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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Einflussfaktoren auf die Handlungskompetenz von Menschen mit Prostatakrebs

Meeting Abstract

  • Silke Kramer - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Marius Haack - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Stefan Nickel - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
  • Christopher Kofahl - Uniklinik Hamburg Eppendorf, Hamburg, Germany
  • Silke Werner - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
  • Olaf von dem Knesebeck - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
  • Gabriele Seidel - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Marie-Luise Dierks - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV140

doi: 10.3205/17dkvf086, urn:nbn:de:0183-17dkvf0867

Published: September 26, 2017

© 2017 Kramer et al.
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Text

Hintergrund: Prostatakrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Männern in Deutschland. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 71 Jahre (Robert Koch Institut 2015). Die Folgen der Erkrankung und/oder Therapie können zu körperlichen Einschränkungen und psychischen Belastungen führen und stellen hohe Anforderungen an die Gesundheits- und Handlungskompetenz der Betroffenen.

Fragestellung: Es wird untersucht, wie hoch die Handlungskompetenz von Prostatakrebserkrankten ist und von welchen Faktoren (u.a. Alter, Bildung, Einkommen, Inanspruchnahme von Selbsthilfegruppen) diese beeinflusst wird.

Methode: Um Zugang zu Männern mit Prostatakrebs in einer vergleichbaren Region mit ähnlich lange zurückliegender Krebsdiagnose zu erhalten, wurden über die Vertrauensstelle des Epidemiologischen Krebsregisters Niedersachen (EKN) dechiffrierte Datensätze der Meldejahre 2010 bis 2012 genutzt. Ein standardisierter Fragebogen erfasste u.a. Soziodemografie, Mitgliedschaft in Selbstgruppen und Umgang mit der Erkrankung, er wurde im Juli 2015 (T0) zusammen mit einem personalisierten Anschreiben vom EKN an 9781 Männer (nach Abgleich mit den Sterbedaten) versandt, ein Erinnerungsschreiben war aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich. Die Auswertung der hier vorgestellten T0-Ergebnisse erfolgte mittels SPSS 24 auf deskriptiver und analytischer Ebene.

Ergebnisse: 2258 der angeschriebenen Personen (23,1%) nahmen an der Studie teil, mittleres Alter 71,7 Jahre. Ein Großteil der Befragten gibt an, sich im Untersuchungs- und Behandlungsprozess aktiv zu beteiligen, indem sie sich z.B. häufig oder immer (89%) alle Schritte erklären bzw. Untersuchungsergebnisse zeigen (82%) oder aushändigen (63%) lassen. Durchgängig zeigt sich hier ein Bildungsgradient: je höher die Bildung, umso größer ist der Anteil derjenigen, die aktiv im Behandlungsprozess mitwirken. Die absolute Differenz zwischen niedriger und hoher Bildung bewegt sich zumeist zwischen 8 und 15 %. Vor weitreichenden Entscheidungen holen jedoch hoch Gebildete mit 56% im Vergleich zu nur 32 % der niedrig Gebildeten häufiger eine Zweitmeinung ein. Die Entscheidung über die Art der Behandlung, falls es Alternativen gibt, möchten von den hoch gebildeten mehr Patienten selbst treffen (40%) als bei den niedrig Gebildeten (27%). Die Entscheidung allein dem Arzt überlassen möchten 19% der niedrig, aber nur 11% der hoch Gebildeten. Eine gemeinsame Entscheidung wird von allen Bildungsschichten favorisiert. Die analytische Auswertung mittels logistischer Regression zeigt, dass sich jemals Selbsthilfeaktive im Vergleich zu niemals Selbsthilfeaktiven mit einer 2,3 fach so hohen Wahrscheinlichkeit (p<0,001) häufig oder immer eine ärztliche Zweitmeinung einholen. Weitere Einflussfaktoren stellen Bildung (niedrig vs. höher, OR 1,7, p<0,001), Leben in Partnerschaft (OR 1,9, p=0,001) und Kenntnis über Leitlinien (OR 1,6, p<0,001) dar. Kontrolliert wurde für den Zustand nach operativer Entfernung der Prostata. Bei der Entscheidung über die Behandlungsart geht der größte Einfluss vom Bildungsniveau aus (niedrig vs. höher, OR 1,4, p=0,002), gefolgt von der Selbsthilfeaktivität (nie versus jemals) (OR 1,3, p=0,32). Die Wahrscheinlichkeit, dass jemals Selbsthilfeaktive einen Untersuchungs- oder Therapievorschlag ihrer Ärzte ablehnen, ist 1,8 fach so hoch wie bei niemals Selbsthilfeaktiven (p=0,246), ohne weitere Einflussfaktoren im Modell. Ob Fragen nach Neben- oder Wechselwirkungen von Medikamenten gestellt werden, ist nur mit der Kenntnis von Leitlinien (OR 1,4, p=0,001) assoziiert. Patienten vermitteln häufiger, dass sie bei Entscheidungen eingebunden sein möchten, wenn sie schon mal von Leitlinien gehört haben (OR 2,1, p<0,001) und wenn sie höher gebildet sind (OR 1,4, p=0,004).

Diskussion: Bei den gegenüber den behandelnden Ärzten besonders kritischen Aktivitäten wie Einholen einer Zweitmeinung oder Ablehnung eines ärztlichen Vorschlages dominiert der Einfluss einer aktuellen oder früheren Selbsthilfegruppenmitgliedschaft gegenüber höherer Bildung, Leben in Partnerschaft oder Kenntnis von Leitlinien. Bedingt durch das Querschnittsdesign lässt sich eine zeitliche Sequenz allerdings nicht abbilden. Somit wäre denkbar, dass sich durch die Selbsthilfeaktivität ein größeres Selbstbewusstsein, ein medizinischer Kompetenzgewinn und in Folge dessen der kritische Umgang mit Ärzten entwickelt hat. Zum anderen kann postuliert werden, dass der Eintritt in eine Selbsthilfegruppe Folge einer bereits vorher bestehenden kritischen und selbstbewussteren Persönlichkeit ist.

Praktische Implikation: Es besteht Forschungsbedarf zur Klärung der Frage, ob die soziale Unterstützung und Wissensvermittlung durch Selbsthilfegruppenmitgliedschaft eine kritischere Haltung der Patienten bewirkt oder sie eher selbst eine Folge dieser Einstellung ist. Zur Verifizierung geeignet wären Kohortenstudien mit inzidenten Patienten, die im Follow-up untersuchen, ob sich Effekte einer evtl. späteren Selbsthilfegruppenaktivität zeigen.