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51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (gmds)

10. - 14.09.2006, Leipzig

cyberMarathon – Können sensorbasierte Informationssysteme Schulkinder zu mehr Bewegung motivieren?

Meeting Abstract

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  • Maik Plischke - TU Braunschweig, Braunschweig

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (gmds). 51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. Leipzig, 10.-14.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06gmds087

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Published: September 1, 2006

© 2006 Plischke.
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Einleitung und Fragestellung

Die Prävalenz von Übergewicht bzw. Adipositas steigt im Kindes- und Jugendalter stetig an. Schuleingangsuntersuchungen belegen ein Übergewicht bei 10-12% und eine Adipositas bei 4-6% der Kinder [1]. In den vergangenen 20 Jahren verdoppelte sich die Anzahl adipöser Kinder. Bis zu 7% der 5-6-Jährigen und bis zu 8% der 13-15 Jährigen leiden heute an Adipositas [2]. Der Trend setzt sich im Erwachsenalter fort. Zwischen 1985 und 2002 stieg die Prävalenz der Adipositas mit einem Body-Mass-Index > 30kg/m2 von 16 auf 23% der 25-69-jährigen an [3]. Folgeerkrankungen des Übergewichts manifestieren sich häufig schon im Kindes- und Jugendalter. Bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen treten gehäuft Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Hyperurikämie und Typ 2 Diabetes mellitus auf [4]. Untersuchungen von Koronararterien zeigten artherosklerotische Veränderungen bereits bei Kindern bei Vorliegen von Risikofaktoren [5]. Bei extrem adipösen Jugendlichen treten zudem gehäuft Depressionen, Selbstwertprobleme und Angststörungen auf. Weitere mit Übergewicht assoziierte Erkrankungen sind Gelenkschäden und -fehlstellungen, Epiphyseolysis capitis femoris, Hautinfektion, Proteinurie, Atembeschwerden bei Anstrengungen u.a. Das Übergewicht entwickelt sich durch ein Missverhältnis zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch. Als Ursachen für die steigende Prävalenz des Übergewichts werden sowohl die gesteigerte Energiezufuhr wie auch die mangelnde körperliche Aktivität bzw. der Energieverbrauch verantwortlich gemacht. Wesentlicher Grund für den langfristigen Rückgang des Gesamtenergieverbrauches durch körperliche Aktivität ist das veränderte, technisierte Alltags- und Freizeitverhalten. Das „cyberMarathon“-Projekt setzt sich zum Ziel, die alltägliche körperliche Aktivität sowie die Teilnahme am Sport von Kindern und Jugendlichen zu steigern und sie für sportliche Aktivitäten zu motivieren. Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I (5 - 10. Klasse) sind dabei die primäre Zielgruppe von „cyberMarathon“. Eine besondere Beachtung gilt dabei Schülerinnen und Schülern mit erhöhtem Adipositasrisiko. Ein Schwerpunkt in diesem Projekt liegt dabei auf den Fragestellungen, ob sich der Einsatz von Assistierenden Gesundheits-technologien [6] bei der Motivation der Kinder zur Steigerung der Alltagsaktivität positiv auswirkt und inwiefern infrastrukturelle Maßnahmen getroffen werden müssen, um den Einsatz von Sensortechnologie und sensorbasierten Informationssystemen auch in der breiten Masse zu gewährleisten und damit die Ergebnisse des Projektes alltagstauglich zu gestalten. Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über den Aufbau des „cyberMarathon“-Projekt zu vermitteln sowie die ersten Ergebnisse der Vorstudie zu präsentieren.

Material und Methoden

In dieser Vorstudie, die über das zweite Schulhalbjahr 2006 durchgeführt wird, wurde in einer 6. Gymnasialklasse der Kooperativen Gesamtschule Laatzen/Hannover zunächst eine sportmedizinische Eingangsuntersuchung durchgeführt sowie eine Blutuntersuchung vorgenommen. Untersucht wurden hierbei 12Schülerinnen und 11Schüler im Alter von 11-13 Jahren. Ziel war hierbei die Aufnahme des körperlichen Status Quo. Um eine kontinuierliche Messung der Alltagsaktivität durchführen zu können, wurden Multisensorarmbänder der Firma Bodymedia vom Typ Sensewear 2 Pro eingesetzt. Sie Sensorarmbänder beinhalten 2-axiale Bewegungssensoren (longitudinal und transversal), Temperatursensoren für die Körper- und Umgebungstemperatur sowie Wärmefluss- und GSR-Sensoren (Leitfähigkeit der Haut). Weitere berechnete Parameter sind der Energieumsatz, physische Aktivität, Aktivitätsniveau, Liege- und Schlafdauer sowie die Anzahl der Schritte. Durch Zeit- und Ereignismarker können einzelne Tätigkeitsabschnitte markiert werden. Die Schulkinder bekommen über eine Arbeitsgemeinschaft nach dem Schulunterricht zwei zusätzliche Sporteinheiten von 60 Minuten angeboten. Die Teilnahme an den Veranstaltungen ist freiwillig. Das Sportprogramm in der Vorstudie beinhaltet vier Blöcke von jeweils vier Wochen aus den Bereichen Ballsportarten, Bewegung und Musik, Funsportarten sowie Rückschlagspiele. Um eine Motivationssteigerung auch außerhalb des Sportprogrammes aufrecht zu erhalten, werden die Kinder einer Wettkampfsituation ausgesetzt. Dazu wurde die in Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt. Der Gesamtenergieumsatz der Gruppen über den Messzeitraum von einer Woche hinweg entscheidet über den Sieg der jeweiligen Gruppe. Zur Erhebung eines Tätigkeits- und Energieumsatzprofiles bei Projektstart wurden Messungen mit den Multisensorarmbändern an den Schulkindern über 167 Stunden hinweg durchgeführt. Um einzelne Tätigkeiten zu dokumentieren, haben die Kinder Ihre Einzeltätigkeiten (z.B. Mittagessen, einzelne Schulstunden, Reitstunden etc.) zunächst in einem Tagebuch protokolliert. Im nächsten Schritt wird die Annotation der Daten auf dem privaten PC bzw. über einen PC in der Schule ermöglicht. Durch die Annotation der Daten ist die Zuordnung des Energieumsatzes von Einzeltätigkeiten möglich. Entsprechend sollen bis zum Ende des Schuljahres weitere Messungen durchgeführt und protokolliert werden, um Veränderungen im Energieumsatz und die Genauigkeit beim Dokumentieren der Daten feststellen zu können. Soll in der Vorstudie in erster Linie durch Fragebogenaktionen die Akzeptanz von Sensoren, Auswertungssoftware und deren Wert bei der Motivation überprüft und durch Messzeiträume der Umgang mit den Sensoren und die Genauigkeit der Annotationen geprüft werden, so sollen in der Hauptstudie zwei Schulklassen verglichen werden und in Wettkampfsituationen gegeneinander antreten. Eine weitere Schulklasse wird nur mit Sensorarmbändern ausgestattet und ihre Daten werden ohne zusätzliches Sportprogramm erfasst. Eine Kontrollklasse hingegen würde kein zusätzliches Sportprogramm angeboten bekommen und nur an einer Eingangs- und Ausgangsuntersuchung teilnehmen. Durch die Dokumentation der Einzeltätigkeiten und deren Energieumsatz lassen sich dann Aussagen darüber treffen, welche Gruppe von Kindern bei welcher Motivationsform die höchste physische Aktivität im Alltag leistet. Ansätze bei der Erfassung von Tätigkeiten bei Schulkindern liefert auch [7]. Die Ergebnisse des Projektes sollen helfen, die Motivation zu einer Verbesserung der Alltagsaktivität durch den richtigen Einsatz von Assistierenden Gesundheitstechnologien zu steigern und den Selbst-Management-Ansatz zu unterstützen (vgl. [6], [8]).

Ergebnisse

Die Erhebung des Ist-Zustandes wurde vor Beginn der Sportprogramme über 167 Stunden hinweg bei 21 der Schülerinnen und Schüler (2 Datensätze waren defekt) durchgeführt. In 92,81% der Zeit wurden die Sensorarmbänder getragen (154 Stunden und 59 Minuten). Die restliche Zeit war das Gerät abgelegt oder ausser Betrieb. Es wurde ein durchschnittlicher Energieumsatz von 16.353 Kalorien mit den Sensorarmbändern gemessen. Das entspricht 2350 Kalorien pro Tag. 35,5% des Energieumsatzes wurde durch sportliche oder aktive Tätigkeiten erreicht (Durchschnittlich 5872 Kalorien in 167 Stunden / 843 Kalorien pro Tag). Die Durchschnittliche Dauer von physischer Aktivität oder Sport beträgt in diesem Zeitraum 24 Stunden und 7 Minuten. Die durchschnittliche Schlafphase beträgt im Messzeitraum 56 Stunden und 16 Minuten. Durch die dauerhafte Annotation der Daten und dem sich Auseinandersetzen mit unterschiedlicher Alltagsaktivitäten wird den Kindern ein Gefühl für Tätigkeiten und Bewegung gegeben. Da sie sich jederzeit Ihre persönlichen Daten über entsprechende Auswertungssoftware ansehen können, ist auch ein direkter Bezug zum Energieumsatz möglich. Abhängig vom einzelnen Tagesprogramm der Kinder lassen sich bis zu 124 Tätigkeitszeiträume (Sportstunde, Fernsehen, Radfahren etc.) in 167 Stunden für ein einzelnes Kind nachvollziehen, die das jeweilige Kind protokolliert hat. Der in der zweiten Messphase mit aufgenommene Wettkampfgedanke wurde ebenfalls sehr positiv aufgenommen und umgesetzt. Die Schülerinnen und Schüler motivierten sich gegenseitig zu mehr Aktivität. So konnte im Messzeitraum unter Wettkampfbedingungen (Der Messzeitraum betrug auch hier wieder 167Stunden.) Mitte März eine Steigerung im Tragen der Armbänder auf 95% der verfügbaren Zeit in der Wettkampfgruppe 1 festgestellt werden. Wettkampfgruppe 2 schaffte es immerhin auf 94%. Dennoch wurde in Gruppe 1 nur ein Tagesenergieumsatz von 2211 Kalorien erreicht. Gruppe 2 hat einen Tagesenergieumsatz mit 2361 Kalorien geschafft. Gruppe 2 ist 41% des gesamten Energieumsatzes auf physischer Aktivität oder Sport zurückzuführen. Auch hier erreichte Gruppe 1 nur eine Quote von 34%.

Diskussion

Die Tatsache, dass das Sensorarmband insgesamt 12 Stunden im ersten Messzeitraum nicht getragen wurde, lässt sich nach Durchsicht der Protokolltagebücher mit Schwimmunterricht in der Schule (ca. 2 Stunden) sowie den normalen täglichen Dusch- und Waschvorgängen begründen. Das Sensorarmband sollte nach Handbuch möglichst nicht unter Wasser gehalten werden, was den Kindern auch bekannt gegeben wurde. Die übrige Zeit lässt sich auf Zeiten nachts zurückführen, in denen sich das Gerät ausgeschaltet hat, wenn die Kontakte die Hautoberfläche nicht ausreichend berührt haben und auf das Ablegen des Armbandes in Einzelfällen. Entsprechend kann man von einer hohen Akzeptanz beim Tragen des Gerätes ausgehen. Zwei Kinder wiesen eine Nickel-Allergie nach dem Tragen auf und fallen als Teilnehmer der Studie für die nächsten Messzeiträume aus. Bei der Erhebung des Ist-Zustandes ist kein signifikanter Unterschied bezüglich der Geschlechter festzustellen. Die Protokollierung über die Tagebücher fiel den Kindern erheblich einfacher als der Umgang mit der Auswertungssoftware. Das lässt sich zum einen auf die englische Benutzeroberfläche, zum anderen aber auch auf die aufwendige Datenübertragung zurückführen. Um das Verfahren für die nächsten Messzeiträume zu vereinfachen, wird in der Schule ein PC nur für diesen Anwendungszweck aufgestellt. Das Tragen der Armbänder und damit die Möglichkeit zu bekommen die eigenen Daten anzusehen, hat den Jugendlichen zunehmend die Möglichkeit gegeben sich untereinander zu vergleichen. Ein Anstieg im täglichen Energieumsatz war nach den ersten 6 Wochen noch nicht festzustellen und wurde auch nicht erwartet. Allein die Tatsache, dass die Kinder eine neue Art der Transparenz haben um Ihre Leistungen zu vergleichen, motivierte bei der Durchführung des ersten Wettkampfes. Durch ein stärkeres Feedback in den nächsten Messzeiträumen (z.B. durch tägliche Vergleichsmessungen und Reports) kann hier noch mehr Motivation erreicht werden. Im nächsten Schritt wird nicht nur der Energieumsatz des gesamten Messzeitraumes betrachtet und bewertet, sondern auch die Daten der Einzeltätigkeiten, um eine bessere Vergleichsmöglichkeit zu bekommen.


Literatur

1.
Kronmeyer-Hausschild K und Wabitsch M. Aktuelle Sicht der Prävalenz und Epidemiologie von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Leitlinien der Deutschen Adipositas Gesellschaft
2.
Wabitsch M et al.. Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. Fortschritte der Medizin 2002; 99-106
3.
Helmert U, Strube H. Entwicklung der Adipositas in Deutschland im Zeitraum von 1985 bis 2002. Das Gesundheitswesen 2004; 66:409-415
4.
Pinhas-Haniel O et al. Increased incidence of non-insulin-dependent diabetes mellitus among adolescents. J Pediatrics 1996; 128:608-15. Übersicht bei: Grann MI. Metabolic precursors and effects of obesity in children: a decade of progress, 1990-1999. Am J Clin Nutr 2001; 73:158-171
5.
Berenson GS et al. Association between multiple cardiovascular risk factors and artherosclerosis in children and young adults. N Engl J Med 1998; 338:1650-6
6.
Korhonen I, Bardram JE, eds. Pervasive healthcare. IEEE Trans Inf Technol Biomed 2004; 8 (3): 229-97.
7.
Cooper AR, Page AS, Foster LJ, Qahwaji D: Commuting to School - Are Children Who Walk More Physically Active? Am J Prev Med 2003;25(4)
8.
Schek H-J. Ubiquitous Computing and Pervasive Health Care. In: Haux R, Kulikowski C, eds IMIA Yearbook of Medical Informatics 2005: Ubiquitous Health Care Systems. Stuttgart: Schattauer; 2005, 1-3.