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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

„Sie haben doch nichts“ – Die Versorgungserfahrung des Nicht-Ernst-Genommen-Werdens von Patientinnen mit Endometriose

Meeting Abstract

  • Helen Ewertowski - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Iris Brandes - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Tatjana Senin - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Vera Kleineke - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Thorsten Meyer - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV101

doi: 10.3205/17dkvf126, urn:nbn:de:0183-17dkvf1268

Published: September 26, 2017

© 2017 Ewertowski et al.
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Text

Hintergrund: Etwa zehn Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter sind von Endometriose betroffen. Mit einer durchschnittlichen Diagnoselatenz von sechs bis sieben Jahren und dem chronischen Verlauf der Erkrankung gehen vielschichtige Krankheits- und Versorgungserfahrungen von Patientinnen einher. Der Einbezug dieser Erfahrungserlebnisse in wissenschaftliche Analysen könnte maßgeblich dazu beitragen, Strukturen und Behandlungsabläufe für die Versorgung von Frauen mit Endometriose zu verbessern.

Fragestellung: Um der Heterogenität von Leistungserbringern, Patientinnen und Versorgungsprozessen Rechnung zu tragen, wurde eine ergebnisoffene Forschungsfrage gewählt: Welche Versorgungserfahrungen machen Frauen mit Endometriose ab dem Auftreten erster Beschwerden?

Methode: Zur Beantwortung der Fragestellung wurden leitfadengestützte Interviews nach kriterienbasiertem und theoretischem Sampling erhoben. Gewählte Kriterien betrafen das Alter der Patientin, die Dauer der Diagnoseverzögerung sowie der Erkrankung und die Leistungserbringer vor Ort. Insgesamt wurden 35 Leitfadeninterviews mit hohen narrativen Anteilen mit Frauen mit Endometriose durchgeführt und primär inhaltsanalytisch ausgewertet. Weiterhin fanden konversationsanalytische Verfahren Anwendung, um die analytische Qualität bei komplexen sprachlichen Erfahrungsaufschichtungen im biographischen Kontext zu gewährleisten.

Ergebnisse: Eine zentrale Kategorie der Versorgungserfahrungen von Frauen mit Endometriose, unabhängig von den oben genannten Kriterien, betraf das Erleben des Nicht- Ernst-Genommen-Werdens bzw. Nicht-Ernst-Nehmens. In Ausnahmefällen wurden von betroffenen Frauen auch explizit positive Erfahrungen mit Bezug auf ein Ernst-Genommen-Werden berichtet. In allen Interviews aber kam es zu Schilderungen eines Nicht-Ernst-Nehmens bzw. Nicht-Ernst-Genommen-Werdens, zu verschiedenen Zeitpunkten im Versorgungsverlauf und innerhalb identifizierter Dimensionen: Leistungserbringer, Gesellschaft inklusive sozialem Umfeld und die Patientin selbst stellen ein Nicht-Ernst-Nehmen mit verschiedenen Facetten her. Dabei ist davon auszugehen, dass die aufgeführten Dimensionen sich in Ausprägung und Konsequenzen gegenseitig bedingen und daher nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. So konnte z.B. die (durch Annahmen über die Gesellschaft und andere Frauen geprägte) Vorstellung einer Frau, dass die Periode schmerzhaft sei, dazu führen, dass sie sich selbst nicht ernst nahm und ihre Beschwerden normalisierte. Dies konnte zur Folge haben, dass Beschwerden in Arztkontakten nur unzureichend angesprochen wurden. Wurden die geschilderten Probleme von Leistungserbringern ebenfalls trivialisiert, konnte ein eigenes Ernst-Nehmen erschwert werden, wodurch ein Sprechen über als tabu-besetzte Themen ebenfalls im sozialen Umfeld negativ beeinflusst werden konnte. Facetten des Nicht-Ernst-Nehmens durch Leistungserbringer betrafen u.a. die Aberkennung von Beschwerden („sie haben doch nichts“), die Erwägung alternativer Erklärungen („es könnte am Darm liegen“), ein Angebot einfacher Lösungen (wie „die Pille“ oder Sitzbäder) oder ausbleibende Erklärungen bei Diagnosestellung. Ein Nicht-Ernst-Nehmens durch Kommunikationspartner konnte auf persönlicher Ebene u.a. damit einhergehen, dass Arztkontakte vermieden und wirksame Schmerzmittel abgelehnt wurden.

Diskussion: Für die Rekrutierung der Interviewpartnerinnen wurde in diversen Medien auf die Studie hingewiesen. D.h. an einem Interview interessierte Frauen meldeten sich bei uns. Das Interesse war deutlich größer als erwartet, wodurch nicht auszuschließen ist, dass Interviewpartnerinnen in besonderem Maße negative Versorgungserfahrungen gemacht hatten. Aufgrund von über 270 Nachfragen nach Gesprächen seitens der Frauen ist aber auch davon auszugehen, dass es sich bei negativen Versorgungserfahrungen nicht um einen Ausnahmefall handelt. Trotz differierender Kriterien, wie das Alter der Patientin oder die Krankheitsdauer, wurden von Interviewpartnerinnen ähnliche Erfahrungen berichtet, wodurch nach etwa einem Drittel der Interviews im Auswertungsverlauf kaum neue Aspekte in Bezug auf Versorgungserfahrungen identifizierbar waren und damit in Bezug auf dieses Studienziel eher eine theoretische Sättigung eintrat als angenommen.

Praktische Implikationen: Frauen mit Endometriose sollten von Leistungserbringern und ihrem sozialen Umfeld mit ihren Beschwerden ernst genommen werden. Ein Ernst-Nehmen durch alle Akteure könnte u.a. zu einer Minimierung der Diagnoselatenz beitragen, eine Therapie bei erneuten Beschwerden optimieren und die Lebensqualität der Patientinnen verbessern.