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53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

15. bis 18.09.2008, Stuttgart

Klinische Evaluationsstudie zu Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung (DSD)

Meeting Abstract

  • Anke Lux - Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
  • Eva Kleinemeier - Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Lübeck, Deutschland
  • Grit Hambruch - Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
  • Ute Thyen - Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Lübeck, Deutschland
  • Siegfried Kropf - Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. 53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (gmds). Stuttgart, 15.-19.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. DocMBIO3-5

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/gmds2008/08gmds062.shtml

Published: September 10, 2008

© 2008 Lux et al.
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Einleitung und Fragestellung

“Disorders of Sex Development” (DSD, frühere Bezeichnung „Intersexualität“) sind angeborene Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung, deren Ursache in einer Störung des Prozesses der Sexualdeterminierung und späteren Sexualdifferenzierung liegt. Diese Störung kann auf verschiedenen Ebenen, aus unterschiedlicher Richtung und zu mehreren Zeitpunkten durch genetische Vorgaben oder auch spontane Veränderungen erfolgen. DSD liegt vor, wenn chromosomales, gonadales und phänotypisches Geschlecht voneinander abweichen [1].

Etwa eines von 4.500 Neugeborenen ist von DSD betroffen, d.h. in Deutschland kommen pro Jahr etwa 150 Kinder mit einer entsprechenden geschlechtlichen Auffälligkeit auf die Welt. Bisher fehlen genaue epidemiologische Daten über die Häufigkeit in der Population. Schätzungen gehen davon aus, dass von leichteren Formen der DSD etwa einer von 2.000 Menschen und von schwereren Formen etwa einer von 10.000 Menschen betroffen sind. Bisher sind etwa 20 Ursachen für DSD bekannt. Die häufigsten sind das Adrenogenitale Syndrom (AGS), die Androgeninsensitivität (AIS) oder die Gonadendysgenesie. In vielen Fällen ist jedoch auch heute noch die Ursache nicht bekannt. Aufgrund der Seltenheit der DSD, der Heterogenität der klinischen Symptome und der großen Unterschiede in Bezug auf die chirurgischen und medizinischen Behandlungsverfahren gibt es bisher keine evidenzbasierten Leitlinien wie in anderen Bereichen der Medizin.

Dies führte dazu, dass im Jahre 2003 im Rahmen der Förderinitiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) für seltene Erkrankungen auch das Netzwerk Intersexualität gegründet wurde. Das umfangreichste Projekt dieses Netzwerks ist eine klinische Evaluationsstudie (Rekrutierungszeitraum 1/2005-12/2007), die sich mit der Fragestellung befasst, inwieweit Menschen mit einer Störung der Geschlechtsentwicklung ein erhöhtes Risiko für Beeinträchtigungen und Funktionsstörungen in den Bereichen Lebensqualität, psychische Gesundheit sowie psychosexuelle Entwicklung tragen, und ob dies gegebenenfalls mit der spezifischen Diagnose und den medizinischen Interventionen zusammenhängt. Die Projektleitung der Studie sowie die Netzwerkleitung befinden sich an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, die biometrische Betreuung erfolgt im Institut für Biometrie und Medizinischer Informatik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

Material und Methoden

Bei der genannten Studie handelt es sich um eine prospektive Beobachtungsstudie. Sie richtete sich an Neugeborene, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche mit DSD und deren Eltern sowie an Erwachsene mit DSD. Für die Datenerhebung wurden Fragebögen zu psychosozialen und medizinischen Sachverhalten zusammengestellt. Einerseits wurden standardisierte psychometrische Verfahren verwendet, andererseits wurden auch spezifische Fragebögen zu DSD entwickelt. Die Zusammenstellung der Instrumente variierte mit dem Alters und Entwicklungsstand der Probanden. Daten zu Diagnostik und bisheriger Behandlung wurden zusätzlich durch den behandelnden Arzt bzw. die behandelnde Ärztin mittels eines eigens dafür entworfenen medizinischen Fragebogens erhoben.

Die Datenerhebung erfolgte zunächst über vier Studienzentren in Deutschland, ab Januar 2007 wurden diese Befragungen auch in Österreich und der Schweiz durchgeführt. Nach Erfassung der psychosozialen und der medizinischen Daten wurden die Fragebögen von dem Psychologen / der Psychologin im Studienzentrum pseudonymisiert und dann direkt an die Arbeitsgruppe Biometrie gesandt, wo sie in einer komplexen Microsoft ACCESS 2000-Datenbank erfasst wurden.

Die statistische Auswertung der Daten erfolgt mit der Statistiksoftware SPSS. Nach Abschluss der Datenkontrollen erfolgen zunächst verschiedene Analysen zur Datenqualität (Response-Rate, Anteil von fehlenden Werten, Konsistenz, Heterogenitäten). Dann werden in ersten Übersichtsanalysen Schätzungen zur Prävalenz und Inzidenz der betrachteten Krankheitsbilder angestellt. Es wird eine Übersicht über diagnostische und therapeutische Maßnahmen (Art, Häufigkeit, Zeitpunkt) sowie über die psychosoziale Situation der Studienteilnehmer erstellt.

Weitergehende inferenzstatistische Analysen erfolgen im exploratorischen Sinne. In diesen Analysen werden zunächst Vergleiche hinsichtlich der abhängigen Variablen wie z.B. Lebensqualität oder psychische Gesundheit zwischen den aus unabhängigen Variablen (Diagnose, Behandlungsmaßnahmen) und Kontrollvariablen (soziodemographische Daten, familiäre und soziale Unterstützung, Selbstkonzept) gebildeten Untergruppen vorgenommen (Chiquadrat-Tests, Rangtests oder varianzanalytische Methoden). Durch schrittweise multiple Verfahren der linearen und logistischen Regression werden die wichtigsten Einflussgrößen auf die Befindensdaten ermittelt, wodurch eine gewisse Basis für Prognosen des Einflusses von Interventionen gelegt werden soll. In weiteren multivariaten Analysen (Korrelationsrechnungen und faktoranalytische Methoden) werden die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Zielgrößen analysiert. Dabei wird nach latenten Faktoren (Scores) gesucht, welche die Vielzahl der verschiedenen Ausgangsdaten möglichst gut und komprimiert wiedergeben. Danach wird der Einfluss der unabhängigen Variablen und der Kontrollvariablen auf diese Scores mittels sogenannter „stabilisierter“ multivariater Testmethoden untersucht. Der Vergleich der Scores mit ausgewählten unabhängigen Variablen kennzeichnet den Grad der Übereinstimmung von objektiven Krankheitsparametern mit der subjektiven Empfindung durch die Betroffenen. Andererseits sollen Clusteranalysen in rein datengetriebenen Analysen Gruppen von Patienten mit ähnlichem oder unterschiedlichem Empfinden der Situation aufdecken.

Erste Ergebnisse

Die Interviews wurden von Januar 2005 bis Dezember 2007 durchgeführt. Am 29.02.2008 war Deadline für die Zusendung von Fragebögen an die Biometrie. Die eingegangenen Daten wurden inzwischen sämtlich in der Datenbank erfasst und auf Eingabefehler und Vollständigkeit überprüft. Insgesamt wurde zu 516 Betroffenen (bzw. deren Eltern) Kontakt aufgenommen, von denen 439 persönlich (bzw. zumindest die Eltern) interviewt wurden.

Die am häufigsten in Erscheinung getretene Diagnose ist das Adrenogenitale Syndrom (174mal), gefolgt von der Gonadendysgenesie (85mal), der Androgenresistenz (52mal) und der Androgenbiosynthesestörung (31mal) ist. In vielen Fällen lässt sich keine konkrete Aussage zur Diagnose treffen, weshalb inzwischen ein modifiziertes Klassifikationsschema angewendet wird, welches insbesondere den Einfluss von Testosteron und den Karyotyp berücksichtigt.

Das Erziehungsgeschlecht ist bei den befragten Personen in 123 Fällen männlich, in 315 Fällen weiblich und in einem Fall unklar. Die Datenbank umfasst Personen aller Altersgruppen. Dabei sind in der Gruppe der Neugeborenen (bis 6 Monate) 23, in der Gruppe der Kleinkinder von 6 Monaten bis 3 Jahren 74, in der Gruppe der Kinder von 4 bis 7 Jahren 80, in der Gruppe der Kinder von 8 bis 12 Jahren 86, in der Gruppe der Jugendlichen von 13 bis 16 Jahren 67 und in der Gruppe der Erwachsenen 109 Personen zu verzeichnen. Der Zeitpunkt der Diagnose lag bei 12 der Betroffenen vor der Geburt, bei 273 zur Geburt, bei 29 innerhalb der ersten Woche nach der Geburt, bei 34 innerhalb des ersten Lebensjahres und bei 43 kam es während der pubertären Phase (von Präpubertät bis Postpubertät) zur Diagnosestellung.

Weiteres Vorgehen

Die Auswertung der Daten hat gerade begonnen. Die Analysen zur Datenqualität werden in den nächsten Wochen abgeschlossen. Dann wird mit den oben beschriebenen Methoden konkret auf die Zielgrößen der körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit Bezug genommen, wobei zunächst die Konstrukte Lebensqualität, psychosexuelle Entwicklung sowie Geschlechtsidentität und Geschlechtsrollenverhalten im Vordergrund stehen. Des Weiteren soll die Qualität der medizinischen und psychosozialen Versorgung untersucht werden, wobei es insbesondere um Fragen der Behandlungszufriedenheit von Eltern und Erwachsenen geht, um Bedarf und Angebot bezüglich psychosozialer Versorgung und um Aufklärung. Darüber hinaus sind altersbezogene, diagnosespezifische und themenspezifische Auswertungen geplant.

Danksagung

Die Studie wurde vom BMBF über das Netzwerk Intersexualität gefördert.


Literatur

1.
Thyen U, Hampel E, Hiort O. Störungen der Geschlechtsentwicklung. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2007; 50: 1569-77.