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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Gesundheits- und Sozialstrukturanalysen: Methodik und Bedeutung für die Versorgungsforschung am Beispiel der ambulanten, vertragsärztlichen Bedarfsplanung

Meeting Abstract

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  • Nadine Wittmann - Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung Berlin, Berlin, Germany
  • Gerhard Meinlschmidt - Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung Berlin, Berlin, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV200

doi: 10.3205/17dkvf045, urn:nbn:de:0183-17dkvf0451

Published: September 26, 2017

© 2017 Wittmann et al.
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Hintergrund: Ein wichtiges Charakteristikum des deutschen Gesundheitssystems ist die ambulante Versorgung durch niedergelassene Ärzte. Neben Notfallbehandlungen in Rettungsambulanzen ist der niedergelassene Arzt der erste Ansprechpartner in der Gesundheitsversorgung. Die letzte Novelle der Bedarfsplanung-Richtlinie in 2013 ergab, dass neben Altersstrukturen weitere regionale Besonderheiten Berücksichtigung finden können. Und auch mit dem Versorgungsstärkungsgesetz vom 23. Juli 2015 wurde die Erhaltung bzw. Schaffung von Chancengleichheit im Raum weiter forciert. Daher hat der Gemeinsame Bundesausschuss ein Gutachten in Auftrag gegeben, welches die Basis für die Verwendung von sozioökonomischen und soziokulturellen Kennzahlen in der ambulanten, vertragsärztlichen Bedarfsplanung bilden soll.

Fragestellung: Welchen Effekt haben Gesundheits- und Sozialstrukturanalysen bei der Konzeption einer bedarfsgerechteren Verteilung der ambulanten Gesundheitsversorgung? Entspricht das Ergebnis der aktuell praktizierten Bedarfsplanung der grundgesetzlichen Maxime der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, wenn neben dem Demografiefaktor auch gesundheits- und sozialstrukturindizierte Faktoren integriert werden?

Methode: Es handelt sich um eine Sekundärdatenanalyse öffentlich frei zugänglicher Daten der amtlichen Statistik. Dabei ist der räumliche Planungsbereich bei der ambulanten, vertragsärztlichen Bedarfsplanung der sogenannte Mittelbereich. Bundesweit werden dadurch 883 Planungsbereiche definiert. Für eine erste, explorativ orientierte Analyse wurden die Planungsbereiche je Bundesland zusammengefasst, d.h. es erfolgten Berechnungen zur Gesundheits- und Sozialstruktur auf Bundesländerebene und die Daten zur Arztsitzverteilung bzw. Ärzte SOLL und Ärzte IST Berechnung wurden auf Bundeslandebene aggregiert durchgeführt. Auch die Gesundheits- und Sozialstrukturanalysen erfolgten auf Bundeslandebene; gemäß Lebenslagenansatz und unter Verwendung von zehn Indikatoren der amtlichen Statistik mit Datenstand 2013. Diese wurden dabei aus den fünf hierfür international anerkannten Kernbereichen selektiert: Demographie und Haushaltsstruktur, Bildung, Erwerbsleben, Einkommen und Materielle Lage sowie Gesundheit. Die Indikatoren bilden die Grundlage für eine explorativen Faktorenanalyse.

Ergebnisse: Die Faktorenanalyse ergibt zwei Faktoren. Ersterer erklärt 65,98% der Gesamtvarianz, letzterer 12,83%. Der Wert des KMO-Kriteriums (0,74) verifiziert die hier verwendete Methodik. Im Screenplot zeigt sich eine Lösung auf Basis eines, die gesundheitliche und soziale Lage erklärenden Faktors (Indizes). Im Falle hoher Indexwerte ist u.a. die vorzeitige Sterblichkeit hoch und das Armutsrisiko ebenfalls erhöht. Die mittlere Lebenserwartung ist unterdurchschnittlich, ebenso die Reichtumsquote. Im Ergebnis zeigt sich ein Index der gesundheitlichen und sozioökonomischen Belastung (GSB).

Wird nun GSB als eine Berechnungsgrundlage für die die modifizierte Verhältniszahl (mAVZ) verwendet, gibt es mehrere Möglichkeiten wie dessen Gewichtung im Hinblick auf den Demografiefaktor erfolgen kann. Bei einer Modellierung mit einer hälftigen Gewichtung der beiden Einflussgrößen sowie einer Begrenzung der Spreizung des GSB auf 10% zeigen sich signifikante Änderungen der mAVZ für die einzelnen Bundesländer bis zu 6% und mehr. Übersetzt in bedarfsgerechtere Ärzte IST vs. Ärzte SOLL Zahlen bedeutet dies, dass z.B. Sachsen-Anhalt 125 Hausarztsitze mehr und Baden-Württemberg demgegenüber 250 Hausarztsitze weniger haben sollte.

Diskussion: Die vorliegende Analyse zeigt, dass eine sozioökonomische und gesundheitliche Chancengleichheit auf Bundeslandebene nicht gegeben ist. Neben einer starken Ost-West-Diskrepanz weisen die Daten auch eine klare Nord-Süd-Komponente aus. Die aktuell praktizierte Bedarfsplanungsmethodik kann diesen Umständen, allein durch die Verwendung des Demografiefaktors nicht Rechnung tragen, da gesundheitliche und sozioökonomische Zusammenhänge komplexer, multidirektionaler und multikausaler sind, als dies der Demografiefaktor alleine erfassen könnte. Bei Berücksichtigung des GSB bei der Berechnung der mAVZ allerdings kann diesem Umstand Rechnung getragen und zudem, zumindest was den Bereich der ambulanten, vertragsärztlichen Gesundheitsversorgung angeht, eine stärkere Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse hergestellt werden.

Praktische Implikationen: Die Methodik bietet einen Modellbaukasten für viele verteilungspolitische Fragestellungen im Gesundheitswesen im Allgemeinen - wie etwa Investitionsfinanzierung im Rahmen der Krankenhausreform 2015 - sowie der Versorgungsforschung im Besonderen. Im Hinblick auf die die vertragsärztliche Bedarfsplanung sowie die anstehende Neufassung der Bedarfsplanungs-Richtlinie des G-BA liefert die hier vorgestellte explorative Analyse ebenfalls erste Anhaltspunkte für eine methodische Ausgestaltung.