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51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (gmds)

10. - 14.09.2006, Leipzig

Zur telemedizinischen Betreuung von Diabetikern bei Sensor-gestützter Insulinpumpentherapie – Ergebnisse des INCA-Projekts

Meeting Abstract

  • Oliver Johannes Bott - Technische Universität Braunschweig, Braunschweig
  • Joachim Bergmann - Technische Universität Braunschweig, Braunschweig
  • Ina Hoffmann - Technische Universität Braunschweig, Braunschweig
  • P. Kosche - Technische Universität Braunschweig, Braunschweig
  • C. von Ahn - Technische Universität Braunschweig, Braunschweig
  • Dirk C. Mattfeld - Technische Universität Braunschweig, Braunschweig
  • Enrique J. Gomez - Universidad Politécnica de Madrid, Madrid
  • M. E. Hernando - Universidad Politécnica de Madrid, Madrid
  • Thomas Kaupper - Institut für Diabetesforschung, München
  • Oliver Schnell - Institut für Diabetesforschung, München
  • Dietrich Peter Pretschner - Technische Universität Braunschweig, Braunschweig

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (gmds). 51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. Leipzig, 10.-14.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06gmds112

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Published: September 1, 2006

© 2006 Bott et al.
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Einleitung und Fragestellung

Mit einer Prävalenz von ca. 7%, d.h. 6 Millionen Betroffenen allein in Deutschland stellt Diabetes eine Volkskrankheit dar, wobei die durch Diabetes verursachten jährlichen direkten und indirekten Kosten bei über 22 Mrd. € liegen [1]. Ca. 10% der Erkrankten leiden unter Diabetes Typ I, was den Ersatz der körpereigenen Produktion des Hormons Insulin erforderlich macht. Eine mögliche Therapieform ist die Verwendung einer Insulinpumpe, die mittels eines Katheters Kurzzeitinsulin in das Unterhautfettgewebe abgibt. Derartige Pumpen geben individuell programmiert verteilt über den Tag quasikontinuierlich Insulin ab, wobei der Patient durch Bolusgaben zusätzliches Insulin z.B. bei Mahlzeiten geben kann. Zur Berechnung der richtigen Insulindosis wird insbesondere der aktuelle Glukosespiegel des Blutes benötigt. Hierfür bestimmen die Patienten mehrmals am Tag mit einem Blutzuckermessgerät ihren Glukosespiegel. Seit einigen Jahren wird intensiv an der Entwicklung von Sensoren zur kontinuierlichen Messung des Glukosespiegels gearbeitet. Es liegt nahe, die Resultate eines derartigen Messgeräts zur automatisierten Berechnung der benötigten Insulindosis zu verwenden. Das Projekt ADICOL (ADvanced Insulin Infusion using a COntrol Loop) hat sich 1999 bis 2002 mit dieser Fragestellung befasst, wobei ein Persönlicher Digitaler Assistent (PDA) die Messwerte übernahm, die Berechnung durchführte und den berechneten Insulinbedarf zur Steuerung einer Insulinpumpe verwendete [2]. Auf der Grundlage des ADICOL-Projekts sowie des Projekts M2DM (Multi-access services for telematic Management of Diabetes Mellitus, 1999-2002), das sich allgemein mit der telemedizinischen Betreuung von Diabetikern befasste, ist Ziel des EU-Projekts INCA (Intelligent Control Assistant for Diabetes; http://www.ist-inca.org/) die Weiterentwicklung dieser Konzepte zur telemedizinischen Betreuung von Diabetikern, deren Insulingaben algorithmisch berechnet auf Basis kontinuierlicher Blutzuckermessung über eine Insulinpumpe erfolgen. Diabetes-Patienten entwickeln bei schlechter Glukosestoffwechseleinstellung mir hoher Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Folgeerkrankungen z.B. der Nieren, des Herzens, der Augen oder der unteren Extremitäten. Der Nutzen neuer Ansätze zur Behandlung von Diabetes spiegelt sich daher in einem möglichst normnahen Blutzuckerspiegel des Patienten und aus Sicht der Kostenträger in reduzierten Behandlungskosten insbesondere für Folgeerkrankungen wider. Daher ist neben der Entwicklung des INCA-Systems dessen klinischer Nutzen zu bestimmen und dieser in Beziehung zu den Kosten des Therapieansatzes zu setzen.

Material und Methoden

Das Projektkonzept sieht zwei „Regelkreise“ vor: der Personal Loop verbindet die kontinuierliche Blutzuckermessung kabellos mit einem Smart Assistant (PDA mit UMTS/GPRS-Funktionalität), der einen Algorithmus zur Berechnung der Insulindosis zur kabellosen Weitergabe an die Insulinpumpe enthält, sowie das Pflegen eines elektronischen Diabetes-Tagebuchs erlaubt. Der Remote Loop bettet den patientennahen Personal Loop in die telemedizinische Fernüberwachung der Stoffwechselsituation des Patienten und des Personal Loop ein. Innerhalb des Remote Loop kann ein Diabetologe, ggf. vermittelt über wissensbasiert bestimmte Benachrichtigungen über kritische Entwicklungen, Kontakt mit dem Patienten aufnehmen und steuernd auf den Personal Loop Einfluss nehmen (z.B. über Therapieempfehlungen).

Das Projekt bestand aus den Phasen „Identifikation der Benutzeranforderungen“, „Analyse und Entwurf“, „Implementierung des Personal Loop“ und „Implementierung des Remote Loop“, „Verifikation und Test“, “Klinische Studien“ und „Verwertungsanalyse“. Für die Identifikation der Benutzeranforderungen sowie für Analyse und Entwurf wurde MOSAIK-M (Modellierung, Simulation und Animation von Informations- und Kommunikationssystemen in der Medizin) eingesetzt, ein Werkzeug und Vorgehensmodell zur Analyse und Entwicklung Medizinischer Informationssysteme [3]. Dabei entstand ein von Experten des Anwendungsfeldes (insb. Diabetologen und Patienten) verifiziertes, simulationsfähiges Ist-Modell der derzeitigen Versorgung von Diabetes-Patienten der Zielgruppe. Weiterhin entstand aufbauend auf dem Ist-Modell ein simulationsfähiges Soll-Modell der Diabetes-Therapie gemäß INCA-Konzept, das als Vorlage der Implementierung diente. Beide Modelle gingen im Rahmen der Verwertungsanalyse weiterhin in eine Kosten/Nutzen-Analyse des INCA-Systems ein. Hierfür wurden beide Modelle um Kostenstrukturen erweitert und für das deutsche Gesundheitswesen parametriert [4]. Neben aktuellen Kostendaten aus Gebührenwerken und Preislisten (Stand 09/2005) wurden die Ergebnisse der KoDiM-Studie [5] verwendet, um die Kosten der Behandlung von Folgeerkrankungen des Diabetes aus Sicht des Kostenträgers (ges. Krankenversicherung) abzuschätzen. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Folgeerkrankungen und der wahrscheinliche Eintrittszeitpunkt der Folgeerkrankungen wurde für einen Zeitraum von 30 Jahren mittels des validierten Simulationssystems Archimedes [6] bestimmt. Hierdurch konnten die Behandlungskosten nur des Diabetes (ermittelt mit MOSAIK-M) getrennt von den Kosten der Behandlung von Folgeerkrankungen (ermittelt mit Archimedes) betrachtet werden. Implementiert wurde das System als Erweiterung des M2DM-Systems und unter Integration der verteilten elektronischen Gesundheitsakte V-Net Med, wodurch sichergestellt werden sollte, dass das resultierende System integrationsfähig in Bezug auf aufkommende IT-Infrastrukturen zur Unterstützung vernetzter Versorgung ist [7]. Zwei klinische Partner (Barcelona und München) übernahmen die klinische Prüfung des INCA-Systems vermittels zwei klinischer Studien im Cross-Over-Design. In München erfolgte die Prüfung mit 10 Patienten (Typ 1), die je zwei Monate einer konventionellen Insulinpumpentherapie (CSII) unterzogen und danach bzw. davor zwei Monate gemäß INCA-Konzept behandelt wurden [8]. Hierbei kam ein intermittierender, kontinuierlicher Glukose-Sensor (CGMS) zum Einsatz (drei Perioden a 72h), da ein längerfristig einsetzbarer Glukose-Sensor nicht zur Verfügung stand.

Ergebnisse

Die klinische Studie in München ergab bei beiden Gruppen ausgehend von HbA1C-Werten von 7,6±0,6% (Gruppe 1) und 7,9±0,3% (Gruppe 2) eine signifikante Verbesserung des HbA1c-Wertes um 0,3 % und um 0,4% (p<0,05) [8]. Ausgehend von der Studienkonfiguration des INCA-Systems, den Veränderungen des HbA1c-Wertes und weiterer die Studienpopulation charakterisierender Daten wurden die MOSAIK-M- und Archimedes-Simulationsläufe zur Behandlungskostenermittlung bzw. zur Ermittlung reduzierter Wahrscheinlichkeiten und wahrscheinlicher Eintrittszeitpunkte von Folgeerkrankungen durchgeführt. Der durchschnittliche, wahrscheinliche Eintrittszeitpunkt von Folgeerkrankungen erhöht sich um wenigstens 0,2 Jahre (Gruppe 1, Nierenversagen) bis maximal 9,4 Jahre (Gruppe 2, Fußprobleme). Während die Kosten nur der Diabetesbehandlung für den Kostenträge der CSII bei 5.907,56 € p.a. liegen, entstehen bei einer Behandlung gemäß INCA-Systemkonzept in der Studienkonfiguration Kosten in Höhe von 7.416,81 € p.a. (Diff.: 1.509,25 € ). Bezieht man die Kosten der Behandlung von Folgeerkrankungen mit ein (Zeitraum 30 Jahre), liegen die Kosten der CSII bei 6.405,91 € p.a. bzw. 6.425,73 €, die Kosten gemäß INCA bei 7.800,37 € p.a. (Diff.: 1.394,46 €) bzw. 7.801,68 €.p.a. (Diff. 1.375,95 €).

Diskussion

Die klinische Studie belegt den klinischen Effekt des INCA-Systems in der Studienpopulation. Die Kalkulation der Kosten aus Sicht des Kostenträgers für die Behandlung des Diabetes nach konventioneller Therapie im Vergleich zur Behandlung gemäß INCA ist unter Einbeziehung der Kostenersparnisse durch weniger Folgeerkrankungen im Mittel um ca. 1385,- € (ca. 10,8 %) höher. In dieser Betrachtung nicht berücksichtigt sind Kapitalkosten, sowie indirekte Kosten z.B. durch Arbeitsausfall des Patienten sowie intangible Kosten wie die Verringerung der Lebensqualität. Die Untersuchung dieser Faktoren und ihres Einflusses auf die Entscheidung von Kostenträgern ist derzeit Gegenstand weiterer Untersuchungen. Bei den Simulationsergebnissen des Archimedes-Systems stellt sich die Beschränkung auf einen Zeitraum von 30 Jahren ausgehend vom aktuellen Alter des Patienten als limitierender Faktor dar. Folgeerkrankungen des Diabetes bestehen in der Regel fort und führen insbesondere jenseits des 30-Jahreszeitraums zu erheblichen Kosten. Ihre Berücksichtigung würde die Genauigkeit der Kostenschätzungen vermutlich deutlich erhöhen. Weiterhin zu prüfen ist, inwiefern die dem Archimedes-System zugrunde liegenden Modelle des Gesundheitssystems und der Lebensumgebung der modellierten Patienten den hiesigen Gegebenheiten entsprechen und in welchem Umfang festgestellte Unterschiede das Simulationsergebnis beeinflussen.

Danksagung

Das Projekt wird gefördert durch die Europäische Gemeinschaft (5th EC Frw. Progr.; IST–Information Society Technologies). Wir danken unseren weiteren Partnern: dem Fraunhofer Institut für Siliziumtechnologie (Itzehoe), den Firmen Disetronic (Schweiz), CardGuard (Israel), Telefonica (Spanien) und der Fundacio Diabem (Spanien).


Literatur

1.
Hauner H. Epidemiologie und Kostenaspekte des Diabetes in Deutschland. Dtsch Med Wochenschr. 2005 Jul 8;130 Suppl 2:S64-5
2.
Hovorka R, Chassin lJ, Wilinska ME, et al.: Closing the Loop: The Adicol Experience. In: Diabetes Technology & Therapeutics 2004; 6(3): 307–18
3.
Bott OJ, Bergmann J, Hoffmann I, Vering T, Gomez EJ, Hernando ME, Pretschner DP. Analysis and Specification of Telemedical Systems Using Modelling and Simulation: the MOSAIK-M Approach. Stud Health Technol Inform. 2005;116:503-8.
4.
Bott OJ, Glaub S, Hoffmann I, Bergmann J, Pretschner DP. Zum Einsatz prozess- und simulationsbasierter Methoden im Rahmen der gesundheitsökonomischen Evaluation telemedizinischer Systeme am Beispiel des INCA-Projekts. In: Klar R, Köpke W, Kuhn K et a. (Hrsg.). Tagungsband der 50. JT der GMDS in Freiburg vom 11.-15.9.2005 (www.gmds2005.de),2005: 178-80.
5.
von Ferber L. Die direkten Kosten der Komplikationen bei Diabetes Mellitus. Präsentation 39. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (http://www.pmvforschungsgruppe.de/pdf/03_publikationen/kodim_lvf_2004.pdf, letzter Zugriff: 29.03.2006), 19.-22.05. 2004 in Hannover, 2004.
6.
Eddy DM, Schlessinger L. Validation of the Archimedes diabetes model. Diabetes Care 26(11), 2003: 3102-10
7.
Bergmann J, Bott OJ, Hoffmann I, Pretschner DP. An eConsent-based System Architecture Supporting Cooperation in Integrated Healthcare Networks. Stud Health Technol Inform. 2005;116:961-6.
8.
Kaupper T, Rauch H, Bott O, Hernando E, Hoffmann I, Standl E, Pretschner D, Gomez E, Schnell O. INCA: Mobil- und Internettechnologie zur Sensor-gestützten Insulinpumpentherapie – Ein neuer Weg zur Closed-Loop Applikation. Erscheint in Diabetes und Stoffwechsel (Supplement: Tagungsband der 41. JT der Dt. Diabetes Ges. vom 24.-27.05.2006 in Leipzig).
9.
Larizza C, Bellazzi R, Stefanelli M, Ferrari P, De Cata P, Gazzaruso C, Fratino P, D'Annunzio G, Hernando E, Gomez EJ. The M2DM Project--the experience of two Italian clinical sites with clinical evaluation of a multi-access service for the management of diabetes mellitus patients. Methods Inf Med. 2006;45(1):79-84.