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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Stellungnahme der AWMF zur Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 15. 3. 2005

Mitteilung

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GMS Mitteilungen aus der AWMF 2005;2:Doc15

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/journals/awmf/2005-2/awmf000053.shtml

Eingereicht: 9. Mai 2005
Veröffentlicht: 9. Mai 2005

© 2005 Müller.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Gliederung

Zusammenfassung

Die AWMF begrüßt nachdrücklich, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in Zukunft seine Entscheidungsverfahren und die dazu verwendeten Unterlagen transparent machen will. Sie begrüßt ebenfalls, dass der G-BA seine Entscheidungen unter Einbeziehung neutraler Wissenschaftler auf der Basis möglichst guter Studien treffen will. Sofern ausreichende Mittel für solche Studien zur Verfügung stehen, wird dies zu einer Verbesserung der Situation der krankheits- und patientenorientierten klinischen Forschung und der Versorgungsforschung in Deutschland führen.

Dennoch sieht die AWMF in dem Verfahrensordnungsvorschlag des G-BA vom 15. 3. 2005 Schwachstellen, die den Fortschritt der medizinischen Versorgung behindern können.


Text

1. Die Verfahrensordnung versucht in ihren §§17 und 18 eine Transparenz für die Bewertung der Unterlagen herzustellen. Hierbei spielen das Studiendesign je nach Versorgungsart (Früherkennung, Diagnose und Therapie) und die Durchführungsqualität der Studien tatsächlich eine gewichtige Rolle. Allerdings ist die Klassifikation der Evidenzstärken für Diagnosestudien (§18 Absatz 2) nicht korrekt und nicht mit der Wissenschaft abgestimmt.

Wenig transparent ist die Verfahrensordnung, wenn es z.B. um die Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf das deutsche Gesundheitssystem oder auf eine bestimmte Patientengruppe im deutschen Versorgungsalltag, um die Feststellung des Nutzens (z.B. Abwägung zwischen den Outcome-Kriterien Mortalität vs. Morbidität vs. Lebensqualität vs. Patientenpräferenzen) und um die Wirtschaftlichkeit der Methoden und Leistungen geht. Bei der Leitlinienentwicklung der AWMF spielt diese „Klinische Bewertung" von Studienergebnissen - international auch „considered judgement" genannt - neben der Evidenzbasierung die entscheidende Rolle. Sie wird dort durch ein strukturiertes Konsensusverfahren abgeschlossen.

Die AWMF befürchtet, dass die geringe Transparenz der „Klinischen Bewertung" in der Verfahrensordnung des G-BA alle Tore zu einer bewussten oder unbewussten Beeinflussung oder Verzerrung der Entscheidungen öffnet. Deren Diskussion wird die Umsetzung der Entscheidungen des G-BA immer wieder verzögern.

2. Die Annahme einer „in der Regel" vorhandenen Verfügbarkeit von Studien der Evidenzstärke 1 ist realitätsfern, da - u.a. aus praktischen und ethischen Gründen - nicht alle Fragestellungen schlussendlich hiermit beantwortet werden können. Eine Evidenzstärke 1 liegt z.B. auch nicht vor, wenn die Ergebnisse von Studien der Evidenzstärke 1 auf die Patienten des Versorgungsalltags in Deutschland extrapoliert

werden müssen, wenn keine direkten Vergleiche zwischen Alternativen existieren oder wenn die Abschätzung erwünschter und unerwünschter Wirkungen aus Studien kommt, die unterschiedliche Evidenzstärken aufweisen.

Studien der Evidenzklasse 1 für neue Verfahren benötigen einen Zeitraum von mehreren Jahren und haben in der Regel einen Vorlauf von mehreren Studien niedrigerer Evidenzstärken. Gerade schwerkranke stationäre Patienten wären für den Zeitraum des Wartens auf die Ergebnisse der Evidenzklasse 1-Studien vom Einsatz dieser möglicherweise lebensrettenden, lebensverlängernden oder die Lebensqualität erheblich verbessernden Maßnahmen ausgeschlossen. Die AWMF bewertet deshalb das Prinzip „Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt" für den stationären Bereich" als sachgerecht, da nahezu regelhaft Innovationen und neue Technologien im stationären Bereich entwickelt werden.

Die AWMF sieht in der Betonung der Evidenzstärke 1 (§20 Abs. 2) eine Behinderung und erhebliche Verzögerung von Innovationen auf ihrem Weg in den Versorgungsalltag und bemängelt die kaum existierende Transparenz der Entscheidungen, wenn keine Belege der Evidenzstärke 1 existieren.

3. Die Evidenzbasierte Medizin verlangt, dass auf der Basis der qualitativ besten, verfügbaren Evidenz Entscheidungen gefällt werden.

Die AWMF sieht die Gefahr, dass wegen der unter 1 und 2 geschilderten mangelhaften Transparenz bei der routinemäßigen Anwendung der vorgelegten Verfahrensordnung des Öfteren von dem Prinzip der qualitativ besten, verfügbaren Evidenz abgewichen wird.

4. Die AWMF sieht eine Beeinträchtigung der krankheits- und patientenorientierten klinischen Forschung, wenn nur die gesetzlichen Krankenversicherungen (in Modellvorhaben nach §§63 - 65 SGB V) oder der G-BA definieren, was beforscht werden soll, und damit Forschungsressourcen verwendet werden, die für andere innovative Forschungsprojekte dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Prioritäten der Forschungsvorhaben müssen von Vertretern der klinischen Forschung und den Krankenversicherungen bzw. dem G-BA gemeinsam gesetzt werden.

5. Die AWMF fordert den G-BA auf, sein Bewertungsprogramm mittel- bis langfristig zu planen und so frühzeitig vorzulegen, dass die Wissenschaft genügend Zeit hat, die geforderten hochwertigen Belege zu schaffen.

6. Die AWMF fordert eine unabhängige Begleitforschung für die Verfahrensordnung des G-BA, in der Methoden oder Leistungen auf ihrem Weg in den Versorgungsalltag beobachtet werden, um Probleme oder Verzögerungen rechtzeitig zu erkennen. Die Bewertungsvorhaben sollten einschließlich des jeweiligen Verfahrensstands vom G-BA über eine Datenbank öffentlich zugänglich gemacht werden.

7. Die AWMF vermisst in der Verfahrensordnung das Aufzeigen von Verfahren, mit denen positiv bewertete Innovationen in die Alltagsversorgung befördert oder obsolet gewordene Verfahren aus der Versorgung herausgenommen werden können.

8. Die AWMF ist mit ihren Mitgliedsgesellschaften und deren Wissenschaftlern bereit, ihren Sachverstand bei der Gestaltung eines effizienten Bewertungs- und Entscheidungsverfahrens des G-BA über Methoden und Leistungen einzubringen.

Ansprechpartner der AWMF:

Prof. Dr. med. Albrecht Encke, Präsident der AWMF

Email: A.Encke@em.uni-frankfurt.de, Tel.: 069-63014571

Prof. Dr. Hans-Konrad Selbmann, Vorsitzender der Leitlinienkommission der AWMF

Email: Hans-Konrad.Selbmann@med.uni-tuebingen.de, Tel.: 07071-2985218