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GMDS 2013: 58. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

01. - 05.09.2013, Lübeck

Die Veränderung suizidalen Verhaltens in der Stadt Magdeburg über zwei Jahrzehnte

Meeting Abstract

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  • Axel Genz - Universität Magdeburg, Magdeburg, DE
  • Tim Krause - Universität Magdeburg, DE
  • Bernhard Bogerts - Universität Magdeburg, DE

GMDS 2013. 58. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Lübeck, 01.-05.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocAbstr.155

doi: 10.3205/13gmds192, urn:nbn:de:0183-13gmds1923

Published: August 27, 2013

© 2013 Genz et al.
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Einleitung und Fragestellung: Suizidales Verhalten äußert sich als Suizidversuch und als Suizid. Für Ostdeutschland im Allgemeinen und Sachsen-Anhalt im Besonderen werden historisch einmalige Rückgänge der Suizide statistisch berichtet. Untersuchungen zu Suizidversuchen sind hier selten durchgeführt worden. Die parallele Erfassung von Suiziden und Suizidversuchen in zwei Zeitperioden in gleicher Umgebung erlaubt die vergleichende Einschätzung des gesamthaften autoaggressiven Problemlösungsverhaltens und ist nach Kenntnis der Autoren bislang nicht bekannt realisiert worden.

Material und Methoden: In der Stadt Magdeburg wurden retrospektiv anhand der Originaldokumente Suizidversuche des Jahres 1988 nach den Einsatzprotokollen des Rettungsdienstes erfasst und 2010 prospektiv entsprechend den Aufnahmen und Konsilanforderungen der beiden psychiatrischen Fachkliniken der Stadt. Die Suizide wurden unter Verwendung der Totenscheine und der staatsanwaltlichen Ermittlungsakten 1988 und 2008 bestimmt. Zum bevölkerungsbezogenen Vergleich wurde die Wohnbevölkerung der Stadt Magdeburg – nach 5-Jahres-Altersklassen – in den beiden Jahren herangezogen.

Ergebnisse: Die absolute Zahl der Suizidversuche - versorgungsplanerisch von Interesse - ist von 321 auf 178 zurück gegangen, um 40 Prozent beim weiblichen und mehr als die Hälfte bei männlichen Geschlecht. Der bevölkerungsbezogene Vergleich der Altersgruppen zeigt ein differenzierteres Bild: Bei beiden Geschlechtern gehen die Suizidversuchsraten bei den unter 40jährigen deutlich zurück, steigen dann an, um im höheren (Renten)Lebensalter massiv abzusinken.

Die vollendeten Suizide sind extrem zurück gegangen: Im Jahre 1988 kam es zu 46 Suiziden beim weiblichen Geschlecht und 64 beim männlichen Geschlecht, 2008 entsprachen dem jeweils 12 und 18 durch Selbsttötung Verstorbene. Unter Bezug auf die Altersstruktur kam es zu keinem Suizid bei Frauen mehr in der Altersgruppe unter 45 Jahren und zu keinem Suizid bei Männern unter 30 Jahren - 1988 hatten sich 10 Personen weiblichen Geschlechts unter 45 und 10 männliche Personen unter 30 Jahren suizidiert.

Diskussion: Suizide und Suizidversuche stehen zwar in einem engem Zusammenhang, die Populationen sind aber nicht deckungsgleich. Gemeinsam können sie in einem übergeordneten Kontext als Endstrecke eines – dysfunktionalen - Problemlösungsverhaltens eingeordnet werden. Unter diesem Blickwinkel kann der Rückgang beider Verhaltensweisen im jungen Alter mit Fehlen von Suiziden insgesamt für eine Verbesserung von Copingfähigkeiten dieser Generation sprechen. Im mittleren Lebensalter - Hauptmanifestationsalter vieler genetisch mitbedingter psychiatrischer Störungen - ist keine positive Veränderung über die zwei Jahrzehnte festzustellen. Im höheren Lebensalter stellt sich ein außergewöhnlicher Rückgang autoaggressiver Verhaltensweisen zwischen den zwei Untersuchungsperioden dar. Da nicht davon auszugehen ist, dass die jetzige Rentnergeneration individuell über bessere Problemlösefähigkeiten als die damals über 65jährigen verfügt, müssen andere Ursachen dafür verantwortlich sein. Sie sind bislang nicht aufgeklärt. Zu diskutieren ist die vergleichsweise wesentlich bessere materielle Situation, eine ungleich größere Selbstverwirklichungsmöglichkeit, möglicher Weise auch eine verbesserte medizinische und auch psychiatrische Betreuung [1]. Negative Korrelationen zwischen Suizidraten und Versorgungskapazitäten und gutem Zugang zu Gesundheitseinrichtungen sind für Österreich [2] und die USA [3] beschrieben worden. Wissenschaftlich bewiesene Erklärungen für deutsche Verhältnisse stehen nach unserer Kenntnis allerdings aus. Vergleichende Untersuchungen zu Suizidideationen sind nicht bekannt - und retrospektiv auch nicht realisierbar. Eine begrenzte Möglichkeit der Aufklärung kann möglicher Weise über Vergleiche der Suizidhäufigkeiten in besonderen vergleichbaren Lebensumständen – wie Heimen – realisiert werden.


Literatur

1.
Robert Koch Institut. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer: Wie hat sich die Gesundheit in Deutschland entwickelt? Beiträge zur Berichterstattung des Bundes. Berlin: 2009. p. 91.
2.
Kapusta ND, Niederkrotenthaler T, Etzersdorfer E, Voracek M, Dervic K, Jandl-Jager E, et al. Influence of psychotherapist density and antidepressant sales on suicide rates. Acta Psychiatr Scand. 2009; 119: 236-42.
3.
Tondo L, Albert MJ, Baldessarini RJ: Suicide rates in relation to health care access in the United States: an ecological study. J Clin Psychiatry. 2006; 67:517-23.