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51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (gmds)

10. - 14.09.2006, Leipzig

Kann Fallbasiertes Schließen helfen Unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu verhindern?

Meeting Abstract

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  • Florian Hartge - Institut für Medizinische Biometrie und Informatik, Heidelberg

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (gmds). 51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. Leipzig, 10.-14.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06gmds193

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Published: September 1, 2006

© 2006 Hartge.
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Einleitung

In den neunziger Jahren zeigten einige Studien aus den USA, dass Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) ein nicht unwesentliches Risiko bei der Behandlung von Patienten darstellen und dass diese nicht nur zu persönlichen Gefahren für die Beteiligten (geschätzt 770.000 Fälle pro Jahr [1]), sondern auch zu beträchtlichen ökonomischen Verlusten führen (geschätzte 4 Mrd. Dollar pro Jahr [2]). In der Vergangenheit wurden einige Methoden entwickelt, wie die Situation verbessert werden könnte [3]. Computer Physician Order Entry (CPOE), Barcode Identification und Automated Dosing Systems wurden eingeführt, um eventuelle Fehler zu verhindern, die während des Medikationsprozesses (von der Verschreibung bis zu Gabe) auftreten können. Dazu zählen z.B. Schreibfehler, Lesefehler und Verwechslung von Medikations- oder Patientendaten. Eine weitere wirkungsvolle Methode soll den Arzt während des Verordnungsprozesses mit relevanten Informationen und Entscheidungshilfe bei der medizinischen Therapie unterstützen. Hierbei soll geholfen werden, die passende therapeutische Entscheidung für die gegenwärtige Lage zu treffen [4]. Die Computersysteme, die Entscheidungsunterstützung bieten, werden normalerweise an das CPOE angeschlossen. Während der Verordnung überprüfen diese Systeme, ob alle vorhandenen Informationen über den Patienten und seine Medikation mit der eben hinzugefügten Verschreibung in Einklang stehen. Falls zur aktuellen Konstellation eine UAW gefunden wird, wird der Benutzer informiert. Leider arbeiten gegenwärtige Lösungen nicht zur Zufriedenheit der Benutzer [5]. Der Fokus dieser Systeme liegt eher auf hoher Sensitivität als auf Spezifität. So geben herkömmliche Systeme viele falsche Warnungen heraus, die die Nutzer schließlich veranlassen, sie zu ignorieren [6]. Das Ziel des hier vorgestellten Projektes ist, ein Entscheidungsunterstützungssystem zu finden, welches mehr spezifischer und folglich passender warnt, um von den Benutzern ernster genommen zu werden.

Die generelle Idee

Als Technologie wurde Fallbasiertes Schließen (FBS) gewählt, da sie überzeugende Vorteile im Kontext der Arzneimitteltherapie und UAW hat. Erstens funktioniert sie gut in Domänen, in denen formales oder ausdrückliches Wissen verhältnismäßig rudimentär ist, was auf das Feld der UAW zutrifft. Zweitens ist es nicht notwendig, Experten über ihre Art und Weise der Entscheidungsfindung zu befragen, um ein System zu erstellen. Stattdessen können Aufzeichnungen alter Fälle wie Verlaufsnotizen oder Kurven benutzt werden. Drittens ist es einfach, neues Wissen, in Form von neuen Fällen, hinzuzufügen oder das Bestehende anzupassen. Damit ist es Viertens folglich einfach, eine aktuelle Wissensbasis zu handhaben und beizubehalten, was ein relevanter Vorteil in der relativ schnelllebigen Welt der Medikationstherapie ist [7].

Alle Prototypen des Projekts wurden mit Hilfe des Indiana University Case-Based Reasoning Frameworks (IUCBRF) erstellt, welches schnelle und einfache Entwicklung von FBS-Systemen in Java ermöglicht, indem es eine große Menge an Basisfunktionalität zur Verfügung stellt [8]. Die generelle Idee ist, dass ein FBS-System eine Anzahl von medizinischen Fällen mit verifizierten UAW als Fallbasis hält. Dieses System wird an ein Klinikinformationssystem angeschlossen. Jedes Mal wenn ein Arzt eine neue Medikation in das CPOE einträgt, überprüft das System, ob der gegenwärtige Fall signifikante Ähnlichkeit mit einem in der Fallbasis hinterlegten aufweist. Sollte dies der Fall sein, äußert das System eine Warnung, welche sich auf den UAW-Fall bezieht, der in einer ähnlichen Situation zu einer schädlichen Situation geführt hat. Indem alle vernünftigen medizinischen Parameter der Patientenakte in Betracht gezogen werden, wird gehofft, durch das FBS-System spezifischer zu sein als die bisherigen Ansätze. Ein weiterer Vorteil könnte sein, dass kein kausales Wissen erforderlich ist, die Wissensbasis für ein solches System zusammenzustellen. Es werden lediglich verifizierte UAW-Fälle benötigt und nicht die genaue Information, wie es zu der UAW kam, was häufig schwierig zu beurteilen ist. Mit diesem Szenario vor Augen stellen sich zwei Fragen, bevor die Titelfrage beantwortet werden kann. Erstens, welche Anpassungen müssen an FBS gemacht werden, um den Anforderungen der Domäne der UAW zu entsprechen? Zweitens, wie kann ein CBR System abgestimmt werden, um optimale Entscheidungsleistung zu erzielen?

Die erste Frage

Ähnlichkeit in medizinischen Fällen lässt sich meist durch Standardvergleiche von Attributwertpaaren wie Geschlecht, Alter oder Diagnosen beurteilen. Es existiert in diesem Zusammenhang aber eine Hauptherausforderung. Falls auch die Ähnlichkeit von Therapieverläufen beurteilt werden soll. muss dabei auch der zeitliche Verlauf beachtet werden. Das Wissen, dass zwei Patienten die gleiche Medikation empfangen haben, hilft nicht notwendigerweise dabei zu erkennen, ob sie die gleiche UAW erleiden könnten. Es ist zusätzlich wichtig zu wissen, in welcher zeitlichen Konstellation die Medikation verabreicht wurde, da z.B. eine Interaktion zwischen zwei reagierenden Wirkstoffen nur abläuft, wenn beide gleichzeitig im Körper des Patienten vorhanden sind. Die Herausforderung ist folglich ein Algorithmus zu finden, der zwei unterschiedliche Behandlungsverläufe vergleicht und dabei in der Lage ist, die unterschiedlichen zeitlichen Abläufe in Betracht zu ziehen. Es gibt einen Ansatz zu temporalen Ähnlichkeitsmaßen im FBS von [9], aber die dort vorgestellte Modellierung ist leider nicht auf dieses Problem übertragbar. Eine mögliche Lösung wurde basierend auf Kreuzkorrelation gefunden. Medizinische Dosierungsdaten werden hierbei als Reihen von Dosierungen zu bestimmten Zeitabständen dargestellt. Das System korreliert diese Reihen jeder äquivalenten Medikation zweier unterschiedlicher Fälle. Die resultierenden Daten werden dann nach Blöcken von hoher Ähnlichkeit in relativen, zeitlichen Position durchsucht. Dieser Ansatz macht es möglich, ähnliche Blöcke von Behandlungen unabhängig von ihrer absoluten zeitlichen Position zu ermitteln. Der Algorithmus wurde auf einem Satz vorklassifizierten künstlichen Testfällen und einem Satz von 882 realen Patientenfällen, welche nicht klassifiziert waren, angewandt. Die bisherigen Ergebnisse machen einen viel versprechenden Eindruck (Sensitivität 32/32, Spezifität 27/30). Eine komplette Beschreibung von Methoden und Resultaten ist in [10] zu finden.

Die zweite Frage

Um die zweite Frage zu beantworten, wurde eine Untergruppe der UAW in einem speziellen Szenario adressiert. Hier werden Informationen über die Medikation und den Patienten verwendet, um dem Arzt situationsspezifische Dosisempfehlungen zu geben. Die Idee ist, eine Fallbasis für jedes in Frage kommende Medikament zu halten. Die Fälle bestehen aus Informationen betreffend den Patientenzustand, die aktuelle Medikationstherapie und einer Dosisempfehlung. Der Arzt kann einen Auftrag hinsichtlich eines speziellen Medikaments aufgeben und das System bietet auf Basis von seiner Fälle eine Dosisempfehlung an. Für dieses Szenario wurde ein Prototyp für das Medikament Voriconazol entwickelt. In diesem speziellen Fall wird die Dosisempfehlung nicht direkt einem Arzt sondern einem Experten angeboten, welcher diese kontrolliert und weiterreicht. Mit Hilfe der Laborresultate und der Daten des Patienten, ermittelt der Experte Beurteilung der aktuellen Therapie und eventuell eine Empfehlung für weitere Dosierung. Der Experte soll unterstützt werden durch ein FBS-System, das eine brieffertige Beurteilung von der Labor- und Patientendaten erstellt und sie den Experten anbietet. Eine Sammlung von 137 alten Empfehlungen und zugehörigen Daten war als Fallbasis und Testmenge vorhanden. Da es recht einfach war die Daten zu modellieren, war es möglich, sich vollständig auf die Optimierung der Entscheidungsleistung des Systems zu konzentrieren. Zuerst wurde eine Klassifikation der möglichen Beurteilungen erstellt. Dies war erforderlich, um eine Grundlage für automatische Leistungsbewertung zu schaffen. Die Evaluation folgte größtenteils den Vorschlägen von [11], [12]. Der FBS-Prototyp wurde durch Leave-One-Out-Testen geprüft. Das System wurde in diversen analytischen (Sensitivitätsanalyse, Sub-Sampling, Leistung per Klasse) und optimierenden (evolutionärer Optimierer [13], ReliefF-Optimierer [14], DIET-Optimierer [15], unterschiedliche Fallbasisoptimierer) Schritten verbessert. Indem man systematisch die System Leistung optimierte, wurde eine Verbesserung von einer Anfangsgenauigkeit von 33% zu einer Genauigkeit von 70-77% erzielt.

Ausblick

Da die Tests zur ersten Frage hauptsächlich auf künstlichen Daten basieren, kann die Qualität dieses Ansatzes nicht abschließend beurteilt werden. Die 883 realen Fälle wurden von Hand digitalisiert, aber nicht klassifiziert, weshalb sie nicht als Fallbasis und Testmenge für UAW verwendet werden können. Zurzeit wird an Kooperationen mit anderen Institutionen gearbeitet, um die erforderlichen Daten zu erhalten. Mit diesen neuen Daten werden das System und der Ansatz neu bewertet. Dabei werden die Erfahrungen und Ergebnisse, die bei der Beantwortung der zweiten Frage gewonnen wurden, verwendet werden, um die Leistung zu optimieren und die Qualität des vorgestellten Ansatzes zu beurteilen. Durch Kombination der Antworten auf diese zwei Fragen zu einem FBS-System, wird gehofft herauszufinden, ob FBS als Technologie geeignet ist, personalisiertere und damit stärker akzeptierte informationelle Hilfe während der Arzneimitteltherapie zu bieten.

Danksagungen

Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Walter E. Haefeli, Ralf Floca, Dr. Jens Rengelshausen und Prof. Dr. Thomas Wetter.


Literatur

1.
D.C. Classen, S.L. Pestonik, R.S. Evans, J.F. Loyd, et al. Adverse drug events in hospitalized patients, JAMA. 277 (1997) 301-306.
2.
D.W. Bates, N. Spell, D.J. Cullen, E. Burdick, et al. The costs of adverse drug events in hospitalized patients, JAMA. 277 (1997) 307-311.
3.
K. Chung, Y.B. Choi, S. Moon, Toward Efficient Medication Error Reduction: Error-Reducing Information Management Systems, J Med Syst. 27 (2003) 553-560.
4.
D.F. Doolan, D.W. Bates, Computerized physician order entry systems in hospitals: mandates and incentives, Health Aff. 21 (2002) 180-188.
5.
C. Hsieh, et al. Characteristics and consequences of drug allergy alert overrides in a computerized physician order entry system, JAMIA. 11 (2004) 482-91.
6.
P. Glassman, B. Simon, P. Belperio, A. Lanto, Improving Recognition of Drug Interactions: Benefits and Barriers to Using automated Drug Alerts, Med Care. 40 (2002) 1161-1171.
7.
L. Gierl, D. Steffen, D. Ihracky, R. Schmidt, Methods, architecture, evaluation and usability of case-based antibiotics advisor, Comp Meth Prog Biomed. 72 (2003) 139-154.
8.
S. Bogaerts, D. Leake, A framework for rapid and modular case-based reasoning system development. Technical Report TR 608, Computer Science Department, Indiana University, Bloomington, IN, 2005.
9.
R. Schmidt, L. Gierl, Case-Based Reasoning Prognosis for Temporal Courses. Computational Intelligence Techniques in Medical Diagnosis and Prognosis, Studies in Fuzziness and Soft Computing, Vol. 96, (Springer-Verlag, Berlin, 2001) 101-128
10.
F. Hartge, T. Wetter, W.E. Haefeli, A similarity measure for case-based reasoning modelling with temporal abstraction based on cross-correlation, Compute Methods Programs Biomed 81 (2006) 41-8.
11.
A.J. Gonzalez, et al. Validation techniques for case-based reasoning systems, IEEE Transactions on Systems, Man, and Cybernetics - Part A: Systems and Humans. 28 (1998) 465-77.
12.
J.C. Santamaria, A.Ram, Systematic evaluation of design decisions in case-based reasoning systems, in: D.B. Leake, ed., Case-Based Reasoning. Experiences, Lessons and Future Directions (AAA) Press, Menlo Park CA, 1996) 199-233.
13.
J. Paetz, Finding optimal decision scores by evolutionary strategies, AIM, 32 (2004) 85-95.
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M. Robnik-Sikonja, I. Kononenko, Theoretical and empirical analysis of ReliefF and RReliefF, Mach Learn. 53 (2003) 23-69.
15.
R. Kohavi, P. Langley, Y. Yun, The utility of feature weighting in nearest-neighbour algorithms, in: In: M. van Someren, G. Widmer, eds., Proceedings of the European Conference on Machine Learning, ECML'97 (Springer-Verlag, Berlin, 1997) poster.