pro 1.000 Neugeborene gesunken. Nach Ergebnissen des Deutschen Zentralregisters für kindliche Hörstörungen (DZH) liegt die Prävalenz in Deutschland bei ca. 1,2:1.000. Von 6.200 ausgewerteten Datensätzen des DZH haben 36% aller permanenten Hörstörungen eine (vermutlich oder gesichert) genetische Ursache, 18% sind vermutlich erworben und bei 46% bleibt die Ursache ungeklärt. Bei ca. 5% der gemeldeten Kinder hat sich die Hörstörung erst später manifestiert, obwohl sie genetisch determiniert war. 10,3% der Patienten weisen eine progrediente Hörstörung auf. Bei 7% der erfaßten Kinder steht die Hörstörung im Zusammenhang mit einem diagnostizierten Syndrom, bei 14,1% liegen Fehlbildungen im Kopfbereich vor. Die am häufigsten genannten Syndrome sind Trisomie 21, Waardenburg-, Goldenhar-, Franceschetti- und Usher-Syndrom. Die häufigsten Fehlbildungen im Kopfbereich sind Ohrmuscheldysmorphien, Gehörgangsatresien oder -stenosen und Spaltbildungen. Bei den assoziierten Anomalien außerhalb des Kopfbereichs sind v.a. Herzfehler, Nierenfehlbildungen oder -erkrankungen und Hand- oder Fußanomalien angegeben. Bei 24% der Patienten mit assozierten Anomalien/Erkrankungen liegt eine vermutlich erworbene Hörstörung vor. Die häufigsten Ursachen dieser Gruppe sind peri- und postnatale Komplikationen (31%), Meningitis (18%), Rötelnembryopathie (2,6%) und pränatale CMV-Infektion (9,5%).


Text

Einleitung

Hörstörungen sind die häufigste sensorische Beeinträchtigung des Menschen überhaupt. Mehr als 10% der über 65-Jährigen und mehr als 50% der über 80-Jährigen leiden unter einer medizinisch relevanten Hörstörung mit lautsprachlicher Beeinträchtigung der Kommunikation [1]. Schätzungsweise 5 von 10.000 Menschen werden im Laufe ihres Lebens davon betroffen. Im Erwachsenenalter dominieren erworbene Formen der Hörstörung, vor allem aufgrund von Lärmeinwirkung und degenerativen Prozessen. Bei Kindern sind Hörstörungen wesentlich seltener und ihre Ursachen anders verteilt. Etwa 5% aller dauerhaft hörgestörten Menschen sind Kinder. Permanente Hörstörungen bei Kindern haben in den letzten Jahren bezüglich Ätiologie und Prävalenz einen deutlichen Wandel erlebt. Weltweit liegt die Häufigkeit kindlicher Hörstörungen zwischen 1:1.000 und 6:1.000 für einen Hörverlust von mindestens 35 dB auf dem besser hörenden Ohr [2]. Das Ausmaß steht in enger Wechselbeziehung zum jeweiligen Stand der medizinischen Versorgung. Die Prävalenzangaben in entwickelten Ländern schwanken zwischen 0,92:1.000 und 3,2:1.000 [3], [4], [5], [6], [7], [8], [9]. Für Kinder mit bestimmten Risikofaktoren werden Prävalenzen um 1:50 vermutet [10]. Deutschland liegt anhand gegenwärtiger Schätzungen des DZH mit 1,2:1.000 im unteren Bereich [2]. Es wird geschätzt, dass mehr als 50% der konnatalen oder im Kindesalter auftretenden Hörstörungen eine genetische Ursache haben.

Methodik

Das Deutsche Zentralregister für kindliche Hörstörungen (DZH) hat seit 1996 bundesweit 6200 Datensätze (Stand Mai 2003) mit medizinischen Daten permanent hörgestörter Kinder erhoben. Die Daten wurden mit Hilfe von Access-Abfragen und durch Export nach SPSS bzw. Excel analysiert. Außerdem wurden die Daten (6200 Datensätze, davon 5364 mit beidseitiger Hörstörung) mit Angaben zur Bevölkerungsstatistik der Bundesrepublik Deutschland verglichen.

Ergebnisse und Diskussion

Von 6.200 ausgewerteten Datensätzen des DZH haben 36% aller permanenten Hörstörungen eine (vermutlich oder gesichert) genetische Ursache, 18% sind vermutlich erworben und bei 46% bleibt die Ursache ungeklärt. Bei ca. 5% der gemeldeten Kinder hat sich die Hörstörung erst später manifestiert, obwohl sie genetisch determiniert war. 10,3% der Patienten weisen eine progrediente Hörstörung auf. Bei 7% der erfaßten Kinder steht die Hörstörung im Zusammenhang mit einem diagnostizierten Syndrom, bei 14,1% liegen Fehlbildungen im Kopfbereich vor. Die am häufigsten genannten Syndrome sind Trisomie 21, Waardenburg-Syndrom, Goldenhar-Syndrom, Franceschetti-Syndrom und Usher-Syndrom [Abb. 1]. Die häufigsten Fehlbildungen im Kopfbereich sind Ohrmuscheldysmorphien, Gehörgangsatresien oder -stenosen und Spaltbildungen. Bei den assoziierten Anomalien außerhalb des Kopfbereichs sind v.a. Herzfehler, Nierenfehlbildungen oder -erkrankungen und Hand- oder Fußanomalien angegeben. Bei 24% der Patienten mit assozierten Anomalien/Erkrankungen liegt eine vermutlich erworbene Hörstörung vor. Die häufigsten Ursachen dieser Gruppe sind peri- und postnatale Komplikationen (31%), Meningitis (18%), pränatale CMV-Infektion (9,5%) und Rötelnembryopathie (2,6%). Nach wie vor fällt bei der statistischen Auswertung der Datensätze auf, dass der prozentuale Anteil der Jungen im DZH höher ist als der von Mädchen. In der Literatur finden sich ähnliche Angaben zu einem überproportionalen Anteil von Jungen an den permanent hörgestörten Kindern. Während in Deutschland 51,3% der 0-18-jährigen männlich sind (Daten Stichtag 12.2000), sind von den an das DZH gemeldeten Kindern und Jugendlichen mit beidseitiger Hörstörung 54,5% männlich. Das 99%-Konfidenzintervall reicht von 52,9% bis 56,2%, es liegt also ein statistisch signifikanter Überhang vor. Bei der Aufschlüsselung nach Geschlecht und Grad der Hörstörung sowie Geschlecht und vermutlicher Ursache der Hörstörung ist der Jungenüberhang bei leichten und mittleren Hörstörungen etwas deutlicher. Er findet sich in allen drei Gruppen "vermutlich erworben" - "vermutlich genetisch" - "unbekannt".

Bei den vermutlich genetisch bedingten Hörstörungen ist der leichte Jungenüberhang mit großer Wahrscheinlichkeit auf X-chromosomal vererbte Hörstörungen zurückzuführen, deren Anteil in der Literatur auf 1-3% geschätzt wird [11]. Die vergleichbar höhere Quote bei den vermutlich erworbenen Hörstörungen und die deutlich größere Zahl bei den Hörstörungen unbekannter Ursache ist jedoch nicht ohne weiteres erklärbar. Bereits 1965 hat Frazer bei erworbenen Hörstörungen einen Jungenüberhang festgestellt. Pearson et al. [12] stellten fest, dass bei Männern der altersbedingte Hörverlust früher einsetzt und schneller fortschreitet als bei Frauen, auch wenn Personen mit möglicher Lärmschwerhörigkeit ausgeschlossen werden.


Acknowledgements

Danksagung: Die hier ausgewerteten Daten stammen von insgesamt 146 Kooperationspartnern, und unser ganz besonderer Dank gilt diesen Kolleginnen und Kollegen, die damit erst die Arbeit des DZH möglich machen. Das DZH ist jederzeit gerne bereit, für die Kooperationspartner Auswertungen und Ergebnisse ihrer gemeldeten Patientendatensätze anzufertigen.


Literatur

1.
Davis AC Hearing in adults London Whurr. 1995
2.
Gross M, Finckh-Krämer U, Spormann-Lagodzinski ME (2000) Angeborene Erkrankungen des Hörvermögens bei Kindern. HNO 48:879-886
3.
Aidan D, Avan P, Bonfils P (1999) Auditory screening in neonates by means of transient evoked otoacoustic emissions: a report of 2,842 recordings. Ann Otol Rhinol Laryngol 108: 525-531
4.
Downs MP (1995) Universal newborn hearing screening. The Colorado story. Int J Pediatr Otorhinolaryngol 32:257-259
5.
Hayes D (1999) State Programs for Universal newborn hearing screening. Pediatric Clinics of North America 46 (1): 89-94
6.
Parving A (1999) Hearing screening - aspects of epidemiology and identification of hearing impaired children. Int J Ped Otorhinolaryngol 49 Suppl 1: S287-S292
7.
Parving A, Hauch AM, Christensen B (2003) Hearing loss in children - epidemiology, age at identification and causes through 30 years. Ugeskr Laeger Feb 3;165(6):574-579
8.
Watkin PM (1996) Neonatal otoacoustic emission screening and the identification of deafness. Arch Dis Child 74: F16-F25
9.
Wessex Universal Neonatal Hearing Screening Trial Group (1998) Controlled trial of universal neonatal screening for early identification of permanent childhood hearing impairment. Lancet 352: 1957-1964
10.
Robertson CM et al. (2002) Late-onset, progressive sensorineural hearing loss after severe neonatal respiratory failure. Otol Neurootol May 23(3):353-356
11.
Cremers CW, Van Rijn PM, Huygen PL (1994) The sex-ratio in childhood deafness, an analysis of the male predominance. Int J Pediatr Otorhinolaryngol 30: 105-110
12.
Pearson JD, Morrell CH, Gordon-Salant S, Brant LJ, Metter EJ, Klein LL, Fozard JL (1995) Gender differences in a longitudinal study of age-associated hearing loss. J Acoust Soc Am 97: 1196-1205
13.
Borck G, Roth C, Martine U, Wildhardt G, Pohlenz J (2003) Mutations in the PDS gene in German families with Pendred's syndrome: V138F is a founder mutation. J Clin Endocrinol Metab Jun (6):2916-2921
14.
OMIM (Online Mendelian Inheritance in Man) http://www.ncbi.nlm.nih.gov/Omim
15.
Spandau UHM, Rohrschneider K (2002) Prevalence and geographical distribution of Usher syndrome in Germany. Graefe's Arch Clin Exp Ophthalmol 240:495-498