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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Bedarfsgerechte Weiterentwicklung regionaler Versorgungsstrukturen in der Kurzzeitpflege

Meeting Abstract

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  • Sebastian Müller - Wilhelm Löhe Hochschule, Fürth, Germany
  • Peter Jaensch - Wilhelm Löhe Hochschule für angewandte Wissenschaften, Fürth, Germany
  • Jürgen Zerth - Wilhelm Löhe Hochschule, Fürth, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocP190

doi: 10.3205/17dkvf323, urn:nbn:de:0183-17dkvf3236

Published: September 26, 2017

© 2017 Müller et al.
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Hintergrund: Fragen der Versorgung von Menschen mit im Alter komplexerem Betreuungsbedarf dominieren zusehends die Entwicklung im Gesundheitswesen. Veränderte Familienstrukturen lassen dabei die Idee eines stabilen familiären Betreuungs- und Versorgungsnetzes an Bedeutung verlieren. Gleichzeitig befördert die Entwicklung zu einem funktionalen Gesundheitsbegriff den Bedeutungsgewinn zielgerichteter Strategien inter- und intrasektoraler Übergänge. Exemplarisch zeigt die Verweildauerreduktion im Krankenhaus mit gleichzeitig höherer Fallschwere bei Entlassung einen veränderten Pflege- und Betreuungsbedarf in nachgelagerten Einrichtungen. Dieser Prozess geht einher mit der Entwicklung, dass Übergänge in Pflegeheimen, gerade in Kurzzeitpflegen, erst in einem späten Stadium der Pflegebedürftigkeit erfolgen. Die Folge ist, dass Pflegeheimplätze oftmals akut und deshalb kurzfristig durch Angehörige oder Krankenhäuser angefragt werden.

Fragestellung: Die komplementäre Ergänzungs- und Entlastungsfunktion von Kurzzeitpflege trifft auf eine Angebotsstruktur, die Pflegeheime aufgrund der institutionellen Anreizbedingungen dazu drängen, möglichst ständig alle Pflegeheimplätze voll auszulasten. In enger Abstimmung mit den Pflegekassen werden im dargestellten Modellprojekt fünf zusätzliche Kurzzeitpflegeplätze außerhalb des Versorgungsvertrages und damit ohne Belegungszwang befristet auf zwei Jahre vorgehalten, die spontan belegt werden können. Forschungsleitende Hypothese ist, dass mit dieser Vorgehensweise eine bestehende Versorgungslücke, die bei einer Vollauslastung der Heimplätze existiert, geschlossen werden kann. Dabei sollen komplementär potenzielle Entlastungswirkungen für pflegende Angehörige untersucht werden. Die Übertragbarkeit einer flexiblen „atmenden“ Struktur von Pflegeheimplätzen auf ähnlichen sozioökonomischen Kontexten soll darüber hinaus überprüft werden.

Methode: In zwei Pflegeheimen in Regionen mit niedriger Bevölkerungsdichte und im Vergleich erhöhter demographischer Alterung werden über einen Zeitraum von zwei Jahren strukturiert Bewohnerdaten von Kurzzeitpflegepatienten und Daten der pflegenden Angehörigen aufgenommen. Ziel ist es darstellen, welche Personen, mit welchem Betreuungsprofil Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen. Darüber hinaus werden Angehörige mit Hilfe eines Fragebogens zur Nutzung der Kurzzeitpflege und der individuellen Belastungssituation befragt. Qualitative Interviews mit weiteren Akteuren die Teil der Schnittstellenübergänge sind, etwa Krankenhaus und Kommune, ergänzen die Daten.

Erwartete Ergebnisse: Erste Auswertungen von ca. 120 Patienten im ersten Untersuchungsjahr lassen erkennen, dass ohne das Angebot der zusätzlichen Pflegeplätze annähernd jede zweite Anfrage für Kurzzeitpflege hätte abgelehnt werden müssen. Vor diesem Hintergrund gilt die Vermutung, dass durch das flexible Angebot regionale Versorgungslücken zumindest teilweise geschlossen werden. Die Analyse der Bewohnerströme zeigt weiterhin, dass in der untersuchten Region – zwei Standorte werden explizit beobachtet – im Vergleich zur durchschnittlichen Versorgung die Bereitschaft zur informellen, familiär getragenen Pflege deutlich höher ist. Dies lässt sich u. a. auf das noch stärker vorhandene Pflege-Töchterpotenzial in der Region zurückführen. Darüber hinaus werden mehr Pflegebedürftige, die aus der häuslichen Pflege kommen, im Anschluss an die Kurzzeitpflege stationär aufgenommen. Ursächlich hierfür könnte der durchschnittlich höhere Pflegegrad sein, den häuslich gepflegte Personen im ländlichen Raum haben.

Diskussion: Erste Hinweise aus der qualitativen Untersuchung pflegender Angehöriger zeigen Rückwirkungen der höheren informellen Pflegebereitschaft auf den Gesundheitszustand pflegender Angehöriger und somit auch auf die Stabilität des Pflegearrangements. Die Flexibilität des Angebots im Modellprojekt hat darüber hinaus Rückwirkungen auf das „Pflegewissen“ der beteiligten Akteure in der Region. Somit ist das dargestellte Angebot Teil einer veränderten "Logik" von Pflegearrangements, beginnend von ambulanten Pflegeangeboten, über Tagespflege bis hin zur Stärkung der Selbstpflegekompetenz der betreffenden Personen etwa über Maßnahmen der Wohnraumanpassung. Die Frage der Übertragbarkeit der gewonnenen Ergebnisse auf vergleichbare sozioökonomische Räume gilt es in einer erweiterten Untersuchung zu diskutieren.

Praktische Implikationen: Die Fragestellung adressiert ein konkretes anwendungsorientiertes Versorgungsproblem des ländlichen Raumes. Für viele Pflegende und Gepflegte ist die Kurzzeitpflege ein wichtiges Moment innerhalb der Pflegekarriere, da sich häufig die Organisation der Pflege nach Inanspruchnahme der Kurzzeitpflege ändert. Dieses Moment sollte noch stärker dazu genutzt werden, strukturiert zusätzliche Angebote für pflegende Angehörige und Gepflegte zu konzipieren.