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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Prädiktive Faktoren für nicht-organische Hörstörungen bei Kindern

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Almut Nießen - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kopf-Neuro-Zentrum, Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Hamburg, Deutschland
  • author Saskia Kiehn - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kopf-Neuro-Zentrum, Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Hamburg, Deutschland
  • author Frank Müller - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kopf-Neuro-Zentrum, Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Hamburg, Deutschland
  • author Achim Breitfuß - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kopf-Neuro-Zentrum, Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Hamburg, Deutschland
  • author Jana-Christiane Koseki - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kopf-Neuro-Zentrum, Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Hamburg, Deutschland
  • author Till Flügel - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kopf-Neuro-Zentrum, Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Hamburg, Deutschland
  • author Julie C. Nienstedt - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kopf-Neuro-Zentrum, Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Hamburg, Deutschland
  • author Christina Pflug - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kopf-Neuro-Zentrum, Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Hamburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocV2

doi: 10.3205/19dgpp02, urn:nbn:de:0183-19dgpp024

Published: September 13, 2019

© 2019 Nießen et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Nicht-organische Hörstörungen (NOHL) zeichnen sich durch eine Diskrepanz zwischen objektiver und subjektiver Audiometrie aus; auch der in der Sprachaudiometrie angegebene Hörverlust passt meist nicht zur subjektiven Tonschwelle.

Material und Methoden: Retrospektive Datenanalyse von Kindern mit NOHL, die sich in der Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zwischen 11/05 und 05/17 vorstellten.

Eingeschlossen wurden 67 Kinder (44 Mädchen, 23 Jungen) mit mindestens einmalig auffälligen subjektiven Audiometrie- Ergebnissen, bei denen eine organische Ursache der Hörstörung ausgeschlossen wurde.

Erhobene Daten waren Seite(n) und Ausmaß des Hörverlusts, Hörgeräteversorgung (HG), familiäre oder Schulschwierigkeiten, Besuchsanzahl, Beschwerdedauer und Therapieabschluss regulär versus Abbruch.

Ergebnisse: Mädchen wurden deutlich später nach erstem Auftreten der Hörstörung vorgestellt; sie waren auch häufiger mit HG versorgt. Kinder mit HG waren älter als Kinder ohne HG. Bei Kindern mit HG verging vor der Erstvorstellung signifikant mehr Zeit.

Ein längerer Zeitraum zwischen Beschwerdebeginn und Erstvorstellung korrelierte mit höherem Hörverlust bei Letztvorstellung. Kinder mit familiären Problemen gaben bei Erstvorstellung schlechtere Tonschwellen an als Kinder ohne diese. Von 17 Kindern, die initial bereits mit HG versorgt worden waren, setzten 6 die Verwendung der HG trotz unauffälliger Hörschwelle fort.

Diskussion: NOHL werden, wie auch andere dissoziative Empfindungsstörungen, bei Mädchen häufiger diagnostiziert. Trotzdem werden Mädchen dieser Studie zufolge später vorgestellt und häufiger mit HG versorgt, unabhängig vom berichteten Hörverlust. Ein Viertel der Kinder war bei Erstvorstellung unnötigerweise mit HG versorgt. Abgesehen von möglichen Lärmschäden ist kein psychologischer Langzeitnutzen von der Verschiebung in den somatischen Bereich zu erwarten. Die Behandlung sollte die zugrundeliegenden Probleme berücksichtigen.

Fazit: Insbesondere bei Kindern im frühen Teenageralter, bei denen diskrepante Hörbefunde auffallen, sollte keinesfalls eine HG-Versorgung erfolgen, bevor eine NOHL definitiv ausgeschlossen werden konnte.


Text

Hintergrund

Nicht-organische Hörstörungen („non-organic hearing loss“, NOHL) werden diagnostiziert, wenn es eine Diskrepanz zwischen objektiver und subjektiver Audiometrie gibt. Typischerweise sind otoakustische Emissionen (OAE) reproduzierbar nachweisbar. Bei normaler oder annähernd normaler Schwelle in der Hirnstammaudiometrie (BERA) werden die Schwellen in der subjektiven Audiometrie deutlich schlechter angegeben. Häufig passt auch die Schwellenangabe in der Tonschwellenaudiometrie nicht zum Sprachverstehen in der Sprachaudiometrie. In der Literatur werden, über die letzten Jahrzehnte unverändert [1, 2], etwa 1–3% der kindlichen Hörstörungen als NOHL angegeben.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive Analyse der Daten von Kindern mit der Diagnose NOHL, die sich in unserer Klinik zwischen 2005 und 2017 vorgestellt hatten. Die Diagnostik und Therapie erfolgt standardmäßig in unserer Tagesklinik durch einen Pädaudiologen, einen Audiometristen und eine Psychologin.

Eingeschlossen wurden 67 Kinder (44 Mädchen, 23 Jungen) mit mindestens einmalig auffälligen subjektiven Audiometrie-Ergebnissen, bei denen ausgeschlossen werden konnte, dass diese auf Aufmerksamkeitsprobleme, Sprachdefizite, kognitive Einschränkungen oder eine organische Ursache zurückzuführen waren.

Die Untersuchungen schlossen eine ausführliche Anamneseerhebung, HNO-ärztliche Untersuchung, Tonschwellenaudiometrie (TA), OAE, Tympanometrie, und eine BERA sowie psychologische Gespräche und ggf. testpsychologische Untersuchungen ein.

Um die Angaben in der TA zwischen erstem und letztem Besuch in unserer Klinik vergleichen zu können, wurde für jedes Kind das bei Erstuntersuchung in der TA schlechter angegebene Ohr als Referenzohr definiert. Die Ergebnisse der TA wurden in Prozentwerte nach Röser (R%) umgerechnet. R% <20 wurde als Normakusis gewertet.

Erhobene Daten waren außerdem Geschlecht, Alter bei Erstvorstellung, von der NOHL betroffene Seite(n), Hörgeräteversorgung bei Erstvorstellung, Schwierigkeiten in Familie und / oder Schule, die Anzahl der Besuche, die Dauer der Beschwerden bis zur Erstvorstellung in unserer Klinik und ob die Behandlung bei uns abgebrochen oder regulär beendet wurde.

Ergebnisse

Unsere Daten stimmen mit den Ergebnissen früherer Studien überein [3-5] bzgl. des Durchschnittsalters (11,26 Jahre, SD 2,47) und dem Verhältnis von Mädchen zu Jungen von 2:1. 55 der Kinder (38 Mädchen, 17 Jungen) gaben eine bilaterale, 12 (6/6) eine einseitige Hörstörung an. 2 der Jungen und 15 der Mädchen waren bei Erstvorstellung mit einem Hörgerät versorgt. Die durchschnittliche Anzahl der Vorstellungen an unserer Klinik war bei Jungen und Mädchen etwa gleich (Jungen: 3,22 / Mädchen: 3,52 Besuche). 79,1% der Kinder wurden zwischen zwei- und viermal gesehen (Range 1–11 Vorstellungen).

Mädchen wurden im Schnitt deutlich später nach erstem Auftreten der Beschwerden erstmalig in unserer Klinik vorgestellt (Jungen: 9,47 Monate, SD 8,43, Range 2–36 Monate, Mädchen: 16,05 Monate, SD 17,25, Range 0–96 Monate). Die Therapie wurde durch die Familien von 6 Jungen und 21 Mädchen abgebrochen. Familiäre Probleme gaben 13 Jungen und 22 Mädchen an, Schulprobleme 14 Jungen und 33 Mädchen. Mädchen waren signifikant häufiger mit Hörgeräten versorgt (p=0,037, exakter Test nach Fisher). Die Kinder mit Hörgeräten waren signifikant älter (Median 12,25 Jahre) als Kinder ohne Hörgeräte (Median 10,21 Jahre, Mann-Whitney-U-Test: U=264,500, p=0,021). Bei Kindern mit normalem Hörvermögen bei Letztvorstellung war der Zeitraum zwischen Erstauftreten der Hörstörung und Erstvorstellung an unserer Klinik kürzer als bei Kindern, bei denen das subjektive Hörvermögen auffällig blieb (Rangkorrelation nach Spearman: rs=-0,360, p=0,005, n=60). R% bei Erstvorstellung war bei Kindern mit Familienproblemen höher als bei Kindern, die diese nicht angaben (rs=0,291, p=0,025, n=59).

Je älter die Kinder waren, desto mehr Vorstellungen erfolgten (rs=0,37, p=0,002, n=67). Bei Kindern mit Hörgeräten war eine signifikant längere Zeit vergangen (Median 24 Monate), bis sie in unserer Klinik vorgestellt wurden, als bei Kindern ohne Hörgeräte (Median 6 Monate, Mann-Whitney-U-Test: U=214,500, p=0,007). Familien, die die Therapie bei uns nicht regulär beendeten, hatten ebenfalls eine signifikant längere Zeit zwischen erstem Auftreten des NOHL (Median 16 Monate) im Vergleich zu Familien, die die Behandlung zu Ende führten (Median 6 Monate, Mann-Whitney-U-Test: U=258,500, p=0,003). Trotz des Nachweises einer objektiv normalen Hörschwelle wollten 6 der 17 Kinder mit Hörgerät bzw. deren Eltern auch bei der letzten Vorstellung dieses weiterverwenden.

Eine logistische Regression (schrittweise Methode, Vorwärtsselektion) mit der Zielvariable „normales Hörvermögen beim letzten Besuch“ ergab ein signifikantes Modell (χ²(1)=4,83, p=0,028, n=52) mit dem Vorhandensein eines Hörgeräts als signifikantem Prädiktor. Die Versorgung mit einem Hörgerät senkte die Chance für normales Hören bei Letztvorstellung um 76%. Die Variablen Geschlecht, Alter, R% bei Erstvorstellung, Schul- oder Familienprobleme, Zeitspanne zwischen erstmals berichtetem Hörverlust bis zur Erstvorstellung in unserer Klinik und Anzahl der Vorstellungen in unserer Klinik zeigten sich nicht als signifikante Prädiktoren.

Diskussion

NOHL wird bei Mädchen häufiger diagnostiziert. Auch andere dissoziative Empfindungsstörungen betreffen das weibliche Geschlecht dreimal häufiger [6]. Erstaunlicherweise werden trotzdem Mädchen später vorgestellt und häufiger mit Hörgeräten versorgt. Auch die Compliance mit der Therapie ist bei Familien von Mädchen geringer. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Kinder hörauffällig bleiben, wenn die Behandlung später beginnt.

Ältere Kinder benötigen häufiger eine länger dauernde Therapie, werden aber auch häufiger mit Hörgeräten versorgt - immerhin ein Viertel der Kinder mit NOHL war bei Erstvorstellung unnötigerweise mit (teilweise Power-)Hörgeräten versorgt. Abgesehen von möglichen Lärmschäden ist kein psychologischer Langzeitnutzen von der Verschiebung in den somatischen Bereich zu erwarten. Die Behandlung sollte die zugrundeliegenden Probleme aufarbeiten. Erfolgt diese Aufarbeitung verzögert, ist gehäuft mit einer Persistenz der Beschwerden zu rechnen.

Fazit

Insbesondere bei Kindern im Grundschul- und Jugendalter, bei denen diskrepante Hörbefunde auffallen, sollte keinesfalls eine Hörgeräteversorgung erfolgen, bevor nicht ein NOHL definitiv ausgeschlossen ist. Insbesondere sollte vor jeder Hörgeräteversorgung einer neu aufgetretenen Hörstörung auch eine objektive Hörprüfung erfolgen. Hörhilfen sind keine Hilfe bei NOHL, sondern verzögern oder verhindern die Einleitung einer adäquaten Therapie und senken die Wahrscheinlichkeit eines Behandlungserfolgs.


Literatur

1.
Leshin GJ. Childhood nonorganic hearing loss. J Speech Hear Disord. 1960;25:290-2.
2.
Schmidt CM, am Zehnhoff-Dinnesen A, Deuster D. Nonorganic (functional) hearing loss in children. HNO. 2013;61(2):136-41.
3.
Aplin DY, Rowson VJ. Psychological characteristics of children with functional hearing loss. Br J Audiol. 1990;24(2):77-87.
4.
Ashitani M, et al. Clinical features of functional hearing loss with inattention problem in Japanese children. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2011;75(11):1431-5.
5.
Schmidt CM, et al. Nonorganic hearing loss in children: audiometry, clinical characteristics, biographical history and recovery of hearing thresholds. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2013;77(7):1190-3.
6.
Sonnenmoser M. Dissoziative Störungen: Häufig fehlgedeutet. Dtsch Arztebl International. 2004;3(8):372.