gms | German Medical Science

Entscheiden trotz Unsicherheit: 14. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin

Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V.

15.03. - 16.03.2013, Berlin

Evidenzbasierung und Pluralismus in der Medizin

Meeting Abstract

Search Medline for

  • Joseph Kuhn - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, München, Deutschland
  • David Klemperer - Hochschule Regensburg, Deutschland

Entscheiden trotz Unsicherheit. 14. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Berlin, 15.-16.03.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. Doc13ebmC4

doi: 10.3205/13ebm036, urn:nbn:de:0183-13ebm0362

Published: March 11, 2013

© 2013 Kuhn et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.en). You are free: to Share – to copy, distribute and transmit the work, provided the original author and source are credited.


Outline

Text

Die Durchsetzung des Ansatzes der Evidenzbasierung in der Medizin ist ein wesentlicher Meilenstein in der Entwicklung der Medizin, was die Ausrichtung von Behandlungsverfahren am wissenschaftlichen Sachstand und am Patientennutzen angeht. Mit diesem Ansatz wird der klinischen Erfahrung externe Evidenz aus Studien zur Seite gestellt, um so gemeinsam mit den Patient/innen bestmögliche Behandlungsentscheidungen treffen zu können.

Damit scheint eine methodisch gestützte Vereinheitlichung der Bewertung medizinischer Behandlungen in Sicht, ungeachtet kritischer Diskussionen zu konkreten Verfahrensweisen der evidenzbasierten Medizin im Einzelnen. Diskussionen über „Pluralismus in der Medizin“ gehen jedoch über methodische Aspekte hinaus, sie stellen die Frage, inwiefern sich die Medizin überhaupt auf ein einheitliches Paradigma stützen kann oder ob die Medizin nicht ganz unterschiedlichen und nicht ohne Weiteres zu vereinbarenden Medizintheorien, -traditionen und -praxen folgt und folgen muss. Dies kann – es muss nicht – Konsequenzen für die Anwendbarkeit der Methoden der evidenzbasierten Medizin haben. Als Beispiel kann die Homöopathie dienen, hier gibt es sowohl Forderungen nach einer stärkeren evidenzbasierten Überprüfung der Verfahren als auch Vorstellungen eines grundsätzlich anderen Wissenschafts- und Methodenverständnis. Vergleichbare Diskussionen werden z.B. auch zur Akupunktur oder zur anthroposophischen Medizin geführt.

Der Workshop soll das Spannungsverhältnis zwischen Evidenzbasierung und Pluralismus in der Medizin thematisieren und die bestehenden Diskussionslinien aufzeigen. Dazu gibt es zwei Impulsvorträge:

1. Evidenzbasierung in der Medizin als Leitschnur der Wissenschaftlichkeit

Christian Weymayr

IGeL-Monitor

Die evidenzbasierte Medizin steckt in einem Dilemma: Will sie stringent sein, muss sie die Messlatte für Evidenz so hoch wie möglich legen. Will sie praxisrelevant sein, muss sie die Messlatte im Einzelfall mehr oder weniger weit absenken. Dieses Dilemma offenbart sich besonders im Umgang mit der Homöopathie. Legt man die Messlatte auf ein übliches Niveau, existieren sehr wohl RCTs, Metaanalysen [1] und Cochrane-Reviews, die homöopathischen Arzneien eine Wirksamkeit bescheinigen, obwohl die Homöopathie Krankheitsentstehung, Arzneimittelwirkung und Heilungsverlauf als primär immateriell versteht [2]. Als Ausweg aus diesem Dilemma möchte ich die Überlegungen von Vandenbroucke [3], Hall und Windeler aufgreifen: Arzneimittel und Verfahren müssen zeigen, dass sie nicht im Widerspruch zu gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Physik, Chemie und Physiologie stehen, bevor sie in klinischen Studien getestet werden. Können sie das nicht, sind klinische Studien irrelevant und sollen, um einen Missbrauch scheinbar positiver Ergebnisse auszuschließen, unterbleiben. Ich schlage für diese Eigenschaft der klinischen Untersuchbarkeit den Begriff „Scientabilität“ vor: Arzneimittel und Verfahren sind dann „scientabel“, wenn sie nicht im Widerspruch zu gesicherten Erkennt-nissen stehen. Evidenzbasierung in der Medizin kann nur dann als Leitschnur der Wissenschaftlichkeit dienen, wenn sie die Bedingung der Scientabilität erfüllt.

2. Komplementärmedizinische Ansätze in der Onkologie zwischen Medizintheorie, Patientenerwartungen und Evidenzbasierung

Jutta Hübner

Leiterin der AG Integrative Onkologie, J.W. Goethe Universität Frankfurt/M.

Ziele von Tumorpatienten sind eine direkte Wirkung gegen den Tumor, supportive Wirkungen und die Möglichkeit, eigenständig zu entscheiden und selber aktiv zu werden. Statt einer ideologischen Auseinandersetzung sollten diese Patientenziele die Diskussion leiten.

Die Onkologie fördert hohe Erwartungen in ihre Möglichkeiten. Wenn der Patient von seinem betreuenden Onkologen erfährt, dass „nun nichts mehr zu machen sei“(!), kann dies kaum verstanden werden, zumal die kommunikative Fähigkeiten vieler Ärzte in diesen zentralen Gesprächen versagt.

Ob Tumor- oder supportive Wirkung - es geht um eine Verbesserung einer schwierigen Situation. Um diesem Patientenwunsch gerecht zu werden müssen wir die Fragen nach Wirkung, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen beantworten.

Dazu brauchen wir gesicherte Ergebnissen (Evidenz) aus klinischen Studien. Der Verweis auf die Erfahrungsheilkunde ist hier gerade für die Onkologie irreführend.

Traditioneller Einsatz sagt wenig über Nutzen und Risiko aus. Die sichtbare Wirkung im Einzelfall kann täuschen. Kommt es direkt oder indirekt zu einem Tumorwachstum, so kann der Zeitpunkt, zu dem dies realisiert wird, bereits zu spät sein.

Patienten geht es um die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Entscheidung und selbständigen Durchführung. Gerade wegen der nicht bewiesenen Notwendigkeit der Therapie besteht Handlungsfreiheit. Diese Handlungsfreiheit muss aber von einem hohen Verantwortungs-bewusstsein seitens des Arztes insbesondere bei Therapieverfahren mit niedriger Evidenz begleitet werden. Die bekannten ethischen Grundprinzipien stellen die Richtschnur dar. Fehlende Evidenz kann zur Eminenz-basierten Medizin führen, welche dem 1. Prinzip der Patientenautonomie widerspricht. Damit grenzt sich verantwortungsbewusste komplementäre Onkologie von paternalistischer Alternativmedizin ab.

3. Pluralismus in der Medizin als Lösung, (vorläufiger?) modus vivendi oder medizintheoretischer Anachronismus?

Robert Jütte

Robert-Bosch-Stiftung Stuttgart

Als Folge des Professionalisierungsprozesses in der Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine Reihe von neuen Heilweisen wie Homöopathie, Wasserheilkunde oder Mesmerisms als „Quacksalberei“ eingestuft. Als sich der Terminus Komplementärmedizin und Alternativmedizin (CAM) im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durchsetzte, änderte sich die Bedeutung des Begriffs Medizinischer Pluralismus, indem der Kurpfuscher nicht mehr derjenige war, der eine unkonventionelle medizinische Methode vertrat. Die neue Grenzziehung erfolgte auf Grund ethischer Kriterien, wie z. B. Kompetenz, Qualifikation, Verhalten, Verantwortung und Professionalität, unabhängig von der Therapieform. Diese Entwicklung wird auch unter dem Begriff „neuer Pluralismus“ gefasst. Gezeigt werden soll unter anderem, dass der medizinische Pluralismus ein Konzept ist, welches der Tatsache Rechnung trägt, dass es im Bereich der Gesundheitsversorgung von den Laien bis zu den professionellen Anbietern verschiedene, darunter auch evidenzbasierte Wahlmöglichkeiten gibt.


Literatur

1.
Linde K, et al. Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? A meta-analysis of placebo-controlled trials. The Lancet. 1997;350:834-43.
2.
Sparenborg-Nolte A. Das Leitbild "Homöopathischer Arzt". Ärztliche Homöopathie. 2013;21-2.
3.
Vandenbroucke JP. Homoeopathy trials: going nowhere. The Lancet. 1997;350:824.