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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Moralische Konflikte in der Palliativversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund

Meeting Abstract

  • Christian Banse - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Germany
  • Sonja Owusu-Boakye - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Germany
  • Maximiliane Jansky - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Germany
  • Gabriella Marx - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Germany
  • Friedemann Nauck - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingeb, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV167

doi: 10.3205/17dkvf152, urn:nbn:de:0183-17dkvf1528

Published: September 26, 2017

© 2017 Banse et al.
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Text

Hintergrund: Studien legen nahe, dass die medizinische Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland mit spezifischen Herausforderungen verknüpft ist. Der Anspruch einer Versorgungsgerechtigkeit scheint bisher nicht ausreichend erfüllt. Die Palliativversorgung ist davon nicht ausgenommen; die Versorger werden durch das jeweilige Erleben der Krankheit und des nahenden Todes im besonderen Maße mit Wünschen von Patienten konfrontiert. Im Vordergrund der Palliativversorgung steht ein Vorgehen, das die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigt und Unterstützung durch einen multiprofessionellen Ansatz im Rahmen der Palliativmedizin für verschiedenste Versorgungsbedarfe anbietet. Patienten mit Migrationsgeschichte haben durch Fluchterlebnisse, unsicheren Aufenthaltsstatus, Sprachbarrieren, Unklarheiten in der Finanzierung der medizinischen Behandlung, erlebte Ausgrenzung und Statusverlust einen hohen Bedarf an Unterstützung, der die Versorger herausfordert und an ihre moralischen Grenzen bringen kann. Inwiefern Moralvorstellungen die Versorgung von schwer erkrankten Menschen mit Migrationsgeschichte beeinflussen, wird bisher in der Forschung kaum betrachtet.

Fragestellung: Im Rahmen einer qualitativen Studie über die Versorgung von unheilbar erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund wurden klinisch Tätige zu den Herausforderungen befragt, und ob (oder inwieweit) diese aus ihrer Sicht die medizinische Versorgung beeinträchtigen, welche Rolle dabei Moral für die Versorger spielt, wie das eigene Handeln in Situationen beschrieben und bewertet wird, in denen das palliative Unterstützungsangebot nicht umgesetzt werden kann und wie die Grenzen eigenen Handelns verarbeitet und gerechtfertigt werden.

Methode: Qualitatives Studiendesign mit narrativen Interviews von 20 Versorgern (Ärzten, Psychoonkologen, Pflegenden) mit Erfahrungen in der (spezialisierten) palliativen Versorgung und Begleitung von schwer an Krebs erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgte mit der Grounded Theory und im Hinblick auf die Bedeutung von Moral in sozialen Situationen auf Basis der Moralsoziologie nach Boltanski, in der danach gefragt wird, wann Moral relevant wird und welche sozialen Effekte sie mit sich bringt.

Ergebnisse: Es gibt migrationsspezifische Aspekte, die die Versorgung beeinflussen. Versorger nehmen hohe Erwartungen der Patienten an das medizinische System in Deutschland wahr, denen sie in ihrem Empfinden nicht entsprechen können. In ihrer Tätigkeit erleben sie sich gelegentlich handlungsohnmächtig oder hilflos, besonders dann, wenn sie helfen wollen, es ihnen institutionell jedoch nicht möglich ist (z.B. Behandlungen und Rückkehrwünsche durchzusetzen), Absprachen zwischen medizinischem Personal und Patient nicht eingehalten werden oder Themen wie Sterben und Tod nicht angesprochen werden dürfen. Der vermeintlich kulturell fremde Hintergrund der Patienten verunsichert viele Versorger. Einige Versorger berichten von Erfahrungen mit geflüchteten Patienten, die sich in rechtlich und zugleich sozial unsicheren Lebenssituationen befanden. Das Erleben der Versorger ist durch Unklarheit darüber geprägt, ob und auf welche Weise palliativmedizinische Angebote unter dem Asylbewerberleistungsgesetz gewährt werden. Bei den Versorgern werden diese Unsicherheiten als moralische Konflikte erlebt, weil die üblichen Hilfsangebote nicht ausreichen. Für Behandelnde ist die Palliativversorgung häufig mit einer emotionalen Belastung und Erweiterung ihres Aufgabengebiets verbunden, da eine angemessene Versorgung von im Asylverfahren befindlichen Patienten zusätzliches Wissen oder u.U. besonderes psychosoziales Engagement verlangt.

Diskussion: Soziologische Ansätze zur Bedeutung von Moral, die im medizinischen Forschungskontext wenig Beachtung finden, sensibilisieren für Konflikte, die die Versorgung erschweren. Diese soziologische Sicht auf moralische Bewertungen eigenen Handelns zeigt, dass (1) die übliche Vorgehensweise bei der Versorgung von Palliativpatienten so wahrgenommen werden kann, dass man an Grenzen stößt, die den Sinn eigenen Handelns infrage stellen, und dass (2) ein moralisch ‚gutes‘ Vorgehen für die Versorger hohe Relevanz hat. Die Ergebnisse zeigen, dass Behandelnde in der Palliativversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl haben, dass sie nicht so handeln können, wie sie wollen. Anspruch und Wirklichkeit gehen auseinander. Die Versorgung kann durch diesen Konflikt negativ beeinflusst werden.

Praktische Implikationen: Für eine angemessene palliativmedizinische Behandlung in der letzten Lebensphase ist es wichtig, die Grenzen individuellen Handelns zu erkennen. Die Versorgungsstrukturen müssen angepasst werden. So wird etwa die Notwendigkeit einer Sozialdienstleistung deutlich, die auch über die klinischen Strukturen hinausgeht.